Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Annecy, 28. Oktober 1874.

Nach endlosen Unterhandlungen mit einem alten Herrn und einer alten Dame ward mir endlich mein Platz in der linken Ecke des Gefährts zuteil. Und der Eilwagen, der wie in vergangenen Zeiten von einem Pferde gezogen wurde, raste im Galopp vorwärts.

Vor einem recht alten Haus, das eine Schmiedefamilie bewohnte, sagte ich einer alten rechtschaffen aussehenden Savoyardin Lebewohl. Auf der Schwelle ihres Hauses sitzend, verfolgte sie mein Kommen und Gehen mit verschwiegen geheimnisvoller Miene, wie jemand, der zur Hälfte errät, um was es sich handelt, und der die Nachbarn glauben machen will, er wäre ins Vertrauen gezogen. An der anderen Straßenseite stand weit weniger schüchtern, ihr Sohn, mein armer Freund Ermillet, mit seinem sanften, guten Gesicht. (Dies war ein einstiger Matrose des »Petrel«. P. L. hatte geheim jene Frau aufgesucht, die vor ihm den Senegal verlassen hatte, und es war seine letzte Zusammenkunft mit ihr).

Er wußte wohl, daß meine Reise eine trübe sei, und daß sich für mich Wichtiges entscheiden solle ...

Es waren die letzten Oktobertage, für Savoyen eine vorgerückte Zeit; doch dieser Tag war strahlend warm, die Berge standen rotbraun oder von dunklen Tannen gekrönt gegen den dunkelblauen durchsichtigen Himmel. Die schon vergilbten Bäume hatten den Weg mit toten Blättern besäet. Und der ganze Zauber letzter schöner Tage lag über dieser Landschaft.

Kamen Steigungen, so wurden die Reisenden ersucht, den Wagen zu verlassen. Solches vollzog sich wie im Familienkreis, es spielten sich kleine Szenen ab, die mich an die Erzählungen von Rodolphe Töpffer erinnerten und mich sicher heiter gestimmt hätten, hätte nicht bange Sorge mir das Herz zugeschnürt.

Langsam ward mir die Gegend um mich vertraut. Ich kannte sie aus Ermillets einfachen, kunstlosen Schilderungen. Er hatte dies Land einmal in seiner Kindheit als Flüchtling ganz durchmessen.

Die Nacht kam, und immer noch rollte der alte Eilwagen, rollte über Bergpfade, durch tiefe dunkle Täler, durchquerte da und dort verschwiegene Dörfer, Schmugglerwohnstätten offenbar, die zu solcher Stunde einen phantastischen Anblick gewährten ...

Nun war die Kälte scharf und die Nacht nebeldurchzogen. Wir sahen unter uns, in der Ebene, die Lichter einer großen Stadt. Und bald erklang der Hufschlag unserer Pferde auf dem Pflaster einer belebten Straße, in der geschäftige Menschen durch den Nebel eilten.

Das war die Stadt, in die ich gekommen war, um, einsam und ein Fremder, hier einen hoffnungslosen Schritt zu tun. Und mir war unbeschreiblich traurig zumute.

Ich irrte durch die unbekannten Straßen, fragte Vorübergehende nach der Adresse des Hotels, in dem Briefe mich erwarten sollten.

Das Hotel war von Russen und Engländern überfüllt, von Reisenden, deren Fröhlichkeit mir wie ein Mißklang ins Ohr tönte ... Das Abendessen wurde serviert, doch ich berührte die Speisen kaum.

Neun Uhr war es ungefähr, als ich aufbrach, nachdem ich mir den Weg hatte genau beschreiben lassen.

Es war finstere Nacht, dichter Nebel ringsum, und ich, der ich aus Afrikas leuchtenden Gefilden kam, fühlte mich namenlos bedrückt.

Lange schritt ich durch steile finstere einsame Gassen. Endlich kam ich vor das Haus, das ich suchte: es war ein alter palastähnlicher Bau mit einem Wappen über der Pforte.

Wie ein Kind habe ich vor dieser Pforte gezittert; nirgends Licht, kein Geräusch in diesem Haus, auf das ich meines Lebens Seligkeit gesetzt hatte ... Ich hob die Hand, um zu klopfen ... wie Schwindel kam es über mich, und ich atmete nicht mehr ...

(An dieser Stelle wurden einige Seiten nicht digitalisiert)

Gemächlich traten wir den Rückweg an, doch kaum hatten wir wieder die breite Straße vor uns, als der Eilwagen in einen beschleunigten Trab überging.

Es war ungefähr Mittag, und Savoyens Berge standen in schier unwirklicher Pracht unter dem herbstlich schönen Himmel. Wie gestern, so auch heute ein klarer warmer Tag, – Altweibersommer – einer jener Tage, deren Zauber unbeschreiblich ist, weil er das Scheiden des Sommers einleitet ... Ich empfand die tiefe Stille in mir, wie sie starken Erlebnissen zu folgen pflegt, vielleicht weil das Herz müde ist und ausruhen will.

Annecy ward sichtbar, in Sonne getaucht. Ich eilte, dahin zurückzukehren und den Freund wiederzufinden, den ich dort zurückgelassen hatte.

Mein armer Freund arbeitete im Taglohn, in einem Eisenwerk, wo er unter Mühen den Lebensunterhalt für sich, seine alte Mutter und seine Schwester erwarb.

»Alles ist vorbei, und hier bin ich,« sagte ich zu ihm. »Laß deine Arbeit, komm mit mir, ich fürchte mich, allein zu sein!«

Noch fünf Tage blieb ich in Annecy, die mein Freund und ich mit Bergwanderungen ausfüllten, und diese kurze Zeit blieb mir in lieber Erinnerung.

An jedem Abend ruderten wir über den stillen See, dessen ruhige, wehmütige Schönheit wunderbar mit meinem Denken in Einklang stand ...

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