Der Islam im Dialog

Der Islam im Dialog - Aufsätze

Prof. Abdoldjavad Falaturi

Inhaltsverzeichnis

Mystik als Binheitsgrund - Fundamentalismus als Gegenreaktion?

von Brück:

Aber ich komme jetzt auf die innere Motivation zurück. Welches sind die Ansatzpunkte für Engagement und Identifikation? Auf der einen Seite geht es um den inneren Weg, die Geistesschulung, um das also, was in den westlichen Traditionen meist Mystik genannt wird. Auf der anderen Seite haben wir die äußerliche Identifikation mit religiösen Gruppen, ein politisches Phänomen, oder auch die sehr entschieden wertende und engagierte Festlegung auf bestimmte Lehren, die zu Strömungen führen kann, die wir undifferenziert als „fundamentalistische" bezeichnen. Vielleicht hängen die beiden Aspekte miteinander zusammen und man kann nicht einfach sagen, das eine wäre echt, das andere völlig unecht.

Man muss unterscheiden, und vielleicht können wir im nächsten Gesprächsgang diese Frage etwas diskutieren. Zugespitzt etwa so: Kann Religion als hilfreiches Medium nur erlebt werden, wenn wir es sozusagen auf seine mystische Komponente bringen und sagen, dass auf der mystischen Ebene alle Religionen gleich seien, weil sie dort letztlich alle zum Schweigen kommen, wodurch auch kein Streit mehr möglich wäre? In der äußerlichen Religion, bei der Frage der sozialen Identifikation, wären hingegen Streit und Auseinandersetzung vorprogrammiert? Ich darf mit einer Bemerkung beginnen: Mir scheint, dass wir auch die These von der Einheit der Religionen in der Mystik sehr kritisch befragen müssen. Denn alles, was wir davon wissen - auch von den spezifischen Geistesschulungen wie sie etwa im Buddhismus gelehrt werden, zeigt an, dass die Unterschiede nicht unerheblich sind. Es sind unterschiedliche Methoden, unterschiedliche Bilder, in denen diese Wege ausgedrückt werden. Die Interpretationen sind verschieden und jeweils eingebunden in das Weltbild der entsprechenden Religion. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich auf dieser Ebene so ohne weiteres auch nicht finden.

Falaturi:

Ich versuche mich kurz zu fassen, da wir das ganze Thema doch nicht betrachten können. Nur will ich gleich zu Anfang sagen, dass es natürlich einen großen Unterschied zwischen der Mystik gibt, wie sie innerhalb des Judentums und des Christentums existiert, und den Formen von Mystik in ostasiatischen Religionen. Die Gründe dafür liegen zum Teil in unterschiedlichen Lehren, in Erlebnissen, verschiedenen Gestaltungsformen der Gesellschaft. Vielleicht wäre das wichtigste, dass der ganze Begriff des Judentums sich weit mehr auf diese Welt bezieht und nicht auf die andere Welt. Wir würden aber - worauf Leo Baeck und Gershom Scholem in ihren Büchern verweisen - die jüdische Mystik zu stark verkürzen, wenn wir behaupteten, dass sie nur nach communio strebt und nicht nach unio, dass man sich nicht in der Ekstase verlieren, sondern nur zu einem Gespräch kommen und sich öffnen wolle. Das Ekstatische ist die Ausnahme, aber im Chassidismus kann man fast alles finden. Die Mystik im Judentum ist vor allem durch Rationalismus und ethisches Denken gekennzeichnet. Auch mir scheint, dass Fundamentalismus sich gewöhnlich mit reaktionären politischen Begriffen und Bewegungen verbindet, weil durch diese reaktionären Begriffe ein Teil der Sicherheit vermittelt wird, die der Fundamentalist anstrebt. Er versucht, der Komplexität der Welt zu entgehen.

v. Strietencron:

Beim Fundamentalismus handelt es sich um das Phänomen einer extremen Identitätssuche. Diese Identität artikuliert sich gegen den säkularen Staat, sicherlich auch gegen den interreligiösen Dialog. Man will zurück: zurück zu den Fundamenten der eigenen Religion, zurück zu irgendwelchen frühen Quellen, und daher ergibt sich eine neue Definition des Selbstverständnisses. Das kann sogar im heutigen Indien einer religiösen Gruppe passieren, dort wo man eigentlich immer behauptet hat, Toleranz sei das Charakteristikum dieser Kultur; und trotzdem sehen wir jetzt in Indien wegen eines Konfliktes um eine alte Moschee Hindus und Muslime miteinander in Streit geraten, und zwar in physischen Streit. Dabei sehen die Hindus durchaus, dass das gegen ihre Toleranztradition verstößt. Aber ihre Sprecher behaupten, es handle sich um ein notwendiges Durchbrechen eines Zustandes, in dem sie als Hindus nicht sein können, wie sie eigentlich sind, sondern fortwährend hinnehmen müssen, was andere ihnen aufzwingen. Dieses Sich-Aufbäumen gegen eine allzu große Zurückhaltung in der Auseinandersetzung mit anderen tritt uns da in einer Situation entgegen, in der man eigentlich hätte Toleranz erwarten können. Nun muss man Fairerweise hinzufügen, dass das alles wohl ganz wesentlich politisch motiviert ist, dass also politische Interessen den Konflikt angeheizt haben, und dass man die eigentlichen religiösen Bedürfnisse wahrscheinlich sehr viel tiefer ansetzen muss, als es in der Presse erscheint. Fundamentalismus ist sehr häufig eine Kombination von politischen, ökonomischen und religiösen Motiven. Man sollte das vielleicht im Auge behalten.

Ott:

Das Beispiel, das Sie geben, erinnert mich eigentlich mehr an die Phänomene des politischen Katholizismus, wie wir sie z.B. in unserem Land auch kannten, weniger an die Formen von evangelikalem Fundamentalismus, wie sie mir heute begegnen.

Falaturi:

Fundamentalismus kann nicht einfach mit einer bestimmten Gruppe identifiziert werden, sondern er geht durch alle Schichten der Religionen, und man weiß nie, auf welche Weise er ausbrechen kann. Gestern sprach ich mit einem Priester aus Weißrußland, der mit der Friedensgruppe von Tschernobyl hier herumreist. Im Gespräch mit ihm präsentierte sich mir eine reaktionäre Religion, die es vor 200 Jahren in Rußland gegeben hatte und in die er sich hineinflüchtete als Antwort auf die Zustände des heutigen Lebens. Fundamentalismus - auf diese Weise gesehen - ist nicht einfach mit einer einzigen Gruppe zu verbinden, ob man es nun gut oder böse findet.

Falaturi:

Darf ich fragen: Was genau ist „Fundamentalismus"?

Moltmann:

Fundamentalismus ist, glaube ich, eine christliche Erfindung. Sie tauchte im 19. Jahrhundert in Amerika als Reaktion auf liberales Christentum und liberale Prediger auf, als eine Reaktion und Rückbesinnung auf die Bibel. Wir haben diesen Fundamentalismus immer unterschätzt und ihn für reaktionär, rückständig gehalten. Es ist ein Phänomen der Moderne, dass Menschen die Pluralität nicht aushalten, sie als Bedrohung empfinden und sich dann an irgendwelchen Fundamenten orientieren, auf die sie sich zurückbesinnen. Ein gutes Beispiel war Canterbury vor zwei Jahren. Da wurde ein Festival of the Earth in der Kathedrale veranstaltet. Neben einem Buddhisten predigte auch ein Sikh, und neben einem Muslim war ein jüdischer Rabbi gegenwärtig. Die Reaktion der christlichen Gemeinden in Canterbury war ein March for Jesus als Gegenbewegung dazu. Ähnliches habe ich auch in Washington gesehen. Es formiert sich ein Fundamentalismus gegenüber dem interreligiösen Dialog. In der Ökumene hatten wir als Gegenformation die Herausbildung der evangelikalen Bewegung, und solche Reaktionen auf Modernisierung nennt man wohl jetzt ganz allgemein fundamentalistisch. Aber der Begriff kommt ursprünglich aus der Geschichte des Christentums. Ähnliche Reaktionen als Rückbesinnung und Antwort auf Modernisierung gibt es ja wohl auch im Islam?

Falaturi:

Ich komme mit diesem Begriff leider überhaupt nicht zurecht.

von Brück:

Ich wollte nichts anderes, als die Problematik dieses Begriffes deutlich machen. Mir scheint, dass die Ereignisse in Indien nicht in dem Sinne als Fundamentalismus interpretiert werden können, in dem wir gerade Herrn Moltmann hörten. Nur kann man natürlich die politischen oder die wirtschaftlichen Phänomene, die damit zusammenhängen, nicht von der Suche nach Identität und Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen trennen. Das spielt gewiss immer mit hinein, vielleicht weniger stark in unseren modernen westlichen permissiven Gesellschaften, die religiöse Wertefragen und wirtschaftliche, politische Entwicklungen weitgehend - keineswegs ganz und gar - voneinander abkoppeln möchten. Meine Frage richtet sich an die Buddhisten. Ist im Buddhismus ein Fundamentalismus, wie er eben beschrieben wurde, vorstellbar, und sind in der buddhistischen Geschichte überhaupt solche Ereignisse und Strömungen feststellbar, nämlich eine Rückbesinnung auf die Fundamente, allerdings - und das war an dem Beispiel des March forJesus ja sehr deutlich - in exklusiver Form? Muss eine solche Rückbesinnung immer diese militanten Züge tragen, die ja in der christlichen Geschichte jetzt sehr häufig vorkommen, indem man meint: Jetzt muss ich meinem Feldherrn als Christian soldier folgen, was eine spirituelle, aber eben auch eine soziale und politische Seite gehabt hat und hat.

Moltmann:

Wo soziale Krisen Orientierungskrisen hervorrufen, brauchen Menschen so eine starke Identifizierung. Wir sehen das auch bei unseren eigenen Studenten hier, und das ist eigentlich ein verständliches psychologisches Phänomen.

von Brück:

Das ist richtig. Die Frage ist aber, ob die Identifizierung so gestaltet sein muss, dass sie auf der religiösen Seite eine derartig starke Exklusivität hervorruft, wie das bei dem von Ihnen angeführten Fall offenkundig ist. Hingegen scheint mir, dass es in der buddhistischen Geschichte etwas anders ist, wo natürlich solche Rückbesinnungen auch vorkommen, vielleicht aber ohne diesen exklusivistischen Zug.

Dagyab:

Ich möchte aus der Geschichte des tibetischen Buddhismus zwei Beispiele für Rückbesinnungen auf die Fundamente anführen: Der Buddhismus wurde im 7. Jahrhundert in Tibet eingeführt. In den nachfolgenden Jahrhunderten degenerierte er langsam, um wieder mit neuem Leben erfüllt zu werden, und zwar in Rückbesinnung auf die alten Quellen und deren genaue Neuübersetzungen. So wurde eine große Reformation im 10. Jahrhundert von Atisa und eine weitere ab dem 15. Jahrhundert von Tsongkapa und seinen Schülern durchgeführt. Sie erneuerten die gesamte Überlieferung der Buddhalehre grundlegend, d. h. sämtliche Literatur, die aus Indien in Sanskrit oder Pali zu uns kam, wurde neu ins Tibetische übersetzt und korrigiert. Insbesondere was die Praxis angeht, wurden klare Konsequenzen gezogen und eine Reinigung der Praxis eingeleitet. Das ist eine Rückkehr zu den Fundamenten, eine Reform, die soziale und politische Folgen hatte. Auch die Patrone der Klöster mussten sich die Frage stellen, ob sie ein reformiertes oder ein nicht-reformiertes Kloster unterstützen wollten.

Leisner:

Dazu noch ein buddhistischer Kommentar aus westlicher Perspektive: Wenn Sie sich erinnern, Herr von Brück, haben Sie bei uns in Nürnberg einen Vortrag gehalten, und Sie fragten hinterher nach den Reaktionen. Wir haben darüber gesprochen, und Sie sagten: »Ich hätte nicht vermutet, dass es derart sture, dogmatische Fundamentalbuddhisten gibt!" Und es scheint sie zu geben, aber erstaunlicherweise mehr bei uns im Westen als in Asien, da wir hier eine andere Mentalität haben. Einige werden Buddhisten und bauen nun die Lehre in ihr gewohntes Denksystem ein; auf diese Weise können wir sehr leicht so etwas wie fundamentalistischen Buddhismus hervorbringen. Der asiatischen Mentalität, soweit sie buddhistisch geprägt ist, entspricht das wohl weniger.

von Brück:

Herr Moltmann, Sie sagten, das war ein March for Jesus. Und mir scheint da nun ein Unterschied zu bestehen, ob das ein March forJesus ist - und das würde ich in diesem Sinne als exklusivistisch bezeichnen - oder eben ein march with, in and underJesus, was eine ganz andere geistige Grundhaltung voraussetzen würde. Ist die erste, die fast militante Grundhaltung notwendigerweise mit der Art von religiöser Tradition gegeben, wie wir sie geschichtlich ererbt haben, oder ist das nicht notwendigerweise so? Gäbe es nicht auch Identifikationsmöglichkeiten, die nicht diesen Exklusivismus benutzen?

Moltmann:

Im Prinzip ja. In der Praxis aber ist Identifikation und Orientierung damit verbunden, dass ich weiß, für wen und gegen wen ich bin, also mit einfachen Freund-Feind-Schemata. Wenn das klar ist, dann ist Orientierung da. Ich finde das auch nicht schön und bedauere das, aber das Bedürfnis danach ist offenbar stärker als wir angenommen hatten. Wir dachten, die evangelikale Bewegung würde sich langsam totlaufen und der Fundamentalismus würde verschwinden. Es ist aber im Gegenteil so, dass er wächst, je unübersichtlicher die moderne Welt wird.

Ott:

Der Begriff „Fundamentalismus" hat ja in den letzten Jahren eine rapide Wandlungsgeschichte durchgemacht. Früher, vor noch nicht langer Zeit, wurde Fundamentalismus so verstanden, wie es Herr Moltmann erläutert hat, von den Ursprüngen in Amerika her. Dann wurde er übertragen auf den Iran und Khomeini. Dann wurde er in den politischen Bereich übertragen, wo man z. B. bei den Grünen von Realos und Fundis spricht. Und jetzt kann man ihn so ziemlich überall anwenden. Die Frage ist: Ist dies eine legitime und hilfreiche Begriffserweiterung, oder ist es eine verwirrende Begriffserweiterung? Ich bin nicht ganz sicher. Es führt etwas ins Vage. Aber mir scheint doch ein Merkmal aus dem Ursprungsphänomen des Fundamentalismus signifikant zu sein. Es ist nämlich nicht nur die Besinnung auf die Grundlagen der eigenen Tradition - das waren die five fundamentals, an die fundamentalists glauben mussten, gerade nicht, nämlich: die wörtliche Richtigkeit der Heiligen Schrift, die Erlösung durch das Blut Christi, die Jungfrauengeburt, die leibliche Auferstehung und die leibliche Wiederkunft Christi. Es wurde also nicht gefragt nach den wirklichen Grundlagen, z.B.: Glaubt ihr an die Trinität oder an Gottes Menschwerdung oder glaubt ihr wirklich an eine Auferstehungshoffnung? Sondern glaubt ihr an diesen Punkt, wo ihr euch unterscheiden müsst von den Liberalen? Es dominierte also der Wunsch, sich abzugrenzen, sich einzudämmen in einer bestimmten exklusivistischen Glaubenshaltung. Von diesem Ursprung her kann ich mir denken, dass es doch sinnvoll ist, den Begriff Fundamentalismus so zu erweitern, weil es bei anderen Fundamentalisten - bei den grünen Fundis oder anderen Fundis, genau um das gleiche geht: den Punkt zu finden, wo man durch Abgrenzung Freund oder Feind klar erkennt. Darum scheint mir in diesem Fall die Begriffserweiterung auch für die Gegenwartsanalyse etwas herzugeben.

von Brück:

Da sind wir bei dem Punkt, wo wir angefangen haben, nämlich bei der Frage: Wie finde ich Identität? Durch harte Abgrenzung, die natürlich historisch nicht gerechtfertigt, sondern politisch motiviert ist? Ist das die einzige Möglichkeit, Identität zu finden? Und gerade in unserer Situation? Gäbe es eine Pädagogik, die vielleicht diesen fast unausrottbaren Drang zumindest etwas neutralisieren könnte?

v. Strietencron:

Ich denke, mit dieser Rückkehr an den Anfang sind wir auch mit unserem Gespräch zu einem vorläufigen Ende gekommen. Noch sind wir manchmal an der Oberfläche geblieben, den spannungsreichsten Fragenkomplexen vorsichtig ausgewichen, um nicht gleich in Oppositionen zu denen zu geraten, die den Dialog blockieren. Die Wahrheitsfrage, die Frage nach der Humanität, die Frage nach den Menschenrechten - sie alle müssen wieder aufgegriffen werden. Dabei ist auch die Infragestellung sowohl der eigenen Positionen als auch derjenigen der Dialogpartner noch nicht ganz vom Tisch. Und sofern an den Positionen, Glaubensgewissheiten, Dogmen und den Lebensgewohnheiten auch die Identität hängt, sind hier Konflikte zu erwarten, Streit im konstruktiven Sinne, bei dem man bereit ist, sich den besseren Argumenten zu beugen. So jedenfalls war der platonische Dialog konzipiert. In ihm ging es um die Überwindung vorgefasster Meinungen und um das Entstehen neuer Einsichten durch gemeinsame Überlegungen im Dialog. Lassen sich die Religionen heute schon auf solches Risiko ein? Ich fürchte: nein. Eher nutzen sie die Anerkennung der Pluralität als rettenden Anker zur Stabilisierung der im Wandel der Neuzeit gefährdeten eigenen Identität. Man kann das je nach Temperament positiv oder negativ beurteilen, beides mit dem gleichen Argument: der Konfliktvermeidung.

Man arrangiert sich in einem föderativen, polytheistischen System und gibt dem Gespräch eine Chance. Vielleicht gelingt es auf dem Wege des Dialogs wenigstens, in festgefahrene Vorurteile Breschen zu schlagen und eine Basis für ein offeneres Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen zu schaffen.

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