Brief von Pierre Lotis Mutter an den Sohn.
Rochefort, Montag, am 1. Mai 1876.
Warum, liebes Kind (wenn ich's auch gern sehe, daß Du
rechnest), warum nahmst Du Dir die Mühe, mir die Liste Deiner
Ausgaben einzusenden? Ich beanstande keine, versichere ich
Dir. Ich glaube sogar, daß es wenig junge Leute gibt, die
draußen in der Welt so wenig brauchen, wie Du, und ich beklage
nur immer wieder, daß so schwere Lasten auf Dich gelegt worden
sind.
Dabei kann ich mich doch der Sorge nicht erwehren, wenn ich
sehe, daß Du mir manches verbirgst, aber andererseits tut es
mir wohl, zu wissen, daß Du Dich Deiner Schwester mitteilst.
Es scheint mir ein so gutes Zeichen, daß Du ihr wieder Dein
Vertrauen schenkst, daß es mir fern liegt, glaub' es mir, mich
über diese Separatbriefe zu beklagen. Nur kann ich Dir nicht
oft genug ans Herz legen, Deine Briefe sorgfältigst
verschlossen zu senden, besonders wenn Du Deiner Schwester von
neuen Sorgen, die Dich drücken, sprichst, oder wenn Du ihr
sonst ein Geheimnis anzuvertrauen hast. Wohl weiß ich, daß Du
Lehrgeld zahlen mußtest, dafür, daß Du zu vertrauensselig
warst. Hat dies Dein Lehrgeld Dich vorsichtiger gemacht? Hüte
Dich wohl so zu sein, wie Du es diesbezüglich hier gewesen
bist.
Es ist mir unmöglich, mein armer Liebling, mich der Erfolge
zu freuen, die Du im Zirkus errungen hast ... Das sind nicht
jene, muß ich Dir sagen, die meine Träume für Dich hofften ...
Der April war hier scheußlich, und der Mai kündigt sich
nicht gerade herrlich an. Es regnet noch, und heute ist es
bitter kalt. Nichts sprießt rasch, alles ist im Rückstand. Und
was wir nie vorher gesehen haben: Hungrige Spatzen haben all
unsere Glyzinienknospen abgeweidet, selbst jene, wo noch keine
Blätter waren. Hoffentlich wachsen noch welche nach. Die
abscheulichen kleinen Fresser haben sogar einen Teil unserer
Rosenknospen vertilgt, und alle wären ihnen anheimgefallen,
hätten wir nicht eine weiße Fahne gehißt, die jetzt über den
Rosen flattert – eine Fahne, die nichts Aufrührerisches an
sich hat.
Claire und ich bitten Dich, uns endlich mitzuteilen, was
mit den Giraffenfellen geschehen soll, die Du aus dem Senegal
brachtest. Sie sind fast ganz verfault und sind durchaus kein
Schmuck für unseren Hof.
Leb wohl, geliebter Junge, all Deine armen Alten umarmen
Dich von Herzen.
NadineNadine ist die Abkürzung für Renaudine, welcher
Vorname sich in Pierre Lotis Familie häufig findet in
Erinnerung an die Urväter, Renaudin genannt, die nach Holland
emigrieren mußten, als das Edikt von Nantes widerrufen wurde.
Auch der Kommandant des »Vengeur« hieß Renaudin und entstammte
der gleichen Familie.