Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief von V... L...

Paris, 30. Januar 1878.

Lieber Loti!

Eben habe ich die Lektüre Ihres RomansDas Manuskript von Aziyade. beendet, und das Lesen dieser Seiten hat mich seltsam bewegt, denn ich habe Sie vollständig darin wiedergefunden. Ich beklage Sie aus ganzer Seele, und, da ich Sie nun besser kenne, liebe ich Sie tiefer, falls das noch möglich war.

Ich weiß, daß Ihnen nur wenig an Freundschaft liegt, die Ihnen entgegengebracht wird, und ich wundere mich nicht darob, denn ich beobachte Sie schon lange. Sie stellen sich hoch über alles, Ihre Seele, durch Leiden gereift, findet seltsamen Genuß in ihrer Einsamkeit.

Die Ihnen, gleich mir, Liebe ohne Grenzen geweiht, haben, leben weiter in der engen bürgerlichen Sphäre, in die ihre Geburt sie verweist. Ihre Freuden sind weniger hehr und ihre Schmerzen werden täglich verwischt durch die Sorge sozialer Pflichten, deren Banalität sie nicht aufkommen läßt.

Sie sind weniger empfindsam geboren worden, und da ihr Geist sich eher in Formen bannen läßt, suchte er auch nie, sich von den tausend Fesseln zu befreien, die ihr Denken einengen und ihrer Seele nimmer das Erleben geben, das Sie in so erschütternder Weise ausdrücken konnten. Was haben Sie leiden müssen, mein lieber Freund, um zu den Widersprüchen zu gelangen, die Sie ganz unwillkürlich offenbaren! Was haben Sie leiden müssen, um in sich selbst das Gegenteil all dessen zu finden, was Sie den andern im Licht des Alltags bedeuten! Ihre Seele, die Sie alt und starken Erregungen nicht mehr gewachsen wähnten, ist jung und glühend und höchster Begeisterung fähig geblieben. Sie verzweifeln am Leben und fanden doch ein köstliches Lebenselixier: Gemütsbewegung empfinden und sie anderen mitteilen können. Wir, die wir ein sinnloses Dasein schleppen, dessen jede Stunde eine Pflicht bringt, die die Gesellschaft uns auferlegt, wir, die wir ohne Zaudern in jeder Stunde unseres Lebens diese stets neue Pflicht erfüllen und nicht einen Moment für das übrig haben, was besser ist und reiner, tief in uns, für unser Herz und unsere Phantasie, wir werden einst dieses mönchische Dasein enden, ohne auch nur einen Augenblick gelebt zu haben. Herz, Phantasie und Empfindsamkeit aber werden eingerostet und abgenützt sein, ohne jemals Dienste geleistet zu haben.

Glauben Sie mir, lieber Loti, es war ein schöner Traum unten in der Türkei; so wie Sie vordem, glaub' ich, auch schöne Träume hatten. Nun lassen Sie es aber nicht genug sein! Suchen Sie neue Erschütterungen, und kommt in Ihnen einst die Sucht nach Unbekanntem zur Ruhe, dann werden Sie das Joch der Zivilisation auf ihre Schultern nehmen und ein friedliches Austerndasein führen, wie es die Leute Ihres Landes tun.

Verzeihen Sie mir, Loti, diesen Brief, der Ihnen wohl sehr unklug scheinen muß, so daß ich besser daran täte, ihn gar nicht abzusenden. Doch hab' ich Ihnen gegenüber keinen Dünkel, und es kränkt mich nicht, wenn Sie beim Lesen lächeln müssen. Ich habe Ihre Autorität immer ohne jede Einschränkung anerkannt, und war stets unendlich dankbar für alle Liebe, die Sie mir nun schon seit zehn Jahren immer wieder zuwenden.

In Ihrem Roman beneide ich Achmet um den Platz, den Sie ihm neben sich gönnen. Erinnern Sie sich jenes ersten Abends, an dem ich an Bord des »Borda« mit Ihnen sprach? Ich hatte das Wort an Sie gerichtet, Sie aber hatten, im Banne anderer Dinge, nicht wesentlich auf mich geachtet. Ich sagte Herrn de Jonquières, wie peinlich mir dies sei, und da ging er, mich Ihnen vorzustellen. Ich weiß nicht, was es war, was mich an jenem Tag in Ihren Bann gezwungen hat, doch ich war bezaubert von Ihrem ganzen Wesen, und seit jener Zeit bin ich Ihnen bedingungslos ergeben.

Oft sind Sie ähnlicher Zuneigung begegnet, denn ein Zauber lebt in Ihnen, der anziehend wirken muß. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, daß Sie die Liebe, die ich Ihnen bot, nie zurückgewiesen haben, und bei jedem Ihrer Briefe, die mich erreichen, fühle ich mich Ihnen mehr und mehr verpflichtet.

Ich glaubte, Delguet Ihr Manuskript leihen zu dürfen. Er denkt wie ich, daß Ihrem Werk, wenn es günstig lanciert wird, ein großer Erfolg beschieden sein muß.

Ihr Freund

V. L.

Dies träumte ich heute nacht, während eiskalter Wind draußen wütete: Ich stand im Hofe meines Hauses in Rochefort. Doch dieser Hof schien öd und ausgestorben, und Gras überwucherte ihn wie einen Friedhof. Unklares Bewußtsein durchdrang mich, als sollte dies alles sich in noch ferner, ferner Zeit begeben ...

Dämmerstunde war. Gelbe herbstliche Weinranken, und Gras, Gras zwischen den Steinen. Zwei Gestalten saßen auf der Bank: Großmutter, Großtante Lalie, – beide tot, beide Schatten, und ich wußte, spürte das. Sie sagten: »Nun wollen wir in unsere Zimmer hinaufgehen, um auf Tante Claire zu warten, die von der Insel Oléron zurückkommt.«

Ich wollte bereits zur Ruhe, denn die Dämmerung bedrückte mich, und, wie die Matrosen an Bord es tun, hatte ich meine Hängematte an dem Pfosten meines alten verfallenen Hauses, knapp unter der Bodenstiege, befestigt. Und ich sprach zu ihnen: »Ich fürchte mich, hier zu sein, denn dies ist ein Durchgang, und ich kann im Vorbeigehen gestreift werden.« Sie antworteten: »Im Vorbeigehen? Und wer geht vorbei, Kleiner, da wir doch allein im Hause sind? Du weißt wohl, daß vom Boden niemand kommen kann!« Ich aber wußte, daß Gespenster von überall her erscheinen können, und Furcht war in mir vor diesem Durchgang.

Dennoch legte ich mich in meine Hängematte, und sah die beiden sich durch den Hof entfernen, in lichtloser Dämmerung über tote Blätter und über das dichte Gras zwischen den Steinen. Und gleich darauf hörte ich über mir, vom Boden her, Tante Claires Stimme, die zu ihrer Katze Moumoute sprach. Da wußte ich, daß sie tot sei, tot wie die beiden andern. Bald darauf kam sie herunter, streifte mich, lächelte sanft, und, wohl um mich zu vergewissern, erklärte sie mir: »O ich bin zuerst ›durch die Türe‹ gegangen, als ich von der Insel Oléron kam, doch da ich meine Katze sehen mußte, bin ich direkt hier hinauf; jetzt gehe ich den beiden alten Damen nach!« Ich antwortete nicht, ich wußte wohl, sie war tot und hatte es infolgedessen nicht nötig, durch Türen zu gehen, um hinzugelangen, wohin sie wollte. Und so blickte ich ihr nach, wie sie, bei immer mehr sinkender Dämmerung, sich in der Richtung der beiden andern verlor, über Friedhofsgräser und welke Blätter, von denen unser Hof bedeckt war. –

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