Wahr und Falsch

Das Wahre und das Falsche

Ayatollah Morteza Motahhari

 

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Inhaltsverzeichnis

Wahres und Falsches in Gesellschaft und Geschichte

Der zweite Teil der Diskussion über das Wahre und das Falsche betrifft die Menschheit, die Gesellschaft und die Geschichte. Lassen wir das Problem, ob die Existenz eine gute, perfekte Ordnung hat oder ob das Gegenteil der Fall ist, beiseite. Die Frage stellt sich vielmehr im Bezug auf die Erschaffung des Menschen selbst. Wie ist er, eine Kreatur, die das Wahre und die Gerechtigkeit sucht, den Wert, das Licht? Oder das Gegenteil - ist sie bösartig, verderbt, ungerecht, mörderisch gesinnt? Oder haben bestimmte Menschen eine Neigung zur Wahrheit, und bestimmte andere sind Verteidiger des Falschen, und beide Gruppen bekämpfen einander, so wie es Molawi sagt?

"Gott hat zwei Flaggen gehißt, die eine weiß, die andere schwarz. Die erste, das ist das Sinnbild des Menschen, die zweite das des Teufels."

Es gibt hierzu verschiedene Theorien. Eine davon lautet: Instink¬tiv ist der Mensch eine bösartige Kreatur, tyrannisch und mit bösem Willen, die nur nach Diebstahl, List und Betrug strebt. Bösartigkeit, Verderbtheit, Ausbeutung, Unterdrückung bilden einen Teil seiner Natur. Im Laufe der Geschichte hat es gute Menschen gegeben, mit allen menschlichen Werten gesegnet, das waren aber nur Ausnahmen, die Natur hat sie so sein lassen. Innerlich aber treibt es den Menschen zu Herzlosigkeit und Gemeinheit. Nur hin und wieder veranlaßt ihn die Natur dazu, gut zu sein. Als der Mensch sich der Natur und den wilden Tieren gegenüber sah, konnte er nichts weiter tun als sich gezwungenermaßen einem Sozialkontakt zu unterwerfen, um sich verteidigen zu können. So haben sie sich selbst dazu gezwungen, ein soziales Leben zu führen, Gerechtigkeit im Umgang miteinander zu respektieren, denn ihr eigenes Interesse forderte das von ihnen. Eine äußere Kraft also veranlaßt uns dazu, gut zu sein. Genauso sind die schwachen Staaten genötigt, untereinander Friedens- und Freundschaftsverträge gegenüber einem mächtigen Staat zu schließen, um seinen Bösartigkeiten auszuweichen; sobald der gemeinsame Feind verschwindet, bricht unter den schwachen Staaten ein Krieg aus. Immer, um gemeinsam gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen zu können, arbeiten die Menschen zusammen. Im Grunde ist jedes Glied bei der Zusammenarbeit gegen das andere eingestellt, darum bricht, sobald der gemeinsame Feind verschwindet, innerhalb der Gemeinschaft ein gewisser Widerspruch auf, der sie in zwei Gruppen scheidet. Wenn wieder eine dieser beiden Gruppen verschwindet, entsteht erneut eine Spaltung innerhalb der anderen Gruppe, so setzt sich der Teilungsvorgang fort, bis nur noch zwei Personen übrig bleiben, die einander noch immer weiter bekriegen. Diese Theorie ist abgeleitet aus der des Kampfes ums Überleben, entwickelt von Darwin, die irrtümlicherweise verallgemeinert auf den Menschen bezogen wird. Der größte Teil der alten Materialisten sowie einige moderne Materialisten vertraten diese Auffassung, wobei sie die Menschheit mit viel Pessimismus beurteilten. Nach ihrer Meinung ist der Mensch unverbesserlich. Sie glauben nicht an die reformative These. Ihren Vorstellungen entsprechend, ist das Vorstellen dieser These ein nutzloses Unterfangen. Es ist für sie so, als wollte man ein Gesetz für den Skorpion erlassen, damit er in Zukunft nicht mehr die Menschen steche: Der Stich des Skorpions beruht nicht auf Rachsucht. Es ist ein Teil seiner Natur selbst. Fordert die Natur des Skorpions, daß er steche, so ist es Unsinn, ein Gesetz gegen ihn zu erlassen. Ähnlich liege der Fall beim Menschen. Solange er auf der Erde lebt, werde er durch das Schlechte angezogen, ohne daß man ihn verbessern könnte. Darum betrachten die meisten Denker dieser Sorte den Selbstmord als den letzten Ausweg und sagen: Da das Leben des Menschen nichts als Niedertracht ist, ist es besser, diesem Dasein ein Ende zu setzen, den Menschen aus diesem Universum, das voll von Häßlichkeit ist, zu erretten. Diese irrige Denkweise wurde von Sadiq Hidayat aus dem Okzident (in den Iran) eingeführt. Er zeigt uns in seinen Werken nur die abscheulichen Aspekte des Lebens, als einen Morast von Schlamm und Schmutz, in dessen Schlick nur ein paar Würmer überleben können. Hidayat beendete selbst unter dem Einfluß seiner Schriften sein Leben durch Selbstmord. In der Zeit, als er unter den Jugendlichen Erfolg hatte, endete für die meisten von ihnen das Leben im Selbstmord. Auch der Manicheismus begründete sich auf der Idee, das Leben des Menschen sei nur Gemeinheit und Niedrigkeit. Aber er glaubte an die Dualität von Geist und Körper und sagte, Körper und materielles Leben beruhten nur auf einer Hinterlist. Dem Manicheismus zufolge ist der Geist Gefangener des Körpers. Derjenige, der sich selbst tötet oder stirbt, entrinnt diesem Leben wie der Vogel, der dem Käfig entflieht. Obwohl Manès an ein jenseitiges Leben glaubte, hielt er das Leben, das in dieser Welt abläuft, für einem bösen Witz . Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist der Mensch eine instinktiv bösartige Kreatur, die Bösartigkeit ist Teil seiner Natur und seines innersten Wesens. So ist er immer gewesen, so ist und bleibt er. Es besteht keine Hoffnung, daß der Mensch sich bessere, eine Hoffnung auf eine gute Zukunft des Menschen ist reine Illusion.

Der Heilige Qur’an sagt:

"Dein Gott sprach zu den Engeln: 'Ich werde euch meinen Vertreter auf die Erde schicken.' - Sie sagten: 'Willst du auf ihr jemand einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen? - 'Ich weiß,' erwiderte der Herr, 'was ihr nicht wißt.'"

Das heißt, Gott wies nicht einfach den Vorschlag der himmlischen Geister zurück, er antwortete ihnen jedoch, daß er mehr wisse als sie. Anders ausgedrückt, sagte Gott zu ihnen: "Ihr seht nur die eine Seite, ihr kennt nicht die Wahrheit der Natur des Wesens, das ich erschaffen will. Ihr könnt sie nicht kennen. Sie übertrifft das, wofür ihr sie haltet." Die himmlischen Geister kannten nur die Hälfte des Buches über das menschliche Wesen, und darum waren sie zu pessimistisch in Anbetracht der Erschaffung des Menschen. So ist es nicht erstaunlich, daß manche Denker nur die Schattenseiten des menschlichen Lebens sehen und dann solche Ratschläge erteilen.

Eine andere Theorie, die der vorhergehenden widerspricht, sagt, die Natur des Menschen beruht auf dem Guten, dem Wahren, der Gerechtigkeit. Der Mensch sei moralbewußt, gut, suche den Frieden. Der Ursprung der Natur des Menschen sei Licht, Gerechtigkeit, Tugend, Ehrenhaftigkeit. Was ist es, das ihn verderbt werden läßt? Es wird geantwortet, ein äußeres, dem Menschen aufgezwungenes Motiv sei es, das ihn auf Irrwege dränge. Die Gesellschaft verderbe den Menschen. J.J. Rousseau vertritt diese Meinung. In seinem Werk "Emile" will er uns zeigen, daß der Mensch, sobald er sich von der Gesellschaft absondert und in freier Natur lebt, ein gesundes, ehrenhaft und tugendhaft handelndes Wesen wird; alle Verderbtheit, Ehrlosigkeit, Bosheit sind Folgen der Gesellschaft, denen er gezwungenermaßen unterliegt. Der Gesellschaft und dem Sozialleben gegenüber ist Rousseau demnach sehr pessimistisch eingestellt. Als reformatorische These schlägt er dem Menschen vor, sich immer mehr in die Natur zu flüchten. Rousseau stellt sich gegen die moderne Zivilisation, weil er glaubt, diese entferne den Menschen von der Natur. Je mehr er sich der Natur annähere, desto besser bewahre er seine menschlichen Qualitäten, seine Ehrbarkeit, seine Tugend. Die Theorie Rousseaus nähert sich in einer Beziehung der Theorie über die Natur, die der Islam vertritt, an, und sie läßt uns an das Wort des verehrten Propheten (s.a.s.) denken, der sagt:

"Jedes Kind hat, wenn es geboren wird, eine reine moslemische Natur. Die Eltern machen es dann zum Juden, Christen oder Zoroastrier."

Judentum und Christentum dienen hier nur als Beispiele, und die Eltern sind nur Sinnbild der beiden sozialen Motive, d.h. die Natur des Menschen ist gesund, die Gesellschaft ist es, die ihn krank werden läßt. In einer der Erklärungen zu diesem überlieferten Zitat gibt der Prophet (s.a.s.) folgendes Beispiel:

"Ihr seid es, die euren Tieren die Ohren abschneiden. Ist es möglich, daß sie mit abgeschnittenen Ohren geboren werden?"

Sie kommen ganz gesund zur Welt, der Mensch schneidet ihnen die Ohren ab. Genauso ist es mit dem Menschen, von Natur und Geburt aus ist er ein tugendhaftes, gutes Wesen, geneigt zur Gerechtigkeit. Später dann wird er zu Abirrungen, Lügen, Unterdrückung, Verrat, Niedertracht, Ehrlosigkeit und Verderbtheit verleitet. Nach dieser Theorie also sind Wahrheit und Gutes authentisch, das Falsche ist nur eine sekundäre, dem Menschen auferlegte Sache. Diese Theorie gründet sich auf einer optimistischen Haltung der menschlichen Natur, dem Menschengeschlecht, der menschlichen Struktur gegenüber. Das Prinzip ist also Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, Wahrheit, Aufrichtigkeit, und jegliche Abirrung ist Folge äußerer und zufälliger Ursachen, philosophisch gesagt, "eventueller Ursachen". Das bedeutet, das Fortschreiten der Menschheit in Richtung Gerechtigkeit basiert auf natürlichen, innerlichen, dynamischen Motiven, aber dank äußerlicher, zufälliger mechanischer Veränderungen werden dem Menschen Niederträchtigkeit und Übel auferlegt.

Es gibt eine andere Theorie, die lautet: Innerhalb einer Gesellschaft sind die einen Verteidiger der Wahrheit, die anderen suchen das Falsche. Der Engel inspiriert das Gute, und der Satan provoziert das Böse. So teilen sich die menschlichen Wesen in zwei Gruppen. Jene, die sich in Richtung Wahrheit bewegen, folgen dem Propheten (s.a.s.) und gelangen zum Glauben, und die, die dem Satan Folge leisten, hören nicht auf den Appell des Propheten (s.a.s.) und bleiben ungläubig. "Gott hat zwei Flaggen gehißt, die eine weiß, die andere schwarz. Die erste, das ist das Sinnbild des Menschen, die zweite das des Teufels." Die Gesellschaft ist demnach ein Gemisch aus Gut und Böse, aus Wahrheit und Falschheit; der Mensch ist ein Komposition aus Güte und Boshaftigkeit, und der Kampf zwischen Wahrem und Falschen dauert im Menschen wie in der Gesellschaft an; welches von beiden den Sieg davontragen wird, ist ein anderes Thema, das noch zu behandeln sein wird. (Unserer Ansicht nach gehört der Endsieg dem Wahren und der Wahrheit. Das Gute wird das Böse schlagen. Die Gerechtigkeit wird über die Unterdrückung siegen. Das Licht beseitigt die Dunkelheit, und die Religion triumphiert über den Unglauben.) Gott schickte den Propheten (s.a.s.), damit er die Menschen zur Religion und zur Wahrheit hin führe, auf daß die Religion den Sieg davontrage, selbst wenn das den Heiden mißfallt. Gott versprach den Gläubigen großartige Werke und, daß er für sie einen Vertreter auf Erden wählen würde - so wie er es auch zuvor getan hatte. Er ließ ihre Religion die erhabenste werden, weil sie seine bevorzugte ist. Anstatt sie in Schrecken und Angst zu versetzen, bot er ihnen Sicherheit, auf daß sie weiterhin zu Gott beteten und sich nicht dem Heidentum zuwendeten.

Die nächste materialistische Doktrin ist eine historische. Im 19. Jahrhundert trat eine materialistische These auf; diese Doktrin hielt sich für optimistisch gegenüber der Geschichte, der Zukunft und der Gesellschaft. Das war der Marxismus. Hegel begründete eine Logik und eine Philosophie, die auf einem Revolutionismus basierten. War auch Hegel kein Materialist, so baute doch Marx, indem er von Hegels dialektischer Philosophie und Logik profitierte, seine eigene materialistische Konzeption (den dialektischen Marxismus) darauf auf. Er beschrieb die Geschichte als materialistisch. Die grundlegenden Thesen des Dialektischen Materialismus sind:

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