Toleranz im Islam
Ich werde diesen Vortrag nicht als Muslim halten wollen,
d.h. ich beabsichtige nicht ein Glaubensbekenntnis abzulegen,
sondern ich möchte, in Anbetracht unseres Themas, wie ein
außenstehender Beobachter, den Koran und andere Quellen des
Islam in Betracht ziehen und darüber reflektieren.
Dies u.a. deshalb, weil erfreulicherweise eine Reihe von
nichtislamischen, vor allem christlichen Zuhörern hier zu Gast
sind, denen, wie auch anderen Christen, nur eine sachliche
Behandlung dieses schwierigen Themas dienlich sein kann.
Wenn man hier im christlichen Abendland von „Toleranz im
Islam" redet, so assoziiert das Wort Toleranz in der Regel -
wie es auch häufig in Schulbüchern der Fall ist - die Frage
nach der Gewalt im Islam.
Sagt man: Der Islam ist tolerant, so hat man mit folgenden
Fragen zu rechnen: Was waren dann die Kriege, sogar heilige
Kriege? Warum haben denn die Muslime Gewalt angewendet? Warum
hat man versucht, die anderen gewaltsam zu bekehren?... In der
Tat sind mit dem Thema „Toleranz im Islam" sehr viele Begriffe
verbunden, die ihrerseits einen Komplex ausmachen, dessen
Analyse unumgänglich ist. Ich versuche, mich hier auf das
Notwendige zu beschränken.
Nach dieser Einleitung möchte ich nun - soweit es möglich
ist, Toleranz im Islam zunächst im religiös-theologischen
Sinn, dann im gesellschaftlichen und schließlich im
historischen Sinn bis in die Gegenwart hinein ansprechen.
Der Begriff „Toleranz" ist, wie wir wissen, in der
abendländischen Tradition kein sehr alter Begriff. Er ist ein
Produkt der Aufklärungszeit; vorher hatte man in der
abendländischen Tradition keinen Grund, mit dem Begriff
Toleranz zu arbeiten oder daran zu denken.
Sie kennen den Anwendungsbereich dieses Begriffes bei
Lessing, Goethe und vielen anderen Wissenschaftlern der
damaligen Zeit, und zwar nicht nur hier, sondern auch in
England, Frankreich und überall in Europa: Die Verfechter
dieser neuen Bewegung „Aufklärung" gingen dahin, die Grenzen
zwischen den Ideologien - sofern sie ein friedliches
Zusammenleben verhinderten, niederzureißen. Diese Aufklärung
ist eine spätere Reaktion auf die Auseinandersetzungen
zwischen Muslimen, Juden und Christen, die mit den Kreuzzügen
begonnen hatten.
Die schrecklichen Folgen der Kreuzzüge haben, sowohl bei
den Christen als auch bei den Muslimen, einiges erschwert und
die Menschen voneinander getrennt. Am meisten wurde diese
Trennung zwischen den Bewohnern Europas durch die Religionen
praktiziert. Diese hat die Menschen im Grunde dazu bewogen,
sich schon vor der Aufklärungszeit mit fremden Religionen zu
beschäftigen und womöglich das Positive dieser Religionen
herauszustellen, bzw. dies als Brücke zur Verständigung zu
benutzen.
Namhafte Theologien wie Nicolaus Cusanus (1401 - 1464) -
wohl der größte Mann seiner Zeit - beschäftigten sich intensiv
mit dem Koran, d. h. mit der damaligen Übersetzung des Koran,
und zwar unter dem Motto: Durch die Kriege hat man nichts
erreicht, es gilt nun auf friedlichem Wege mit anderen
Religionen ins Gespräch zu kommen.
Dies und ähnliche Vorarbeiten haben - obwohl sie von
Missionsgedanken getragen waren - nach und nach den Weg für
die Frage nach dem Sinn bzw. Unsinn religiöser Kämpfe geebnet,
obwohl jede Religion für sich beansprucht allen Menschen
Freude, Frieden und Freiheit zu bringen. Darauf hat die
Aufklärungszeit im 17. und 18. Jahrhundert in Europa
intensiver denn je aufgebaut. Ich möchte hier einige der
Früchte jener Zeit demonstrieren:
Es handelt sich um die Habilitationsurkunde des Philosophen
Immanuel Kant, die ich in meinem Werk „Islam im Dialog"
veröffentlicht habe. Diese fängt mit dem Koranvers:
„Bismillahi-r-rahmani-r-rahim" (Im Namen Gottes des
Allerbarmers des Barmherzigen) an. Innerhalb der Universität
Königsberg muss damals die Idee, die übliche lateinische Form
„In nomine dei" durch die islamische Bismillah zu ersetzen,
einige Fürsprecher gehabt haben, sonst hätte der Dekan sich
dieses außergewöhnliche Vorgehen gar nicht erlauben können!
Ich habe diese Punkte in meiner Einleitung erwähnt, um
Ihnen einen Zugang zu der Atmosphäre und der Umwelt, in der,
der Begriff Toleranz entstanden ist, zu verschaffen.
Ein weiteres konkretes Beispiel hierfür ist Lessings
„Nathan der Weise" und die Ringparabel. Dies alles waren
jedoch Versuche, die sich auf kultureller Ebene abspielten und
nicht bis in die Kirche vorgedrungen sind. Im Gegenteil, die
Träger dieser Idee waren Kirchenkritiker, die der Kirche
gegenüber einen anderen Weg einschlagen wollten. Das ist ihnen
auch gelungen. Mit dieser Einleitung möchte ich Sie auf die
folgende Frage vorbereiten: Wenn der Begriff Toleranz ein
späteres Produkt der abendländischen Kulturentwicklung ist,
wie können wir dann nach Toleranz im Islam fragen?
Der Begriff Toleranz war gar nicht im Islam vorhanden:
Koran und Sunna haben ihn mit keinem Wort zum Ausdruck
gebracht. Wenn wir diesen Begriff z.B. mit Tasamuh oder
Tasahul usw. übersetzen, so haben wir heute einen Ausdruck
gebraucht den weder die islamischen Quellen noch die
islamische Geschichte kennt. Wie soll nun das Problem gelöst
werden?
Fragt man die Muslime nach der Toleranz im Islam, so werden
sie allesamt stolz antworten: „Selbstverständlich ist der
Islam tolerant und der Beweis dafür lautet: „la ‘ikraha fi
d-din", Koran, 2, 256 (es gibt keinen Zwang in der Religion).
Jeder kann das als Religion wählen, was er will, und das ist
schon mehr als eine einfache Toleranz.
Sicher ist es einfach, sich den Angehörigen anderer
Glaubens- und Denkrichtungen gegenüber großzügig und tolerant
zu verhalten, solange man sich aber nicht mit einem Glauben
und einer Überzeugung stark identifiziert. Schwierig wird es
jedoch - diese Schwierigkeit gilt für alle drei
monotheistischen Religionen - wenn man bei der Begegnung mit
den Andersgläubigen von den eigenen als von einer absoluten
Wahrheit ausgeht. Was bedeutet in diesem Falle Toleranz: In
welchem Sinne können wir also in diesem Rahmen von einer
Toleranz sprechen? Toleranz - nicht als Begriff und auch nicht
als Phänomen - ist keine kulturelle Erscheinung und keine
besondere humanistisch deklarierte Haltung in der islamischen
Welt. Das, was wir unter Toleranz in allen Variationen
verstehen, ist im Islam vielmehr - und das ist das Spezifische
- eine Glaubensüberzeugung; hier liegt der große Unterschied
zwischen der Toleranz, die wir von der abendländischen Kultur
kennen und dem, was der Muslim als Toleranz nachweisen kann:
Das Phänomen Toleranz bildet einen Bestandteil des
Begriffes Islam, wie der Koran ihn versteht. Diese Tatsache
ist jedoch etwas, was kaum selbst den Muslimen in der Weise
wie es hier versucht wird bewusst ist. Im Koran Sure 3, Vers
19 heißt es: „Inna-d-din 3inda llahi-l-‘islam, die Religion
bei Gott ist der Islam." Viele denken, dass das Wort Islam
sich unbedingt auf den Propheten Muhammad beziehe, der Koran
selbst aber zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Er hat eine
ganz andere Vorstellung vom Islam, als man sich hier zu Lande
vorstellt. Nach dem Koran gibt es nur eine einzige Möglichkeit
von der Religion und von der religiösen Haltung, sofern diese
gottbezogen ist.
Die Religion stellt, religionsphänomenologisch gesehen, die
Beziehung zwischen dem Menschen und einer unantastbaren
heiligen Macht her. Was heißt das? Damit will man auch
diejenigen Religionen erfassen, die keine Verbindung zwischen
dem Menschen und Gott als Zentrum des Glaubens kennen, obwohl
sie an irgendeine unbeschreibbare Größe festhalten, worauf
sich der Mensch um seiner seelischen Läuterung willen, strebt.
Der Islam geht davon aus, dass diese heilige unbeschreibbare
Größe, zu der, der Mensch eine religiöse Beziehung pflegen
kann, nur Gott, also nur der einzige Gott ist.
Gott - deutlicher gesagt, der Schöpfergott (damit wir hier
alle drei monotheistischen Religionen erfassen) ist also der
einzige Mittelpunkt, zu dem der Mensch seine religiösen
Gefühle richten kann. Diese kann nun konsequenterweise nur
eine einzig Beziehung sein, solange es nur einen einzigen Gott
als Bezugsgröße gibt. Diese einzige mögliche Beziehung zu
Gott, heißt nach dem Koran Islam, dem zur Folge musste der
Koran bestätigen, dass auch die frühen Völker und frühen
Menschen, die an einen einzigen Gott geglaubt haben, Muslime
gewesen sein mussten, dazu steht der Koran folgerichtig.
Es gibt mehrere Belege dafür, dass frühere Völker und ganz
besonders die Juden und Christen alle in diesem Sinne
„Muslime" genannt werden. Das prototype Beispiel für einen
Muslim ist Abraham, der gegen die Vielgötterei gekämpft und
sich für seinen Gottglauben selbst aufopfernd eingesetzt hat:
„Abraham war weder Jude noch Nazarener; vielmehr war er
lauteren Glaubens, ein Muslim, und gehörte nicht zu den
Polytheisten", Koran Sure 3, Vers 67.
Bezüglich des engen Kreises um Jesus heißt es: „und als Ich
(Gott) den Jüngern offenbarte: Glaubt an Mich und Meinen
Gesandten (Jesus)‘. Sie sagten: „Wir glauben. Bezeuge, dass
wir Muslime sind." (Koran Sure 5, Vers 111). Diese Belege
zeigen, dass der Begriff Muslim nicht unbedingt nur einen
bezeichnet, der, der Lehre Muhammads anhängt, sondern dass er
im Gegenteil die ausschließliche Verbindung des Menschen zu
dem einen Gott bezeugt. Demnach kann nach der koranischen
Auffassung nur eine einzige Verbindung möglich sein, und das
ist die Gottausgerichtetheit). Es ist nicht so, dass der Koran
etwa eklektisch vorgeht, d.h. mehrere Religionen herausstellt.
Das ist es nicht. Im Gegenteil: Der Koran geht von der Frage
aus, was eine Religion zu einer Religion macht.
Er präsentiert daher im Gegensatz zu einem Eklektizismus
ein Kriterium, wonach das Wie und Warum einer Religion
bemessen wird. Mit anderen Worten: Hier wird nicht versucht
das, was die Religionen gemeinsam haben, herauszufinden und
dies in seiner Einmaligkeit als Religion zu bezeichnen. Im
Gegenteil, hier wird das, was überall, bei jeder
Erscheinungsform der Religion da sein muss, damit sie eine
Religion sein kann, besonders vor Augen geführt.
Eine solche einmalige Auffassung von der Religion hat
natürlich Konsequenzen, von denen eine das ist, was wir
Toleranz nennen. Maßgeblich für die Haltung des Islam
gegenüber anderen Religionen ist ihr Verhältnis zu Gott. Die
Religionen, in denen die Beziehung zur unantastbarer Macht
existiert (was z.B. beim Polytheismus nicht der Fall ist) - in
welcher Form auch immer - verdienen einen bedingungslosen
Respekt. Dieses respektvolle Umgehen mit ihnen geht über die
einfache Toleranz hinaus, weil hinter diesem Respekt eine
gewisse Identifizierung im Punkte der Gottausgerichtetheit
steht. Aus diesem Grunde zeigt der Koran zwei unterschiedliche
Haltungen, gegenüber den Juden und Christen einerseits und den
Polytheisten andererseits.
Die Polytheisten musste man, sofern sie eine Gefahr für den
Islam, d. h. für diese einzige mögliche Beziehung zu Gott,
darstellen, besonders, wenn sie den Gläubigen mit Angriffen
entgegentraten, abwehren. Es ist aber nicht erlaubt, selbst
Polytheisten anzugreifen, wenn sie keinerlei feindliches
Verhalten zeigen, oder einen Angriff vorbereiten. Wenn man nun
auf Koranstellen stößt, in denen es u.a. heißt: „Tötet sie, wo
ihr sie findet und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben
haben." (Sure 2, Vers 191), muss man aber wissen, worauf sich
diese Stelle bezieht. Es handelt sich um keinen Imperativ, um
keinen Befehl für die Muslime und für alle Zeiten. Diese
Stelle bezieht sich nachweisbar ganz konkret auf die Mekkaner,
die, die Muslime kriegerisch angriffen und sich danach ins
heilige Gebiet zurückzogen, um Gegenangriffen zu entkommen.
Nicht einmal durfte gegen die Polytheisten, nur weil sie
Polytheisten waren, also wegen ihres Glaubens, Kriege geführt
werden. Sie sollten nur als angreifende Feinde abgewehrt
werden. Deswegen heißt es im Koran zu der eben zitierten
Stelle: „Aber begeht keine Übertretung. Gott liebt die nicht,
die Übertretungen begehen." (Sure 2, Vers 190) Ferner heißt
es: „Und wenn sie (die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann
neige dich ihm zu." Anders steht der Koran zu Juden und
Christen. Es ist nicht die Idee der Toleranz, sondern die Idee
des Islam, die Idee der allgemeinen Gottausgerichtetheit, die
der Koran im Juden und im Christen findet und diese zur
Gemeinsamkeit auffordert. In einer früheren mekkanischen Sure
(Sure 29, Vers 46) heißt es: „Und sagt: (angesprochen sind
Muhammad und seine Gefährten, sie sollen zu den
Schriftbesitzern sagen:) Wir glauben an das, was als
Offenbarung zu uns und was zu euch (Juden und Christen)
herabgesandt worden ist. Unser Gott und Euer Gott ist Einer.
Ihm sind wir also ergeben (muslimun)." D.h. wir sind diesem
Gott gegenüber muslimun, und ihr seid es genauso.
In diesem Sinne heißt es an einer anderen Stelle:
„Ihr Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort des
Ausgleichs zwischen uns und euch, dass wir Gott allein dienen
und ihm nichts beigesellen" (Sure 3, Vers 64). Ganz eindeutig
werden die Juden und Christen auf Grund der Tatsache: „Unser
und Euer Gott ist Einer" als Partner anerkannt; eine Tatsache
nämlich, die das Zentrum des Glaubens und den Inhalt vom
„Islam" ausmacht, weswegen dann der Appell, dass wir Gott
allein dienen und ihm nichts beigesellen, ausgesprochen wird.
Wir sehen also, dass das Phänomen, das wir hier im
christlichen Abendland Toleranz nennen, nach der Auffassung
des Korans in dem Begriff „Religion" und in dem Phänomen Islam
verwurzelt ist und ein Bestandteil des islamischen Glaubens
ausgemacht. Diese Haltung ist keine empfohlene moralische
Haltung, keine kulturbedingte Haltung, sondern sie gehört
einfach zum Glauben an einen einzigen Gott. Dies ist eine
Haltung, die man in sonst keinem anderen Kulturkreis antreffen
kann, weil sonst nirgends „Religion" in dem Sinn, wie der
Koran sie herausstellt, vorkommt, und weil sonst nirgends der
Islam im Sinne eines einmaligen Verhältnisses des Menschen zu
Gott verstanden und zugrunde gelegt wird.
Einen tieferen Einblick in das Wesen der abendländischen
und islamischen Toleranz gewinnen wir, wenn wir die beiden,
entsprechend ihrer jeweiligen Voraussetzungen, miteinander
vergleichen. „Achtung" und „Respekt" vor der Menschheit und
vor der „Würde" des Menschen ist es - wie Kant in allen seinen
moralischen Werken als wichtigsten Dokument der
Aufklärungszeit betont - ‚ die, die Träger des abendländischen
Geistes zu dem uns bekannten Toleranzbegriff geführt hat. Die
eigentliche Grundlage für die islamische Toleranz bilden: der
Glaube an den einzigen Gott, die Gleichheit aller Menschen
immer und überall vor Gott (1) und die einzig mögliche
religiöse Beziehung eines jeden Einzelnen, immer und überall,
zu Gott (Islam) (2).
Die bisher geschilderte koranische Toleranz im Sinne der
Anerkennung der Gottesausgerichtetheit in ihrer religiösen
Haltung galt de facto den Juden und Christen. Maßgebend für
„Toleranz" gegenüber den Polytheisten war der oben genannte
Koranvers (Sure 2, Vers 256) „Es gibt keinen Zwang im Glauben.
Der richtige Weg ist - nun klar erkennbar geworden gegenüber
dem unrichtigen. Der also, der nicht an falsche Götter glaubt,
aber an den einzigen Gott glaubt, hat gewiss den sichersten
Halt ergriffen, bei dem es kein Zerreißen gibt." Toleranz im
Sinne des Leben lassen und Duldens der Polytheisten hat
Muhammad selber durch sein Verhalten demonstriert, als er samt
seiner muslimischen Gefolgschaft im Jahre 628 friedlich die
Stadt Mekka betrat und sie unter seine Herrschaft brachte.
Die Götzenstatuen wurden zwar zerstört, die Polytheisten
als Polytheisten, also als Menschen mit Recht auf die eigene
freie Entscheidung blieben unversehrt. Sie wurden weder
getötet noch zur Übernahme des Islam gezwungen. Nicht einmal
zwangslose Bekehrung der Polytheisten (also ihre
Missionierung) gehörte zu seiner Aufgabe: „Wahrscheinlich, du
Muhammad, kannst dem den Weg weisen den du liebst; Allah aber
weist dem den Weg, dem Er will". Was mit dem „dem Er will"
gemeint ist, wird weiter wie folgt erklärt: „und Er kennt jene
am besten, die, die Führung annehmen" (Sure 28, Vers 56). D.h.
diejenigen werden von Gott rechtgeleitet, die, die
Rechtleitung suchen, sonst gibt es keine willkürliche
Bevorzugung. Muhammad und den Muslimen stand lediglich (das
gilt heute noch) die Aufgabe zu, den Nichtgläubigen den Inhalt
der Lehre darzubieten und sie friedlich zur Annahme zu
bewegen.
Die Art und Weise dieser werdenden Darbietung schildert der
Koran (Sure 16, Vers 125): „Rufe ('Udu3, Imperativ von
da3uwah) zum Weg deines Herren mit Weisheit und schöner
Ermahnung auf, und streite (Jadilhum) mit ihnen auf die beste
Art. Wahrlich, dein Herr weiß am besten, wer von seinem Weg
abgeirrt ist." Dem Muslim steht es nur zu, den
Schriftbesitzern und allen anderen in drei Etappen zu
begegnen: erstens mit Weisheit (bi-l-hikmah)‚ d.h. auf der
Basis der von beiden Gesprächspartnern anerkannten Prinzipien,
Regeln und Werte; zweitens mit schönen Ermahnungen
(bi-l-mau3icati-l-hasanah)‚ d.h. mit den vom Gesprächspartner
angenehm, annehmbar und akzeptabel empfundenen Ermahnungen im
Rahmen seiner ohnehin bestehenden Verbindungen mit Gott;
schließlich und drittens (wenn sich der Gesprächspartner nicht
auf die beiden ersten Schritte einlässt) mit Streitgesprächen,
mit muJadala. MuJadala als eine besondere Argumentationskunst
hat innerhalb der islamischen Tradition in der Logik, in der
spekulativen Theologie (Kalam) und in den juristischen
Streitfragen (vilafiyyat) einen eigenen Stellenwert.
Sie zielt darauf, den Partner auf Grund seiner eigenen
Argumentation (der Form und dem Inhalt nach) von dem
Gegenteiligen zu überzeugen. Dementsprechend hat der Koran mit
den Schriftbesitzern Gespräche geführt, wobei er ihnen, sofern
sie sich nach eigener Religion - die Juden nach der Thora und
die Christen nach dem Evangelium - verhalten haben, hohes
Ansehen gezollt hat. Die Christen gehörten sogar zu der Gruppe
von Zakatempfängern (Sure 9, Vers 60). Eine der acht Gruppen
von Zakat-Empfängern ist „al-mu‘allafat qulubuhum"‚ d.h. „die,
deren Herzen gewonnen werden sollen."
Gemeint sind die Christen aus NaJran, die sonst in der
Gunst des Propheten und der Muslime standen. Entscheidend für
die damalige Zeit und die Folgezeit sind die
gesellschaftlichen Folgen der koranischen Toleranz den Juden
und Christen gegenüber. Dreiundzwanzig Jahre friedliche und
unfriedliche Beziehungen und Auseinandersetzungen mit den
Juden und Christen voraussetzend, regeln in einer tribalen
Gesellschaft, abschließend die zuallerletzt offenbarten
Koranverse, die wichtigsten gesellschaftlichen Beziehungen der
Muslime zu den Juden und den Christen, d.h. die
Tischgemeinschaft und Vermählung mit ihnen. Zunächst wird die
Vollendung der Offenbarung verkündet (Sure 5, Vers 3): „Heute
habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und meine Gnade an
euch vollendet, und ich habe daran Gefallen, dass der Islam
eure Religion ist."
Dann heißt es (Sure 5, Vers 5): „Heute sind euch die
köstlichen Dinge erlaubt. Die Speise derer, denen das Buch
zugekommen ist; ist euch erlaubt, und eure Speise ist ihnen
erlaubt. Erlaubt sind auch die unter Schutz gestellten
gläubigen Frauen und die unter Schutz gestellten Frauen aus
den Reihen derer, denen vor euch das Buch zugekommen ist, wenn
ihr ihnen ihren Lohn zukommen laßt und mit ihnen in der
Absicht lebt, (sie) unter Schutz zu stellen, nicht Unzucht zu
treiben und sie nicht als heimliche Konkubinen zu nehmen. Und
wer den Glauben leugnet, dessen Werk ist wertlos, und im
Jenseits gehört er zu den Verlierern."
Wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass in einer
tribalen und Großfamiliengemeinschaft sich die
Tischgemeinschaft nicht nur zwischen zwei Personen, sondern
zwischen zwei Großfamilien, ja sogar (vor allem in der Ehe)
zwischen zwei Stämmen abspielte, so kann man keinen Zweifel
daran hegen, dass diese Koranverse die Realität, d. h. das
bestehende Zusammenleben der Muslime mit Juden und Christen
als Juden und Christen akzeptieren und sie alle zu einem
Zueinanderkommen motivieren: Nicht nebeneinander, sondern
miteinander zu leben. Selbstverständlich ist diese
Aufforderung nur dort machbar, wo das gleiche Interesse und
die gleiche Anerkennung seitens der Juden und Christen den
Muslimen gegenüber bestehen.
Dass die koranische Toleranz von den Gefährten des
Propheten sehr ernst genommen wurde, zeigt der Vertrag, den
der zweite mächtige Kalif Omar mit den christlichen
Palästinensern und auch mit den ägyptischen Christen in
Alexandria abschloss. Die wichtigsten Passagen, die ich hier,
interessanterweise, sogar aus einem Schulbuch zitiere, lauten:
„Im Namen Allahs des Allerbarmers des Barmherzigen. „Dieser
Vertrag gilt für alle christlichen Untertanen, Priester,
Mönche und Nonnen. Er garantiert ihnen Schutz, wo immer sie
sich befinden. Derselbe Schutz wird der christlichen Kirche,
ihren Häuptern und Pilgerstätten zugesichert, ebenso denen,
die diese Stätten aufsuchen, Pilgern nach Palästina und all
denjenigen, die den Propheten Jesus anerkennen."
Diese alle verdienen Rücksichtnahme, die sie zuvor durch
eine Urkunde des Propheten Muhammad geehrt worden sind: „Er
hat unter ihn sein Siegel gesetzt und uns nachdrücklich
befohlen, gütig zu ihnen zu sein." Diese Art Toleranz hat sich
natürlich nicht immer in der Geschichte fortgesetzt. Eine
Zeitlang fanden die Eroberungen im Sinne der Verteidigung oder
Vorbeugung statt, aber sehr schnell haben die Eroberungen eine
andere Form angenommen - nämlich die, eines reinen
Herrschaftskrieges.
Es ist heute für uns wichtig, diese beiden Arten von
bereits stattgefundenen Kriegen auseinander zu halten. Aber
selbst dort, wo die Kämpfe unter dem Vorzeichen der reinen
Herrschaftssucht geführt wurden, genossen die Juden und
Christen als Minderheit innerhalb der islamischen Gemeinschaft
zumindest die Freiheit, als Jude und Christ ihrem Glauben
nachzugeben und dem entsprechen zu leben.
Wäre das nicht der Fall gewesen, so gäbe es heute in den
islamischen Territorien keine Juden und Christen, wie dies
einst im christliche Abendland der Fall gewesen ist. Auf alle
Fälle muss ich zugeben, dass die koranische Toleranz selten in
ihrer Tiefe erkannt und praktiziert wurde.
Am schlimmsten ist - und das geht an die Adresse der
Muslime selbst - die Intoleranz unter der Muslimen selbst. Die
Geschichte zeigt, dass es leider mehr schreckliche Kriege
unter den Muslimen gegeneinander gegeben hat als gegen
Andersgläubige. Genauso verhält es sich auch mit den Christen:
Auch die christliche Welt hat im Laufe der Jahrhunderte viel
mehr Kriege unter sich geführt als gegen Andersgläubige. Worin
liegt dies begründet? Das kann ich hier nicht erörtern, ich
überlasse es jedem einzelnen von uns.
Ich möchte dennoch einen Appell an die Muslime - besonders
die Muslime hier in Europa - richten: Bitte sorgt dafür, dass
die Zwietracht unter den Muslimen aufhört, beteiligt Euch
nicht- auch nicht gedanklich - an Unternehmungen, die, die
Muslime auseinanderbringen. Lasst Euch nicht von politischen
Auseinandersetzungen der Staats- und Regierungshäupter der
islamischen Länder irreleiten. Das ist nicht im Sinne des
Islam, genauso, wie Intoleranz gegenüber Andersgläubigen nicht
im Sinne des Islam ist.
Fußnoten:
(1) Den Grundstein für das Phänomen Menschenrecht,
Menschenrechtsgedanken und Menschenwürde sind in den
Hauptzügen von folgendem Koranvers abzuleiten:
„0 ihr Menschen, wir haben euch zu Mann und Frau erschaffen
und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander
erkennen möget. Wahrlich, vor Gott ist von euch der
Angesehenste welcher gottesfürchtig ist" (49/13). Es geht um
den von Gott erschaffenen Menschen. Es gibt keinen Grund
dafür, dass der eine mehr Wert, Würde und Rechte hat als der
Andere, weil er diesem oder jenem Volk, dieser oder jener
Rasse, dieser oder jener sozialen Schicht angehört.
Das einzige, was einem Menschen mehr Würde als dem anderen
- allerdings nicht in Vergleich zueinander - sondern nur vor
Gott verleihen kann, ist die Frömmigkeit, d.h. die intensive
Beziehung zu Gott, d.h. eine Intensität in der islamischen
Haltung.
(2) Auch dafür liefert der Koran einen eindeutigen Beleg:
„Und in jedem Volk erweckten wir einen Gesandten (mit dem
Auftrag): „Dient dem einzigen Gott und nicht den Götzen"
(16/36).
Das ist eine exakte Folge der koranischen Vorstellung von
„Religion", die immer und überall die gleiche Beziehung zu dem
einzigen Gott sein kann.