Bemerkungen zur Lage des Islam und der Muslime heute in
der islamischen Welt und ganz besonders in Europa
Übersichtlichkeitshalber habe ich den Vortrag in eine kurze
Einleitung und fünf Abschnitte geteilt.
Die Einleitung
In der Einleitung beabsichtige ich paar Wörter über meine
Einstellung zu diesem Thema erzählen:
Ich bin in Isfahan geboren. Mit 14 Jahren habe ich mit dem
Erlernen der arabischen Sprache und danach der islamischen
Wissenschaften begonnen. Mein Studium habe ich, abgesehen von
der arabischen Sprache und Literatur in Koran, Sunna, Fiqh,
Usul al-fiqh, Kalam, Philosophie, Mystik abgeschlossen. Ich
kam nach Deutschland und ich habe mich ausschließlich mit
europäischen Geisteswissenschaften, vor allem Philosophie,
Psychologie, Pädagogik und Soziologie und ganz besonders
Vergleichende Religionswissenschaften beschäftigt. Meine drei
Prüfungsfächer waren Philosophie, Psychologie und
Vergleichende Religionswissenschaft. Meine Doktorarbeit habe
ich über Kants Praktische Philosophie geschrieben und meine
Habilitation über Umgestaltung der griechischen Philosophie
durch die islamische Denkweise geschrieben. Kurz nach meiner
Ankunft in Deutschland, d.h. im Februar 1955, begann ich mit
dem Dialog mit den Christen.
Die Hauptgrundlage für mein Gespräch und spätere Schriften
war in erster Linie der Koran und die Sunna, sofern diese
eindeutig mit dem Koran übereinstimmen.
Zu meiner Einstellung zu den islamischen Richtungen und
Schulen ist wichtig zu bemerken, dass ich zwar eine sehr
intensive schiitische Ausbildung in Kalam und Fiqh genoss,
aber sehr bald, vor allen Dingen, unter Einfluss der Schriften
von Sayyid jamal ad-Din und Muhammad 3Abduh, aber auch unter
Einfluß einiger meiner Lehrer, begann ich mich, im Sinne der
Einheit des Islam und der Muslime, über diejenigen Momente
hinwegzusetzen, welche jahrtausendelang Gründe für die
Streitigkeiten geliefert und die Muslime auseinandergebracht
haben. Schon im Iran begann ich mich mit der hanafitischen und
pafiqitischen Schule zu beschäftigen und ihre Eigenart kennen
zulernen. Diesem eine Einstellung zu den islamischen Schulen
und Richtungen hat mir bei meinem Dialog mit den Christen und
Juden sehr viel geholfen. Das Ergebnis war die Tatsache, dass
meine Diskussionsbeiträge und Schriften von Anhängern aller
islamischen Schulen akzeptiert wurden. Diese, meine Haltung,
bekam durch meine Lehrtätigkeit in Deutschland eine besondere
Verstärkung, d. h. seit meiner Lehrtätigkeit 1960 in
Deutschland habe ich hauptsächlich die sunnitischen Richtungen
und Schulen gelehrt und immer wieder versucht, das Beste, das
heute Brauchbarste, aus diesen Schulen herauszustellen und
weiterzuentwickeln. Wenn man mich fragt, nach welcher Schule
ich mich richte, ist meine Antwort darauf folgende: Ich
bewundere alle diese Schulen und Richtungen, sofern sie als
verschiedene Möglichkeiten der Interpretation und des
Verstehens vom Islam gelten. Ich richte mich aber in der
ersten Linie unabhängig von diesen Schulen nach dem Koran und
entsprechend der Sunna und mache von allen vorteilhaften,
spezifischen Momenten dieser Schulen Gebrauch, vor allen
Dingen von denjenigen Gedanken und Prinzipien, die uns heute
bei der Lösung gegenwärtiger Probleme helfen. Ich distanziere
mich ganz eindeutig von allen Erscheinungen, die in der
Geschichte und Gegenwart die Muslime auseinandergebracht
haben.
In der Überzeugung, dass alle diese dem Sinn, dem Geist,
der Absicht und dem Ziel des Korans widersprechen, egal von
welcher Richtung oder Schule diese trennende Erscheinungen
kommen.
Wissenschaftlich gesehen stellt meine geistige Haltung und
meine wissenschaftliche Bestrebung die Einheit des Islam dar,
die aber in seiner aspektuellen Vielfalt, Anlass zu
verschiedenen Interpretationen und zur Entstehung
verschiedener Denkrichtungen gegeben hat, die ihrerseits
unterschiedlich bewertet worden sind und bewertet werden. Nach
dieser Einführung, die gleichzeitig Grundlage für meine
Ausführung hier bildet, wende ich mich dem eigentlichen Thema
zu, das ich wie folgt in fünf Abschnitte zu erläutern
versuche:
I. Die Besonderheit der koranischen Offenbarung und deren
Auswirkung auf Bildung und Entwicklung der islamischen
Gemeinschaft innerhalb der ersten 400 Jahre frühislamischer
Zeit
II. Religion und Kultur und ihr Verhältnis zueinander und
ganz besonders das Verhältnis der islamischen Lehre als
Religion zur islamischen Kultur
III. Die daraus entstandene geistige Krise unter den
Muslimen und die Lösungsmöglichkeiten
IV. Resümee und neue Vorschläge zur Lage der Muslime heute,
aber ganz besonders der Muslime in Europa
I. Die Besonderheit der koranischen Offenbarung und deren
Auswirkung auf Bildung und Entwicklung der islamischen
Gemeinschaft innerhalb der ersten 400 Jahre frühislamischer
Zeit:
Unter allen Büchern und Schriften (seien sie heilige oder
profane) zeichnet sich der Koran dadurch aus, dass er nicht
von einem Autor abgefasst, als Ganzes vorgelegt wurde. Er ist
vielmehr das einzige Buch, das im Laufe von 23 Jahren nach und
nach und zwar situationsadäquat offenbart bzw. verkündet
wurde.
Angesprochen wird mit dieser Schrift und in dieser Schrift
der Mensch, der Mensch aber nicht als abstrakter Begriff,
sondern der Mensch in seiner Verbindung mit der Geschichte der
Menschheit, wie der Koran sie verkündet und auch gleichzeitig
der Mensch in seiner Verbundenheit in einer Gemeinschaft und
voller Integrität im alltäglichen Leben. Damit sind zwei sehr
wichtige Prinzipien verbunden:
Prinzip 1: Die Tatsache, dass der Mensch immer aus der
geschichtlichen Dimension seiner Gattung durch die Geschichte,
von seiner Schöpfung bis zur Zeit des Propheten, in Betracht
gezogen wird.
Prinzip 2: Die Notwendigkeit der Entsprechung der
verkündeten Verse mit der jeweiligen Situation, ein Prinzip,
das sich so viel, wie die Anzahl der Koranverse, also mehr als
6000 mal, wiederholte. Daraus entwickelt sich eine weitere
Wirklichkeit. Der Mensch wird als Ganzes angesprochen. Der
Mensch wird nicht in eine sakrale und profane Wirklichkeit
eingeteilt. Der Mensch ist als Ganzes mit allen seinen
geistigen und körperlichen Belangen gleichwertig und wird in
einer Harmonie vom Koran angesprochen. Voll integriert in
diesem hiesigen Leben und vollkommen vorbereitet für ein Leben
nach dem Tod. Aus dieser Tatsache entwickelt sich das dritte
Prinzip, nämlich das Wohlergehen des Menschen im diesseitigen
Leben, verbunden mit dem Jenseitigen; ein Wohlergehen, das nur
gewährleistet ist, wenn alles in Bezug auf den einen einzigen
Gott ausgerichtet, gehandelt und verwirklicht wird.
Die islamische Rechtslehre und auch Glaubenslehre haben
zwar diese Prinzipien, vor allem die ersten beiden Prinzipien,
so wichtig sie auch sind, nicht ausdrücklich formuliert und
wenig davon Gebrauch gemacht. Dahingegen haben sich die
Muslime stets gekonnt in entscheidender Phase ihrer Geschichte
daran orientiert. Einige Beispiele erläutern das: Das
wichtigste und verbindlichste Beispiel ist die Verhaltensweise
der rechtgeleiteten Kalifen, vor allen Dingen die des 2.
Kalifen. Seine Zeit war bestimmt durch die aller erste
Begegnung der islamischen Offenbarung mit Kulturen und
Religionen der Nichtaraber, d. h. in diesem Sinne mit völlig
fremden Kulturen.
Verwaltungsmäßig befanden sich die Muslime auch in einer
Situation, in der das arabische Volk sich nie in seiner
Geschichte befand. Es tauchten die Situationen und
dementsprechend neue Fragen auf, auf die der Koran und Sunna
expressis verbis Bezug genommen hatte. Es war gerade der 2.
Kalif qUmar, der wohl bemerkt, in Beratung mit hochrangigen,
hochgeistigen Gefährten des Propheten, im Geiste des Koran, im
Geiste der Sunna, d.h. im Sinne der ersten beiden Prinzipien,
die neue Situation, also einer der schwierigsten Phasen der
islamischen Geschichte, gemeistert hatte, neue Ordnungen, neue
Bestimmungen, neue Einrichtungen, neue Entscheidungen.
Ein zweites Beispiel liefert uns hundert Jahre später die
Situation in den Gebieten Syrien und Irak. Hier waren es nicht
mehr fremde Kulturen, sondern hauptsächlich die Muslime
nichtarabischer Herkunft, die einst Träger dieser Kulturen
waren und nun als Muslime vor allem als nichtarabische Muslime
über einzelne Fragen, einzelne Koranverse und Sunna
reflektierten und detaillierte Lösungen für immer
komplizierter werdende Gesellschaft suchten. Die Folge davon
war, die Entstehung zahlreicher Richtungen und Schulen im
Bereich der Glaubens - und Pflichtenlehre. Auch das Bemühen
dieser Zeit hätte kein Erfolg erzielt, wenn es sich nicht nach
dem Geiste vom Koran und Sunna, d.h. nach den ersten beiden
Prinzipien gerichtet hätte, nämlich nach:
1. Geschichtlichkeit des Menschen und der menschlichen
Gemeinschaft
2. Situationsbezogenheit des menschlichen Lebens und dessen
Wandel.
Wenn wir nun diese beiden entscheidenden Phasen der
islamischen Geschichte zusammenfassen und diese
charakterisieren wollen, können wir sagen, dass die Muslime
während der ersten Phase den festen Rahmen einer islamischen
Gesellschaft und eine öffentliche Ordnung der islamischen
Gemeinschaft aufstellen konnten, während sie in der zweiten
Phase damit begannen, diesen Rahmen durch detaillierte Normen
und durch eine inhaltliche Sicherheit zu garantieren.
Vielleicht war es diese feste sichere neue Struktur der
islamischen Gemeinschaft, der Form und dem Inhalt nach, die
den Bedarf nach Neuorientierungen nicht aufkommen ließ.
Vielleicht waren auch die Herrscher, die in jeder
Neuorientierung eine Gefahr für ihre Herrschaft sahen. Es gibt
dafür viele andere Thesen und Theorien, die wir hier aber
nicht behandeln können. Fest steht jedoch, dass die islamische
Gesellschaft in einer für die Muslime bis heute
entscheidendsten Phase ihrer Begegnung mit fremden Kulturen
nicht mehr in der Lage war, auf die Stimme jener Männer zu
reagieren, die ihnen, gemessen an geistigen Entwicklungen im
Westen, neue Wege aufzeigten. Ich nenne hier drei
Persönlichkeiten aus dem islamischen Westen: Averroes, Ibn
Valdun und Imam as-Satibi.
Averroes, der nicht nur in der Philosophie, sondern auch in
gleicher Weise in der Rechtslehre zuhause war, hatte es
geschafft, in Gegenüberstellung der westlichen Philosophie mit
der islamischen Kultur, eine neue Definition des Menschen, der
Fähigkeit des Menschen zu artikulieren. Der Mensch nämlich,
der im Mittelpunkt der Offenbarung stand und steht. Ibn Valdun
hat es geschafft, den Standort der Menschen innerhalb der
Geschichte und vor allen Dingen innerhalb der von den Menschen
hervorgebrachten Kulturen und Zivilisationen, neu zu
definieren und der festgefahrenen Gesellschaftsstruktur der
Muslime, die einst unter dem zweiten Kalifen entstand, neue
Impulse zu geben.
Imam ap-Pafi3i hat es geschafft durch eine neue Analyse vom
Begriff maslaha „Wohl der Gemeinschaft", und maqasid ul-ahkam
„Ziele der islamischen Normen", eine differenziertere Analyse
der Bedürfnisse der menschlichen Gemeinschaft in ihrem Bezug
auf Raum und Zeit detailliert und differenziert darzubieten.
Averroes hat mehr in der westlichen philosophischen Tradition
gewirkt als in der Islamischen. Ibn Valdun wurde erst dann
später von westlichen Autoren entdeckt.
Für Imam as-Satibi begeistert man sich erst heute. Warum
das eigentlich? Warum ist die islamische Gemeinschaft nicht in
der Lage gewesen, solche Stimmen zu hören und sie in die Tat
umzusetzen?
Damit komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Darstellung,
nämlich: