Der Islam im Dialog

Der Islam im Dialog - Aufsätze

Prof. Abdoldjavad Falaturi

Inhaltsverzeichnis

Resümee und neue Vorschläge zur Lage der Muslime heute, aber ganz besonders der Muslime in Europa

Dafür wähle ich einen extremen Fall, nämlich die Situation der Muslime in Europa. Die Trennung zwischen der Kultur im jeweiligen europäischen Land und dem Islam ist am deutlichsten und die Diskrepanz zwischen der jüngeren Generation und ihren Eltern noch größer. Die christlich—abendländische, ja sogar atheistische Kultur in der die jüngere Generation der Muslime ihre Persönlichkeit bildet, hat keinen Bezug zum Islam und überhaupt wenig Verbindung zur Religiosität. Umgekehrt hat auch der Islam, den die Emigranten aus den orientalischen Ländern mitgebracht haben, keinen Zugang zu der jeweiligen Kultur der europäischen Länder. Dem Islam fehlt hier eine entsprechende Kultur als Basis, die in allen materiellen Lebensbereichen die islamischen, ja sogar die religiösen Aspekte repräsentiert.

Der Islam kann auch nicht mit all seinen kulturspezifischen - arabischen, persischen, türkischen, pakistanischen, afrikanischen, indischen, indonesischen usw. Ausformungen eine neue kulturelle Heimat in der abendländischen Kultur gewinnen. Er kann nicht in seiner orientalisch geprägten Gestalt die abendländische Kultur prägen und in gleicher Weise von dieser Kultur getragen werden. Das Problem liegt in dieser Realität begründet und nicht im Islam selbst, wie ihn der Koran verkündet hat. Kehren wir zum Koran selbst und zu den Prinzipien zurück, die ihm seine zeit- und raumübergreifende Gültigkeit garantiert haben, so erhalten wir eine ganz andere Perspektive, die durchaus einen neuen Beginn in Sicht stellt.

Es sind wie oben erwähnt:

1. Die Geschichtlichkeit des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft;

2. Situationsbezogenheit des menschlichen Lebens und dessen Wandel;

3. Die zentrale Bedeutung der Menschen und seine materiellen und geistigen Belange für die Offenbarung;

4. Die Verknüpfung der zeit - und raumunabhängigen Werte mit dem sich im Fluss befindlichen menschlichen Gesellschaften und menschlichen Bedürfnissen.

Betrachten wir von diesen Prinzipien ausgehend die islamische Geschichte daraufhin, wo, wann, wie und von wem diese - bislang noch nicht genau formulierten Prinzipien - gewirkt haben, so finden wir genug authentische Belege dafür, die uns inhaltlich und geschichtlich eine Garantie für die Richtigkeit des Weges geben:

Es ist die Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen, die Zeit der Entstehung der Schulen, die zeitgemäße Entwicklung dieser Schulen, die aus dem Koran und der Sunna herausgefundenen Prinzipien, die seitens der Vertreter all dieser Schulen artikuliert worden sind, wozu noch Versuche einzelner Gelehrter kommen, die darauf bedacht waren, auf die Herausforderung ihrer Zeit und ihres Raumes Antwort zu finden, usw. Dabei haben bestimmte Gestalten aus der Geschichte, wie z.B. Imam as-Satibi, Ibn Valdun und dergleichen eine besondere Bedeutung dadurch, dass sie am Koran und an dem Islam festhalten, sie haben den Wandel der Gesellschaft als das wichtigste Moment für den Erhalt der Religiosität der Menschen entdeckt.

Wir sind aber auch hier und heute daran gehalten, aufgrund der koranischen Führung, analog zu den Leistungen, ja zu den authentischen Leistungen unserer Vorfahren, der heutigen Herausforderung gerecht zu werden. Ich nehme die Herausforderung der heutigen Weltgemeinschaft - betone Weltgemeinschaft und nicht einzelne Gemeinschaften an. Wir müssen entsprechend dieser Herausforderung aus dem Koran und der wissenschaftlich gesicherten Sunna Prinzipien ableiten und diese als Prinzipien der Rechtsentscheidung, d.h. mit praktischen Wirkungen aufstellen können. Wir können und müssen heute z. B. das Prinzip der rahmah, das uns der Koran mehr als 700mal auferlegt und das, das Wesen des Islam als Religion der Barmherzigkeit bestimmt hat, als oberstes Prinzip unseres Denkens, Handelns, unserer juristischen Gesellschaft und gesellschaftlichen Entscheidungen in den Vordergrund stellen. Dieses Prinzip kann mit anderen Prinzipien z. B. mit dem Prinzip der absoluten Gleichheit der Menschen vor Gott, einen großen Teil der heutigen Probleme der menschlichen Gemeinschaft, adäquat zu den humanen Prinzipien wie Menschenrechte und dergleichen, beantworten. Voraussetzung dafür ist, dass man diese Prinzipien nicht nur als Besonderheiten des Islam vorträgt; diese müssen viel mehr als Prinzipien einer neuen Rechtsentscheidung fungieren können. Damit bekommen wir einen weiteren Horizont, um die Errungenschaften der Rechtsschulen von neuem zu interpretieren und einen größeren Anwendungsbereich dabei zu sichern, z. B: die Prinzipien von 3Urf (alle Rechtsschulen), Maslaha (malikitische Schule), Qiyas (hanafitische und pafi’itische Schule), Hermeneutik (hanbalitische Schule - ganz besonders Ibn Taymiya und Ibn jausi) die Vernunft und ihtiyax - Methode (die imamitische Schule) um nur einige Beispiele zu nennen.

Damit werden auch die Bemühungen der zeitgenössischen Muslime, mit der gegenwärtigen Krise fertig zu werden, in ein neues Licht gerückt. All diese Fakten setzen eine intensive wissenschaftliche Arbeit, nämlich eine historisch kritische Untersuchung der islamischen Tradition und geistlichen Errungenschaften voraus, d. h. eine kritische Untersuchung aus der Sicht der Muslime selbst und zwar aufgrund der Herausforderung, die, die zeit- und raumunabhängigen islamischen Werte einerseits und die zeitbedingten Erscheinungen dieser Werte innerhalb der islamischen Geistesgeschichte andererseits, bieten. Eine solche Untersuchung gibt uns die Möglichkeit, in Hinblick auf die heutige Weltgemeinschaft, die zentralen Begriffe neu zu definieren. Erneut muss z.B. der Mensch, die Gemeinschaft (umma), die Welt und ihre Beziehung zu Gott definiert werden.

Damit wird den Muslimen die Möglichkeit gegeben, den Herausforderungen der Weltkultur gerecht zu werden und ihrerseits diese Weltkultur im Interesse der Menschheit mit zu prägen, wie dies koranisch gesehen von allen Menschen verlangt wird, durch den Begriff ‘Amanah. Somit können die Muslime aus der bisherigen Defensive herauskommen und sich positiv an der Verantwortung für die Menschen und für die Welt beteiligen.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es uns sehr schwer fällt, diese Aufgabe allen Muslimen in der ganzen Welt plausibel zu machen, es fehlt vielerorts die Voraussetzung dafür. Die Muslime in Europa hingegen können das am besten begreifen und nachempfinden und dieser Verantwortung, die heute auf sie zukommt, eine positive Antwort erteilen. Gelingt ihnen das, so werden sie mit der Zeit als Vorbild für einen neuen gangbaren Weg auch in den islamischen Ländern ihre Wirkung haben.

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