Das Bewusstsein des Menschen
Das menschliche Wesen ist sowohl sich
selbst als auch seiner Umwelt bewusst und möchte ständig sein
Wissen über sich und seine Umwelt erweitern. Welchem
Bewusstsein von beiden die größere Bedeutung beizumessen ist,
ist schwer zu sagen und hängt wahrscheinlich von der
Weltanschauung der jeweiligen Person ab; so wie auch die
Bedeutung von "Wissen" und "Glauben" in unterschiedlichen
Kulturen unterschiedlich eingeschätzt wird. Während Wissen
mehr das Weltbewusstsein fördert, führt Glaube zur
Selbsterkenntnis. Die Kenntnisse, die der Mensch über die
Lehren der Wissenschaften, also "Wissen", erwirbt, sind rein
sachlicher Art und nicht derart, dass sie die Emotionen des
Menschen ansprechen können.
Die Aufforderung an den Menschen:
„Erkenne dich selbst, dann erkennst du Gott“, und
„Vergiss deinen Gott nicht, sonst vergisst du dich selbst“,
ist entschiedener Leitgedanke religiöser Lehren. Im Heiligen
Qur´an heißt es dazu: „Und seid nicht gleich denen, welche
Allah vergessen und die er sich selbst vergessen ließ. Das
sind die Frevler.“ (Heiliger Qur´an 59:19)
Die Aussage: „Wer sich selbst erkennt,
erkennt seinen Herrn“, stammt von Prophet Mohammad (s.),
und „Selbsterkenntnis ist die brauchbarste aller
Erkenntnisse“ von Imam Ali (a.). Folgende Bemerkung ist
auch von ihm: „Es wundert mich, dass der Mensch
normalerweise nach etwas, was ihm verloren gegangen ist,
sucht, er sich aber, wenn sein 'Ich' verloren gegangen ist,
nicht auf die Suche nach ihm begibt.“
Es wird oft behauptet, dass sich
westliche Kulturen bei all ihren Bemühungen um (irdische)
Wissenschaften den Zugang zum eigenen 'Ich' mehr und mehr
versperrt haben, und dass darin das Geheimnis des Untergangs
des Menschen im Westen liege. Nach dem Heiligen Quran nützt
dem Menschen alle Herrschaft über die Welt nichts, wenn er
sich seinem 'Ich' entfremdet hat.
Mahatma Gandhi formulierte diese Art von
Entfremdung in seinem Buch "Meine Religion" folgendermaßen:
„Der Mensch des Westens ist imstande, Taten zu
vollbringen, die andere Völker für die Werke göttlicher Mächte
halten, aber er ist nicht fähig, über sein eigenes 'Ich'
nachzudenken. Allein diese Tatsache genügt, den wahren Wert
der modernen Zivilisation mit all ihrem Prunk und ihrer Pracht
aufzuzeigen. Wenn in westlichen Zivilisationen Alkohol
und Sex sehr gefragt sind, dann nur, weil sie
dem Menschen helfen, sich und seine Welt zu vergessen und
seine Langeweile zu überbrücken. Oft dienen seine so genannten
Wohltaten demselben Zweck; die (praktische) Überlegenheit des
Westens in Wissenschaft und Forschung und insbesondere
bei der Herstellung von Waffen hat ihren Ursprung in der
Flucht des Menschen vor sich selbst und ist nicht Ausdruck
seiner Herrschaft über sein eigenes 'Ich'. ... Wenn der Mensch
seine Seele verliert, was nützt ihm dann, die Welt zu
erobern?“.
Gandhi fährt fort: „Es gibt in der
ganzen Welt nur eine Wahrheit: Selbsterkenntnis. Wer sich
selbst kennt, kennt auch Gott und seine Welt. Wer sich selbst
nicht kennt, kennt gar nichts und niemanden. In der Welt gibt
es nur eine Kraft, eine Freiheit und eine Gerechtigkeit und
zwar die Herrschaft über das eigene 'Ich'. Wer sich selbst
beherrscht, beherrscht die Welt. Es gibt nur eine gute Tat,
und das ist Nächstenliebe. Alles andere ist Trug und
Illusion.“
Ob nun Selbsterkenntnis oder das Wissen
um seine Umwelt in der Bedeutung für den Menschen gleichwertig
sind oder das eine für den Menschen größere Bedeutung hat als
das andere, letztendlich dient jede Art von Erkenntnis bzw.
Wissen der weiteren Entwicklung menschlichen Lebens.
Dschalaluddin Rumi
drückt es folgendermaßen aus:
„Ohne Bewusstsein und Wissen ist
nichts der Geist.
Sein Geist ist erhaben, je mehr der
Mensch weiß.
Unser Geist ist erhabener als der vom
Tier.
Denn mehr Bewusstsein und Wissen haben
wir.
Noch höher ist der Geist, den ein
Engel hat,
Denn er ist frei von aller Sinnentat.
Eines frommen Seele ist weiter noch;
Verachte dies nicht und wundre dich
nicht, denn das gibt es doch!
Deshalb den Adam preisen die Engel,
Denn seine Seele ist erhabener, ohne
Mängel.
Soll denn das höhere Wesen das niedere
preisen?
Nein, diesen Befehl kann man nicht
richtig heißen!
Entgegen Gottes Gerechtigkeit und
Gnade ist,
Denn die Blume den wertlosen Dorn
preist,
S'wär schade!
Wenn die Seele weiter ist als
Unendlichkeit,
Dienen alle Seelen ihr bis in
Ewigkeit.
Fee, Vogel, Fisch und Mensch nicht
weniger
Beten ihn an, denn seine Seele ist
höher.“
Und in einem andern Gedicht von ihm heißt
es:
„Was ist die Seele? Gut und Böse fühlt
sie bewusst,
Ist traurig durch Schaden und
glücklich durch Gunst.
Und weil sie von sich aus mehr Wissen
sucht,
Erhabener ist sie, die Seele die ruft.
Das Bedürfnis der Seele ist,
Bewusstsein zu erlangen;
Wer bewusster ist, dessen Seele ist
stark, ohne Befangen.
Der Ausdruck der Seele ist bewusst
sich zu sein,
Da sich die Welt der Seele bewusst ist
im Ganzen,
Wer kein Wissen hat, hat nichts in
seine Seele einzupflanzen.“
Wir wollen im Folgenden auf die
verschiedenen Aspekte menschlichen Bewusstseins näher zu
sprechen kommen.
Der Mensch besitzt von Natur aus ein
Bewusstsein. Es ist nicht so, dass zuerst das 'Ich' des
Menschen geschaffen und er erst später seines 'Ichs' bewusst
wird. Mit der Entstehung des Menschen ist die Entstehung
seines Bewusstseins (über sein 'Ich') verbunden. In dieser
Phase sind „Sich seines 'Ichs' bewusst sein“ und
erlerntes Bewusstsein miteinander identisch. Im Laufe seines
Lebens verschafft sich nun der Mensch ein Bild von seiner
Umwelt und projiziert auf dieselbe Weise ein Bild von sich in
sein Bewusstsein.
Während sich nun Psychologen gewöhnlich
mit der erlernten Form des Bewusstseins beschäftigen, schenken
Philosophen dem von Natur aus dem Menschen gegebenen
Bewusstsein größere Bedeutung. Zweifel darüber, ob ich
existiere und wenn ja, “wer ich bin“ usw. treten im
Menschen erst dann auf, wenn sich das vom Menschen erworbene
Bewusstsein von dem ihm angeborenen unterscheidet.
Descartes Fehler bestand genau darin,
dass er übersah, dass es am "ergo sum" (also bin ich) nichts
zu zweifeln gibt, um dann den Zweifel über "cogito" (ich
denke) beheben zu wollen.
Das wahre Bewusstsein des Menschen über sein 'Ich' ist, dass
es ihm von Natur gegeben ist und er es nicht erlernen oder
andersartig erwerben kann.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung der
verschiedenen Phasen der Fötusentwicklung im Mutterleib meint
der Heilige Qur´an zur letzten Entwicklungsphase: „...
alsdann brachten wir ihn hervor als eine andere Schöpfung,...“.
Der Vers weist darauf hin, dass in dieser letzten Phase
Materie in eine Existenzform mit Bewusstsein d.h. in den
Menschen übergeht.
Die Philosophie ist stets darum bemüht,
die Wahrheit über das Bewusstsein des Menschen herauszufinden,
ob es etwas Abstraktes oder Konkretes ist, ob es den Körper
überlebt oder nicht, usw.. Auf dieser Stufe der
Selbsterkenntnis stehen Fragen nach der Natur des 'Ich's zur
Diskussion. Wenn sich also ein Philosoph auf das Bewusstsein
beruft, dann bedeutet es, dass er sich über das Wesen und die
Natur des Bewusstseins im Klaren ist.
Diese Form des Bewusstseins vermittelt
dem Menschen ein Bewusstsein über seine Beziehung zum
Universum. Fragen wie: „Woher komme ich?“, „Wer bin
ich?“ und „Wohin werde ich gehen?“ werden
beantwortet. Der Mensch erfährt, dass er nur einen Bruchteil
eines Ganzen darstellt und dass er ein von der Umwelt
abhängiges Wesen ist. Imam Ali (a.) sagte zu dieser Form des
Bewusstseins: „Gott segne denjenigen, der weiß, woher er
gekommen ist, wo er sich befindet und wohin er geht.“
Diese Form des Bewusstseins ruft im Menschen Trauer, Unruhe
und Zweifel hervor, und schickt ihn auf die Suche nach
Wahrheit. Berühmte Persönlichkeiten wie z.B. al-Ghazzali
ließen das Verlangen nach Wahrheit auf einen Lehrstuhl
verzichten und sie jahrelang in fremden Ländern herumziehen,
um Antworten auf ihre Fragen und damit inneren Frieden zu
finden.
Gemeint ist eine Form des sozialen
Bewusstseins, das im Zusammenhang mit der Gesellschaftsschicht
steht, der man angehört. In einer Klassengesellschaft gehört
der Mensch zwangsläufig in Bezug auf Lebensbedingung,
Wohlstand usw. einer bestimmten Schicht an. Die Wahrnehmung
des 'Ich's innerhalb einer Gesellschaftsschicht und die
Wahrnehmung einer Verantwortung gegenüber seiner
Gesellschaftsschicht wird Klassenbewusstsein genannt.
Aufgrund einiger Theorien besitzt der
Mensch außerhalb der Gesellschaftsschicht, der er angehört,
kein 'Ich'. Sein 'Ich', bestehend aus der Summe von Gefühlen,
Gedanken und Begierden, werde von seiner Klasse geprägt. Er
sei kein objektives Wesen, es gäbe nur eine Oberschicht und
die Masse. Nur in einer klassenlosen Gesellschaft könne sich
der Mensch verwirklichen, daher sei in der Klassengesellschaft
das soziale Bewusstsein identisch mit dem Klassenbewusstsein.
Diesen Theorien liegt die These zugrunde, dass materielle
Faktoren die Persönlichkeit eines Menschen bestimmen und
Wirtschaft die Basis aller Gesellschaftsstrukturen darstellt.
Was die Mitglieder einer Gesellschaft nun gemeinsam denken,
fühlen und urteilen lässt, seien gemeinsame materielle
Interessen. Marxisten sind Verfechter dieser oben genannten
Form des Klassenbewusstseins.
Diese Art von Bewusstsein hat seinen
Ursprung in den Gemeinsamkeiten, die die Menschen einer
Gesellschaft bzw. Gemeinschaft miteinander verbinden, wie
gemeinsame Geschichte, Kultur, Sprache, Sitten und Bräuche.
Die Bewegung des Nationalismus, der bis im 19. Jahrhundert
weit verbreitet war, beruht auf eben dieser Idee, dass es
keine einheitliche Kultur auf der Welt gibt. Im Vergleich zum
Klassenbewusstsein, bei der alle Werte, Gefühle und Meinungen
durch die Klassengemeinschaft genormt werden, ist das
Nationalbewusstsein dementsprechend nationalistisch
ausgerichtet.
Das Nationalbewusstsein steht in direktem
Zusammenhang mit Eigenliebe und all ihren Erscheinungsformen
wie Fanatismus, Günstlingswirtschaft, Schwächen, Eitelkeit und
Ignorierung eigener Selbstzufriedenheit. Deshalb beinhaltet
das Nationalbewusstsein ebenso wie das Klassenbewusstsein
keine moralischen Werte.
Gemeint ist das Bewusstsein des Menschen
über seine Beziehung zur gesamten Menschheit. Diese Form des
Bewusstseins beruht auf der Idee, dass alle Menschen eine
Einheit bilden und sie ein allen gemeinsames Gewissen
verbindet. Saadi, der große persische Dichter,
schrieb dazu:
Teil eines Körpers ist Adams Sohn,
Aus gleicher Substanz er geschaffen,
aus Ton.
Sollte ein Teil dieses Ganzen leidend
sein,
Empfinden auch andere dieselbe Pein.
Wenn du nicht fühlst des anderen
Schmerzen,
Nenn dich nicht 'Mensch' in deinem
Herzen!
Personen wie Auguste Compte, die auf der
Suche nach einer humanen Religion waren, gehen von eben diesem
oben erwähnten Gedanken aus. Der so genannte (westliche)
Humanismus, eine weit verbreitete Philosophie unserer Zeit,
betrachtet die Menschheit als gesellschaftliche Einheit, frei
von Klassen-, Rassen-, nationalen und ideologischen
Unterschieden. Schriften, die unter dem Motto 'Menschenrechte'
in aller Welt veröffentlicht werden, berufen sich auf eben
diese Philosophieanschauung und appellieren an diese Form des
menschlichen Bewusstseins. Wenn im Menschen solch ein
Bewusstsein erweckt ist, nimmt der Mensch am Leid und an den
Freuden seiner Mitmenschen teil, wird sich zum Wohl der
Menschheit für Wissenschaft, Kultur, Freiheit, Gerechtigkeit
einsetzen und zu ihrem Wohl Unwissenheit, Armut, Tyrannei,
Krankheit und Diskriminierung bekämpfen.
Diese Form des Bewusstseins spricht im
Gegensatz zum Klassen- und Nationalbewusstsein edle,
menschenwürdige Werte im Menschen an, hat aber trotz seiner
Logik bisher mehr von sich reden gemacht, als dass es seine
Ideale verwirklicht hätte. Die Gründe liegen im Wesen des
Menschen selbst. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist die
Entwicklung des Menschen nicht vorgezeichnet, sondern es hängt
von ihm ab (Erziehung + Wille + eigene Wahl), wie er in ihm
potentiell vorhandene Fähigkeiten zu entfalten vermag in dem
Sinne, dass er letztendlich zu den wahren inneren Werten
seines Wesens (zurück) findet.
Anders als beim menschlichen Wesen kann
man sich bei anderen Kreaturen keine Trennung zwischen ihnen
und ihrer Natur vorstellen, z.B. zwischen Stein und Stein
sein, Baum und Baum sein, Hund und Hund sein oder Katze und
Katze sein. Aber wie viele Menschen gibt es, die fern vom
'Menschsein' wie Tiere dahinleben oder als Vertreter hoher
Zivilisationen so gar nichts Menschliches mehr an sich haben.
Existentialisten entnehmen ihre Idee vom Menschen als
'naturlose Spezies' eben dieser Tatsache, dass der Mensch
durch eigene Wahl die Natur seiner Existenz bestimmt.
Islamische Philosophen wie Sadr al
Muta'allihin
haben dieser Eigenart des Menschen große Bedeutung gewidmet:
"Der Mensch ist keine Spezies, sondern Spezii. Er ist schon
morgen anderer Natur als er heute ist." Dadurch wird
deutlich, dass der Mensch als biologisches Wesen nur die
Fähigkeit zum 'Menschsein' in sich trägt, aber nicht eine
Verkörperung der Menschlichkeit schlechthin darstellt, und
dass der Mensch im Besitz einer reinen Seele sein muss, um
sich überhaupt eine Meinung über Menschlichkeit erlauben zu
können.
Wir erwähnten bereits, dass humanes
Bewusstsein darauf beruht, dass die Gesamtheit der Menschen
eine Einheit bildet, und allen ein und dasselbe Gewissen
gemein ist, das Klassen-, Rassen-, Ideologie- und nationale
Unterschiede nicht kennt. Verständlich ist nun auch, dass nur
Menschen von dieser Idee inspiriert werden, die ihre
angeborenen Veranlagungen zur Menschlichkeit entfaltet haben;
und jene sind die Rechtgläubigen, weil Glaube die Spitze aller
wahren menschlichen Werte darstellt. Was ein vereintes 'Wir'
aus allen Menschen macht, und was eine vereinte Seele in sie
einhaucht, ist die Einigkeit im Glauben:
„Die Gläubigen sind wie Teile eines
Körpers. Wann immer ein Teil von Leid geplagt wird, haben
andere Mitgefühl und werden von Pein und Schlaflosigkeit
verfolgt.“ Prophet Mohammad (s.)
Der persische Dichter Saadi
verallgemeinerte die Aussage und ersetzte irrtümlicherweise
“die Gläubigen“ durch “die Menschen“. Zweifellos empfinden
humane Menschen allen Lebewesen gegenüber Mitgefühle. Sie
bringen allen Menschen, selbst menschenunfreundlichsten
Personen, Verständnis und Liebe entgegen. Deshalb spricht auch
Gott von Prophet Mohammad (s.) als “Barmherzigkeit für die
Menschheit“; denn diese Art von Menschen sind sogar ihren
Feinden gegenüber freundlich und gütig. Imam Ali (a.) drückte
seine Gefühle zu Ibn Muldscham (der Imam Ali (a.) später
ermordete) so aus: „Ich sehe ihn gerne am Leben, aber er
sucht mich zu töten.“ Aber hier ist von Liebe und
Verständnis die Rede, die auf Gegenseitigkeit beruht, was es
nur in einer Gemeinschaft von Gläubigen geben kann.
Außer Frage steht auch, dass Humanität
ein in gleichem Maße menschenfreundliches Verhalten allen
Menschen gegenüber voraussetzt.
Man kann nicht human sein und sich seiner
Verantwortung seinen Mitmenschen gegenüber (z.B. in ihrem
Kampf gegen Unterdrückung) entziehen. Wahre Nächstenliebe
erfordert stärkstes Verantwortungsgefühl allen Mitmenschen
gegen über in solchen Situationen.
Der englische Philosoph und Mathematiker
Bertrand Russel
und der französische Philosoph Jean Paul Sartre
sind zwei wohlbekannte Verfechter des Humanismus unseres
Zeitalters. Russells Humanismus bringt aufgrund einer
materialistischen Moralphilosophie profitgierige Menschen
hervor und nach Ansicht eines persischen zeitgenössischen
Schriftstellers zeigt der Humanismus Sartres die Ängste der
westlichen Welt auf, die sich am Rande eines Zusammenbruchs
befindet. Der Schriftsteller breitet seine Gedanken unter, dem
Titel "Die zwei Aspekte des Nihilismus im modernen Westen"
folgendermaßen aus: „ ... diese begeisterte Bourgeoisie,
die die Bastille erstürmte und die Flagge des Nationalismus
hisste, hat heutzutage nichts mehr, als über ihre
Gedankenlosigkeit nachzudenken. Die junge Generation des
Westens neigt in diesen Tagen zu einer nutzlosen Abhängigkeit.
Der Westen erhält die Exporte zurück, die er im Laufe der Zeit
anderen Nationen und Zivilisationen aufgebürdet hat. Er erhält
dafür gesellschaftliche Tumulte, Hoffnungslosigkeit,
Landstreicherei, das Gefühl der Verachtung, Nihilismus usw.
... Ein Nihilist denkt: Was nichts für mich ist, braucht auch
nichts für andere zu sein... Auf diese Weise bewegt er sich
auf seine eigene Vernichtung zu.“
„Die andere Reaktion ist aber in einer
Art von romantischer, menschenfreundlicher Philosophie zu
beobachten, in der so mancher westliche Intellektuelle
graduell unterschiedlich verwickelt ist. Russell mit seiner
einfachen, pragmatischen Auffassung ist ein Pfeiler dieser
Philosophie. Der andere ist Sartre mit seinen rastlosen
sophistischen philosophischen Perspektiven. Zwischen diesen
beiden befinden sich Intellektuelle von Politik und Wirtschaft
wie Tibor Mende,
der sich bestrebt, einen praktischen Weg aus seinen eigenen
Problemen und denen anderer zu finden...“
„ ... aber Sartre mit seiner
gnostischen Veranlagung seiner Unabhängigkeit von allem, was
Abhängigkeit verursacht, und seiner verwickelten Theorie, die
Verantwortung und Verpflichtung fordert, ist ein anderes
Phänomen des westlichen Geistes, der sich seiner vergangenen
Sünden schämt und die Vergangenheit wieder gutzumachen sucht.
Wie auch die Stoiker glaubt Sartre an Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit, universale Herrschaft, Rechtschaffenheit und
Pietät. Er repräsentiert die augenblicklich im Westen
existierende Tendenz der Linderung der Furcht vor dem
Untergang in Erwiderung eines 'totalen Humanismus'... Indem
der Humanismus die Religion ersetzt, verlangt Sartre
Verzeihung für sich selbst und den ganzen Westen durch die
'oberste' Gottheit der Menschheit, die den alten Gott abgelöst
hat.“
Der in sich widersprüchliche Humanismus
Sartres wird besonders in Zeiten seiner Sympathiebezeugungen
über die Unschuld Israels und in seinen Wehklagen über die
Unterdrückung der palästinensischen Flüchtlinge deutlich. Und
da alle Welt ständig Zeuge der inhumanen Politik 'westlicher
Humanisten' ist, die die hochtrabenden Deklarationen der
Menschenrechte unterschrieben haben, bedarf es in dieser
Hinsicht keinerlei weiterer Ausführung. Das soziale
Bewusstsein, sei es Klassen-, National- oder Humanbewusstsein,
wird in unserer Epoche als intellektuelles Bewusstsein
bezeichnet. Ein Intellektueller empfindet das Klassen- oder
Menschheitsleid und ist bemüht seine eigene Klasse, Nation
oder die ganze Menschheit davon zu befreien. Er ist weiterhin
bemüht, sein Bewusstsein auf sie zu übertragen und sie zur
Befreiung von sozialen Sklavereien zu führen.
Hierbei geht es um eine Form des
Bewusstseins des Menschen in seiner Beziehung zum ewig
Gerechten Gott. Die Beziehung ist aus der Sicht des Mystikers
nicht etwa der zwischen zwei Menschen (ein und derselben
Gemeinschaft) gleichzusetzen, sondern entspricht der Beziehung
zwischen zwei Komponenten in einer Relation wie falsch und
wahr oder relativ und absolut. Der Schmerz, den der Mystiker
verspürt, dringt nicht durch äußere Umstände in sein
Bewusstsein, sondern es ist ein innerer Schmerz, der einem
natürlichen Bedürfnis des Menschen entspringt.
Während der Intellektuelle vom Leid der
Gesellschaft erfasst wird, d.h. die Kenntnis über das Leid ihn
leiden macht, ist der innere Schmerz des Mystikers mit dem
Leid eines Kranken zu vergleichen, der sich dann bemerkbar
macht, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Rumi drückt es auf
seine Weise aus:
Die Krankheit der Schwermut und
bittere Tränen
Den Kranken befällt mit Wachheit und
Sehnen.
Je weniger Schlaf, je größer die Pein,
Bleich und bewusster ein Sensibler
wird sein.
Wisse, umsonst du nicht suchst das
Ziel,
Denn der Leidende schmeckt der
Wahrheit soviel.
Der Schmerz, den der Mystiker und der
Philosoph empfinden, ist auch nicht derselbe. Beide leiden sie
um der Wahrheit willen. Während aber der Philosoph die
Wahrheit erkennen und erfassen möchte, strebt der Mystiker
"ein Aufgehen in Wahrheit" an. Der Schmerz des Philosophen
rüstet den Menschen mit einer Eigenart aus, derer andere
Lebewesen beraubt sind, nämlich dem Drang nach Wissen und
Erkenntnis. Des Mystikers Schmerz aber ist ein Schmerz der
Liebe und des Verlangens (nach Gott), ein Schmerz, den nicht
nur Tiere, sondern auch Engel nicht empfinden (denn letztere
besitzen nur Wissen und Selbsterkenntnis).
Hafiz
meint dazu:
Engel kennen nicht Liebe,
ihre Ohren durch Märchen sind nicht zu verletzen,
Nimm Rosenwasser, damit Adams Erde zu
benetzen.
Engel, frei von Liebe sah er oben;
sein Antlitz brannte,
Gleich in Feuer seiner Liebe Adam
entbrannte.
Das Leid des Philosophen signalisiert das
instinktive Bedürfnis des Menschen nach Wissen, während das
des Mystikers das instinktive Verlangen nach Liebe zum
Ausdruck bringt. Der Mystiker findet erst Ruhe, wenn er die
Wahrheit in all seinen Dimensionen erfasst hat. Für ihn
bedeutet Selbsterkenntnis einzig und allein Gotteserkenntnis:
Was der Philosoph als wahres 'Ich' des Menschen betrachtet,
ist für den Mystiker nur soviel wie die Seele des Menschen,
eine Definition. Das wahre 'Ich' ist Gott.
Muhyiuddin Ibn Arabi
schreibt in seinem Buch "Fusus al hikam" (Fassetten der
Weisheit): „Gelehrte und Redner haben viel zum Thema der
Selbsterkenntnis geschrieben. Aber wer glaubt, dass das, was
Gelehrte über Selbsterkenntnis erfahren haben, die Wahrheit
ist, gleicht demjenigen, der einen aufgedunsenen Menschen für
kräftig hält.“
Auf die Frage in Bezug auf Mystik, die
Scheich Mahmoud Schabistari
gestellt wurde, erschien sein Werk "Gulschan-e-Raz" (der
Rosengarten der Mystik), das sich mit dem 'Ich' und der Natur
des 'Selbst' beschäftigt:
Wenn du mich fragst: "Was dieses 'Ich'
wohl heißt,
Zeig' mir mein 'Ich', damit ich es
weiß!
Wenn es das 'Absolute Sein' ist,
gefragt in diesem Rahmen,
Nenn' es 'Ich' bei seinem richtigen
Namen.
Die Wahrheit zeigt die Bestimmung ganz
offen,
Heiß 'Ich', darauf darfst du immer
hoffen.
Ich und du sind Strahlen des
'Göttlichen Seins',
Unser Antlitz leuchtet in seinem
Schein.
Körper und Seelen als gleiches Licht
betrachtete,
Direkte Strahlen und Widerspiegelungen
Gott daraus machte.
Er kritisierte dann die Aussagen der
Philosophen über die 'Seele', das 'Ich' und die
Selbsterkenntnis und meint:
Du sprichst vom Wort 'Ich' in all
deinen Worten,
Es ist die Seele, die ruht in allen
Orten.
Wenn irdische Weisheit deine Führung
ist, wie du es nennst,
Dein eigenes 'Selbst', ein Teil von
dir, du aber nicht kennst.
Oh Mensch, geh jetzt und lerne dich
kennen,
Hüte dich, einen Kräftigen für
aufgeblasen zu nennen.
Mein 'Ich' und deines übertreffen
Seele und Körper,
Beide Teile eines ganzen 'Ichs' sind,
dieses erörter.
Auch das 'Ich' ist nicht einmalig auf
den Menschen begrenzt,
Dass du nicht sagst,
dass sich die Seele nur auf den Menschen beschränkt.
Überschreit' das Universum, verlass
diese Welt mit dem Verlangen,
Sie in dir selbst zu finden und
göttlich zu empfangen.
Rumi sagt dazu:
O du, der du dein Selbst im Kampf hast
verloren, musst leiden.
Und kannst dich doch nicht von anderen
unterscheiden!
Bleibst einfach stehen, in welcher
Form du auch erscheinst,
Und sagst: "Das bin Ich!" Bei Gott,
das bist du nicht,
so wie du es meinst!
Sonderst du dich ein Weilchen von
Menschen ab, das ist nicht gut,
Verfällst dann in Jammer und Not und
bist ohne Mut.
Bist du dieses, der du dich für so
einmalig hältst?
Fühlst dich wunderbar, bist trunken in
dir selbst.
Bist deine Beute, Jagd und eigne
Falle,
Eigner Sitz für Würde und Schwäche,
wie Menschen alle.
Bist du Adams Sohn, so gestehe dir
ein,
Dein eigenes `Selbst' seine Merkmale
sollen sein.
Nach Meinung des Mystikers ist also die
Seele nicht das wahre 'Ich' und das Bewusstsein über die Seele
kein Bewusstsein über das 'Selbst', da die Seele lediglich
eine Verkörperung des 'Ichs' und 'Selbst' darstellt. Das wahre
'Ich' ist Gott. Wenn der Mensch von sich Abstand nimmt und
alle Schranken durchbricht, gleich einem Tropfen, der wieder
in das Meer zurückfindet und darin verschwindet, erst dann hat
der Mensch sein wahres 'Ich' gefunden, erst dann sieht der
Mensch sich selbst in allem und alles in sich selbst wieder,
und nur dann wird er sich seines wahren 'Ichs' bewusst.
Prophetisches Bewusstsein unterscheidet
sich von allen anderen Formen des Bewusstseins. Es ist sowohl
göttlicher als auch menschlicher Art, allerdings nicht im
dualistischen Sinne, denn der Heilige Quran bestätigt:
"Allah hat keinem Menschen zwei Herzen
in seinem Inneren gegeben,...... (Heiliger Quran
33:4)
Was monotheistische Gesinnungsart
betrifft, haben Propheten vorbildlich gedacht und gehandelt.
Propheten kennen keine Zweiheiten, Ursache und Ziel ihrer
Taten, Freude und Leid in ihrem Leben sind alle auf Gott
ausgerichtet. Propheten empfinden Gefühle für selbst das
winzigste Wesen, denn alles stammt von Ihm und spiegelt seine
Allmacht wieder. Saadi sagt in diesem Zusammenhang:
Bin glücklich auf dieser Bleibe der
Vergänglichkeit,
Weil Gott verlieh Glückseligkeit.
Der Welt und dem geschöpften Ganzen,
die ich liebe, weil, Er Liebe will in
eins und alles pflanzen.
Die Liebe der Propheten zur Welt und zu
den Menschen entstammt ihrer Liebe zu Gott, ihr Leiden um die
Menschheit entstammt derselben Quelle. Zweck und Sinn ihres
Wirkens ist es, den Menschen Gott zu nähern. Es beginnt alles
mit ihrem schmerzlichen Verlangen nach Gott, das sie bis zur
Schwelle Gottes nahe bringt, was als "die Reise von Mensch zu
Gott" gedeutet wird. Die Sehnsucht nach Gott wird sie solange
quälen, bis sie, wie es Imam Ali (a.) ausdrückt, zu einem
'friedvollen sicheren Ruhepunkt' angelangt sind. Das Ende
dieser Reise markiert den Beginn der so genannten zweiten
Reise "mit Gott zu Gott", durch die sie zur absoluten
Befriedigung ihrer Sehnsucht gelangen und die Sphäre des Seins
durchdringen. Auf dieser Entwicklungsstufe erfolgt ihre
Berufung zum Prophetentum, und der Prophet tritt seine dritte
Reise an, die von Gott zum Menschen, die nicht etwa im Sinne
einer Rückkehr zum ersten Ausgangspunkt zu verstehen ist, denn
diese Reise findet in Begleitung Gottes statt. Mit der
Rückkehr des Propheten zu den Menschen beginnt seine vierte
Reise und auch die vierte Stufe seiner Entwicklung, d.h. ein
Prophet begibt sich in Gegenwart des "Wahrhaftigen Gottes"
unter die Menschen, um ihnen den Weg zur absoluten
Vollkommenheit zu zeigen, um die unbegrenzten Veranlagungen
des Menschen über den Weg der Wahrheit, Gerechtigkeit und
anderer menschlicher Werte zur Entfaltung zu bringen.
Hieraus wird deutlich, dass das, was von
einem Intellektuellen als Ziel betrachtet wird, für einen
Propheten eine Station ist von vielen, durch die er die
Menschen passieren möchte. Auch das Ziel, das der Mystiker
anstrebt, wird der Prophet durchlaufen. Iqbal versucht den
Unterschied zwischen prophetischem und mystischem Bewusstsein
folgendermaßen zum Ausdruck zu bringen:
Der verehrte Prophet Mohammad (s.)
stieg zum Himmel auf [miradsch] und kehrte auf die Erde wieder
zurück. Scheich Abdul- Quddus von Gangoh,
ein hoher Geistlicher der Sufi-Sekte, sprach sinngemäß
folgende Worte zur Himmelfahrt [miradsch]. „Ich schwöre bei
Gott, ich wäre niemals zur Erde zurückgekehrt, hätte ich jenen
Ort (im Himmel) erreicht.“
Iqbal fügt hinzu:
In der ganzen Literatur der Sufi
findet man kaum eine andere Stelle, die so kurz und treffend
den Unterschied zwischen den oben genannten Arten des
Bewusstseins aus psychologischer Sicht so deutlich macht: Ein
Mystiker würde niemals ins irdische Leben zurückkehren,
nachdem er einmal Gott erfasst und über das mystische
Bewusstsein zum inneren Frieden gelangt ist, sollte er
zurückfinden müssen, würde seine Rückkehr für die gesamte
Menschheit kaum von Nutzen sein. Kehrt der Prophet jedoch
unter die Menschen zurück, so tritt er in den Strom der Zeit
ein, mit dem Ziel, den Lauf der Geschichte zu ändern und auf
diesem Wege eine ideale Welt zu schaffen.
Wir wollen uns hier nicht mit der
Richtigkeit oder Unrichtigkeit mystischer Interpretationen
befassen, sicher ist jedoch, dass jeder Prophet in erster
Linie seinem schmerzlichen Verlangen nach Gott nachkommt, was
ihm ermöglicht, sich ihm zu nähern und dort seine Bedürfnisse
zu befriedigen.
Als nächstes werden dem Propheten die
Leiden des Menschen bewusst. Das Leid, das der Intellektuelle
empfindet, ist einem normalen menschlichen Mitgefühl
gleichzusetzen (das von Personen wie Nietzsche sogar als
Schwäche gedeutet wird), während das Feuer, das in der Seele
eines Propheten lodert, nicht mit anderen Feuern zu
vergleichen ist.
Der Heilige Qur´an sagt hierzu:
„Wahrlich, nunmehr kam ein Gesandter zu euch aus euch; schwer
liegen auf ihm eure Missetaten! Fürsorglich ist er für euch,
gegen die Gläubigen gütig und barmherzig.“
(Heiliger Quran 9:128)
„Vielleicht nimmst du dir auf ihre
Spuren, so sie dieser neuen Offenbarung nicht glauben, das
Leben aus Gram ...“
(Heiliger Quran 18:5)
Ein Prophet nimmt Anteil am Leid der
Hungernden, Unterdrückten, Kranken und Armen und kann sich
nicht satt essen, solange es noch Hungrige gibt. Imam Ali (a.)
sagte dazu: „Es sei fern von mir, mich Begierden und
Ausschweifungen hinzugeben, während es in Hidschaz
und Jemen einen Menschen geben könnte, der noch niemals
Sättigung kennen gelernt hat. Sollte ich vielleicht mit
gesättigtem Bauch herumlaufen, obwohl es um mich herum noch
ausgehungerte und leidende Menschen gibt?“
Auch andere Menschen empfinden Mitleid
und Mitgefühl für ihre Mitmenschen, aber die Teilnahme der
Propheten am Leid anderer ist nicht länger menschlicher Art.
Nur zu Beginn seiner Entwicklung zum Propheten hat er
gleichermaßen menschlich empfunden. Menschen und
Gesellschaften, die von Propheten geformt sind, unterscheiden
sich grundlegend von denen, die unter dem Einfluss so
genannter Intellektueller stehen. Ein Prophet ist darum
bemüht, die angeborenen Veranlagungen des Menschen zur
Entfaltung und verborgene geistige Kräfte zum Vorschein zu
bringen und die in allen existierende Liebe zu entflammen.
Der Prophet nannte sich selbst den
Ermahner bzw. Erwecker, der Gefühle im Menschen gegenüber der
Existenz als Ganzes hervorruft und sein eigenes Bewusstsein in
Bezug auf die ganze Existenz auf die Menschen überträgt. Ein
Intellektueller aber kann im äußersten Fall nur soziales
Bewusstsein im Menschen hervorrufen und ihn auf seine Klassen-
und nationalen Probleme aufmerksam machen.
An dieser Stelle endet Ayatollah
Motahharis Vorlesung zum Thema. Ayatollah Motahhari hat noch
zahlreiche weiterführende Werke verfasst, deren
Veröffentlichung in deutscher Sprache zukünftig angestrebt
wird.