Wahres und Falsches in Gesellschaft und Geschichte
Der zweite Teil der Diskussion über das Wahre und das
Falsche betrifft die Menschheit, die Gesellschaft und die
Geschichte. Lassen wir das Problem, ob die Existenz eine gute,
perfekte Ordnung hat oder ob das Gegenteil der Fall ist,
beiseite. Die Frage stellt sich vielmehr im Bezug auf die
Erschaffung des Menschen selbst. Wie ist er, eine Kreatur, die
das Wahre und die Gerechtigkeit sucht, den Wert, das Licht?
Oder das Gegenteil - ist sie bösartig, verderbt, ungerecht,
mörderisch gesinnt? Oder haben bestimmte Menschen eine Neigung
zur Wahrheit, und bestimmte andere sind Verteidiger des
Falschen, und beide Gruppen bekämpfen einander, so wie es
Molawi sagt?
"Gott hat zwei Flaggen gehißt, die eine weiß, die andere
schwarz. Die erste, das ist das Sinnbild des Menschen, die
zweite das des Teufels."
Es gibt hierzu verschiedene Theorien. Eine davon lautet:
Instink¬tiv ist der Mensch eine bösartige Kreatur, tyrannisch
und mit bösem Willen, die nur nach Diebstahl, List und Betrug
strebt. Bösartigkeit, Verderbtheit, Ausbeutung, Unterdrückung
bilden einen Teil seiner Natur. Im Laufe der Geschichte hat es
gute Menschen gegeben, mit allen menschlichen Werten gesegnet,
das waren aber nur Ausnahmen, die Natur hat sie so sein
lassen. Innerlich aber treibt es den Menschen zu Herzlosigkeit
und Gemeinheit. Nur hin und wieder veranlaßt ihn die Natur
dazu, gut zu sein. Als der Mensch sich der Natur und den
wilden Tieren gegenüber sah, konnte er nichts weiter tun als
sich gezwungenermaßen einem Sozialkontakt zu unterwerfen, um
sich verteidigen zu können. So haben sie sich selbst dazu
gezwungen, ein soziales Leben zu führen, Gerechtigkeit im
Umgang miteinander zu respektieren, denn ihr eigenes Interesse
forderte das von ihnen. Eine äußere Kraft also veranlaßt uns
dazu, gut zu sein. Genauso sind die schwachen Staaten
genötigt, untereinander Friedens- und Freundschaftsverträge
gegenüber einem mächtigen Staat zu schließen, um seinen
Bösartigkeiten auszuweichen; sobald der gemeinsame Feind
verschwindet, bricht unter den schwachen Staaten ein Krieg
aus. Immer, um gemeinsam gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen
zu können, arbeiten die Menschen zusammen. Im Grunde ist jedes
Glied bei der Zusammenarbeit gegen das andere eingestellt,
darum bricht, sobald der gemeinsame Feind verschwindet,
innerhalb der Gemeinschaft ein gewisser Widerspruch auf, der
sie in zwei Gruppen scheidet. Wenn wieder eine dieser beiden
Gruppen verschwindet, entsteht erneut eine Spaltung innerhalb
der anderen Gruppe, so setzt sich der Teilungsvorgang fort,
bis nur noch zwei Personen übrig bleiben, die einander noch
immer weiter bekriegen. Diese Theorie ist abgeleitet aus der
des Kampfes ums Überleben, entwickelt von Darwin, die
irrtümlicherweise verallgemeinert auf den Menschen bezogen
wird. Der größte Teil der alten Materialisten sowie einige
moderne Materialisten vertraten diese Auffassung, wobei sie
die Menschheit mit viel Pessimismus beurteilten. Nach ihrer
Meinung ist der Mensch unverbesserlich. Sie glauben nicht an
die reformative These. Ihren Vorstellungen entsprechend, ist
das Vorstellen dieser These ein nutzloses Unterfangen. Es ist
für sie so, als wollte man ein Gesetz für den Skorpion
erlassen, damit er in Zukunft nicht mehr die Menschen steche:
Der Stich des Skorpions beruht nicht auf Rachsucht. Es ist ein
Teil seiner Natur selbst. Fordert die Natur des Skorpions, daß
er steche, so ist es Unsinn, ein Gesetz gegen ihn zu erlassen.
Ähnlich liege der Fall beim Menschen. Solange er auf der Erde
lebt, werde er durch das Schlechte angezogen, ohne daß man ihn
verbessern könnte. Darum betrachten die meisten Denker dieser
Sorte den Selbstmord als den letzten Ausweg und sagen: Da das
Leben des Menschen nichts als Niedertracht ist, ist es besser,
diesem Dasein ein Ende zu setzen, den Menschen aus diesem
Universum, das voll von Häßlichkeit ist, zu erretten. Diese
irrige Denkweise wurde von Sadiq Hidayat aus dem Okzident (in
den Iran) eingeführt. Er zeigt uns in seinen Werken nur die
abscheulichen Aspekte des Lebens, als einen Morast von Schlamm
und Schmutz, in dessen Schlick nur ein paar Würmer überleben
können. Hidayat beendete selbst unter dem Einfluß seiner
Schriften sein Leben durch Selbstmord. In der Zeit, als er
unter den Jugendlichen Erfolg hatte, endete für die meisten
von ihnen das Leben im Selbstmord. Auch der Manicheismus
begründete sich auf der Idee, das Leben des Menschen sei nur
Gemeinheit und Niedrigkeit. Aber er glaubte an die Dualität
von Geist und Körper und sagte, Körper und materielles Leben
beruhten nur auf einer Hinterlist. Dem Manicheismus zufolge
ist der Geist Gefangener des Körpers. Derjenige, der sich
selbst tötet oder stirbt, entrinnt diesem Leben wie der Vogel,
der dem Käfig entflieht. Obwohl Manès an ein jenseitiges Leben
glaubte, hielt er das Leben, das in dieser Welt abläuft, für
einem bösen Witz . Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist der
Mensch eine instinktiv bösartige Kreatur, die Bösartigkeit ist
Teil seiner Natur und seines innersten Wesens. So ist er immer
gewesen, so ist und bleibt er. Es besteht keine Hoffnung, daß
der Mensch sich bessere, eine Hoffnung auf eine gute Zukunft
des Menschen ist reine Illusion.
Der Heilige Qur’an sagt:
"Dein Gott sprach zu den Engeln: 'Ich werde euch meinen
Vertreter auf die Erde schicken.' - Sie sagten: 'Willst du auf
ihr jemand einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut
vergießt, wo wir dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen? -
'Ich weiß,' erwiderte der Herr, 'was ihr nicht wißt.'"
Das heißt, Gott wies nicht einfach den Vorschlag der
himmlischen Geister zurück, er antwortete ihnen jedoch, daß er
mehr wisse als sie. Anders ausgedrückt, sagte Gott zu ihnen:
"Ihr seht nur die eine Seite, ihr kennt nicht die Wahrheit der
Natur des Wesens, das ich erschaffen will. Ihr könnt sie nicht
kennen. Sie übertrifft das, wofür ihr sie haltet." Die
himmlischen Geister kannten nur die Hälfte des Buches über das
menschliche Wesen, und darum waren sie zu pessimistisch in
Anbetracht der Erschaffung des Menschen. So ist es nicht
erstaunlich, daß manche Denker nur die Schattenseiten des
menschlichen Lebens sehen und dann solche Ratschläge erteilen.
Eine andere Theorie, die der vorhergehenden widerspricht,
sagt, die Natur des Menschen beruht auf dem Guten, dem Wahren,
der Gerechtigkeit. Der Mensch sei moralbewußt, gut, suche den
Frieden. Der Ursprung der Natur des Menschen sei Licht,
Gerechtigkeit, Tugend, Ehrenhaftigkeit. Was ist es, das ihn
verderbt werden läßt? Es wird geantwortet, ein äußeres, dem
Menschen aufgezwungenes Motiv sei es, das ihn auf Irrwege
dränge. Die Gesellschaft verderbe den Menschen. J.J. Rousseau
vertritt diese Meinung. In seinem Werk "Emile" will er uns
zeigen, daß der Mensch, sobald er sich von der Gesellschaft
absondert und in freier Natur lebt, ein gesundes, ehrenhaft
und tugendhaft handelndes Wesen wird; alle Verderbtheit,
Ehrlosigkeit, Bosheit sind Folgen der Gesellschaft, denen er
gezwungenermaßen unterliegt. Der Gesellschaft und dem
Sozialleben gegenüber ist Rousseau demnach sehr pessimistisch
eingestellt. Als reformatorische These schlägt er dem Menschen
vor, sich immer mehr in die Natur zu flüchten. Rousseau stellt
sich gegen die moderne Zivilisation, weil er glaubt, diese
entferne den Menschen von der Natur. Je mehr er sich der Natur
annähere, desto besser bewahre er seine menschlichen
Qualitäten, seine Ehrbarkeit, seine Tugend. Die Theorie
Rousseaus nähert sich in einer Beziehung der Theorie über die
Natur, die der Islam vertritt, an, und sie läßt uns an das
Wort des verehrten Propheten (s.a.s.) denken, der sagt:
"Jedes Kind hat, wenn es geboren wird, eine reine
moslemische Natur. Die Eltern machen es dann zum Juden,
Christen oder Zoroastrier."
Judentum und Christentum dienen hier nur als Beispiele, und
die Eltern sind nur Sinnbild der beiden sozialen Motive, d.h.
die Natur des Menschen ist gesund, die Gesellschaft ist es,
die ihn krank werden läßt. In einer der Erklärungen zu diesem
überlieferten Zitat gibt der Prophet (s.a.s.) folgendes
Beispiel:
"Ihr seid es, die euren Tieren die Ohren abschneiden. Ist
es möglich, daß sie mit abgeschnittenen Ohren geboren werden?"
Sie kommen ganz gesund zur Welt, der Mensch schneidet ihnen
die Ohren ab. Genauso ist es mit dem Menschen, von Natur und
Geburt aus ist er ein tugendhaftes, gutes Wesen, geneigt zur
Gerechtigkeit. Später dann wird er zu Abirrungen, Lügen,
Unterdrückung, Verrat, Niedertracht, Ehrlosigkeit und
Verderbtheit verleitet. Nach dieser Theorie also sind Wahrheit
und Gutes authentisch, das Falsche ist nur eine sekundäre, dem
Menschen auferlegte Sache. Diese Theorie gründet sich auf
einer optimistischen Haltung der menschlichen Natur, dem
Menschengeschlecht, der menschlichen Struktur gegenüber. Das
Prinzip ist also Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, Wahrheit,
Aufrichtigkeit, und jegliche Abirrung ist Folge äußerer und
zufälliger Ursachen, philosophisch gesagt, "eventueller
Ursachen". Das bedeutet, das Fortschreiten der Menschheit in
Richtung Gerechtigkeit basiert auf natürlichen, innerlichen,
dynamischen Motiven, aber dank äußerlicher, zufälliger
mechanischer Veränderungen werden dem Menschen
Niederträchtigkeit und Übel auferlegt.
Es gibt eine andere Theorie, die lautet: Innerhalb einer
Gesellschaft sind die einen Verteidiger der Wahrheit, die
anderen suchen das Falsche. Der Engel inspiriert das Gute, und
der Satan provoziert das Böse. So teilen sich die menschlichen
Wesen in zwei Gruppen. Jene, die sich in Richtung Wahrheit
bewegen, folgen dem Propheten (s.a.s.) und gelangen zum
Glauben, und die, die dem Satan Folge leisten, hören nicht auf
den Appell des Propheten (s.a.s.) und bleiben ungläubig. "Gott
hat zwei Flaggen gehißt, die eine weiß, die andere schwarz.
Die erste, das ist das Sinnbild des Menschen, die zweite das
des Teufels." Die Gesellschaft ist demnach ein Gemisch aus Gut
und Böse, aus Wahrheit und Falschheit; der Mensch ist ein
Komposition aus Güte und Boshaftigkeit, und der Kampf zwischen
Wahrem und Falschen dauert im Menschen wie in der Gesellschaft
an; welches von beiden den Sieg davontragen wird, ist ein
anderes Thema, das noch zu behandeln sein wird. (Unserer
Ansicht nach gehört der Endsieg dem Wahren und der Wahrheit.
Das Gute wird das Böse schlagen. Die Gerechtigkeit wird über
die Unterdrückung siegen. Das Licht beseitigt die Dunkelheit,
und die Religion triumphiert über den Unglauben.) Gott
schickte den Propheten (s.a.s.), damit er die Menschen zur
Religion und zur Wahrheit hin führe, auf daß die Religion den
Sieg davontrage, selbst wenn das den Heiden mißfallt. Gott
versprach den Gläubigen großartige Werke und, daß er für sie
einen Vertreter auf Erden wählen würde - so wie er es auch
zuvor getan hatte. Er ließ ihre Religion die erhabenste
werden, weil sie seine bevorzugte ist. Anstatt sie in
Schrecken und Angst zu versetzen, bot er ihnen Sicherheit, auf
daß sie weiterhin zu Gott beteten und sich nicht dem Heidentum
zuwendeten.
Die nächste materialistische Doktrin ist eine historische.
Im 19. Jahrhundert trat eine materialistische These auf; diese
Doktrin hielt sich für optimistisch gegenüber der Geschichte,
der Zukunft und der Gesellschaft. Das war der Marxismus. Hegel
begründete eine Logik und eine Philosophie, die auf einem
Revolutionismus basierten. War auch Hegel kein Materialist, so
baute doch Marx, indem er von Hegels dialektischer Philosophie
und Logik profitierte, seine eigene materialistische
Konzeption (den dialektischen Marxismus) darauf auf. Er
beschrieb die Geschichte als materialistisch. Die
grundlegenden Thesen des Dialektischen Materialismus sind: