Dreißigstes Kapitel - Hadschi spielt sich als Doktor auf
Sobald Seneb verschwand, setzte ich mich auf dem Flecke
nieder, wo wir vorher gestanden hatten, und versank in
tiefstes Nachdenken. »Also diese Mandel hatte zwei Kerne,«
sagte ich mir. »Gut! Wenn aber solche Dinge in der Welt
vorkommen können, war ja alles, was mich seit zwei Monaten
erfüllte, nichts weiter als ein törichter Traum? Ach! – war
ich mir doch wie Medschnun, sie mir wie Leila erschienen,
hatte ich doch geglaubt, daß wir beide ebensolange, als Sonne
und Mond in ihren Bahnen kreisen, in unwandelbarer Zuneigung
dahinschmelzen und unsre Herzen wie Kebab an unserer
Liebesglut rösten würden! Zweifelsohne hatte man mich zum
Narren gehabt! Der Schah erschien, schaute sie an, sagte zwei
Worte, alles war vorüber: Hadschi ward im nächsten Augenblicke
vergessen – und Seneb stolzierte mit einem königlichen Lächeln
von dannen.«
Nach einer fieberhaft verbrachten Nacht erhob ich mich
recht früh, voll von neuen Plänen, von meinem Lager. Ich
beschloß, um meinen Gedanken recht ungestört nachhängen zu
können, einen Spaziergang außerhalb der Stadt zu machen.
Gerade als ich das Haus verließ, begegnete ich Seneb, die, von
zahlreicher Dienerschaft umgeben, die ihr den Weg freimachte,
auf einem reichgeschmückten Pferde saß, das ein Eunuche am
Zügel führte. Ich hoffte, sie würde bei meinem Anblicke
wenigstens einen Zipfel ihres Schleiers lüften –, aber nein;
als sie sich nicht einmal aus ihrer kerzengeraden Haltung im
Sattel rührte, ging ich, mehr denn je entschlossen jede
Erinnerung an sie von mir zu weisen, meiner Wege. Doch anstatt
zum Stadttore hinaus zu wandern, folgte ich ihr und befand
mich mit einem Male, ohne es recht bemerkt zu haben, in der
Nähe des königlichen Palastes.
Als ich den großen viereckigen Platz betrat, der sich
unmittelbar vor dem Haupteingange befindet, war dieser dicht
von Reiterei besetzt, die einer Musterung unterzogen wurde;
der Schah, der in dem hochgelegenen Gemache saß, das dem
Haupttore gegenüber liegt, nahm sie persönlich vor. Senebs
Spur hatte ich im Gedränge verloren. Sie und ihr Gefolge
durften es passieren, mich freilich hielten die Wachen zurück.
Bald lenkte das militärische Schauspiel meine Gedanken in
andere Bahnen. Die Truppen, welche inspiziert wurden,
bestanden aus einer Reiterabteilung unter dem Kommando des
Oberexekutors, eines gewissen Namerd Khan, der in goldenen
Gewändern, das emaillierte, in der Sonne glitzernde Ornament
auf dem Kopfe, ein prachtvolles Schlachtroß ritt. Es war das
erstemal, daß ich einer Truppenmusterung beiwohnte. Der
Anblick der Speere und Musketen brachte mir die Zeit, die ich
bei den Turkmenen zugebracht hatte, so lebhaft in Erinnerung,
daß alsbald die Sehnsucht nach einem Berufe körperlicher
Betätigung neu in mir erwachte. Die zur Musterung bestimmte
Truppe hatte auf der einen Seite des Platzes Stellung
genommen. In der Mitte saß der Sekretär des Kriegsministeriums
mit seinen sechs Schreibern, welche die verschiedenen Listen
zu führen hatten. Auch zwei öffentliche Ausrufer waren in
Tätigkeit; einer, der mit lauter Stimme den Namen des Soldaten
schrie, während der andere, sobald der Gerufene besichtigt
war, antwortete: »Hasir!« (hier). Sooft ein Mann gerufen
wurde, löste sich dieser in voller Ausrüstung blitzschnell aus
den geschlossenen Reihen, ritt, so schnell ihn sein Pferd
trug, über den Platz, ohne zu versäumen, den Schah durch eine
tiefe Verbeugung zu grüßen.
Die Erscheinungen dieser Berittenen wirkten höchst
eigenartig verschieden. Einige ritten, wie richtige Rustems,
flott und elegant drauflos, während andre, die sich womöglich
ein Pferd zu dieser Gelegenheit hatten ausleihen müssen,
daherzottelten, als läge schon ein heißer Schlachttag hinter
ihnen. Manche meiner Bekannten befanden sich unter den
Vorbeireitenden, ich jedoch bewunderte vor allem das flotte
Auftreten eines jungen Mannes, der gerade sein Pferd scharf
ausgreifen ließ, als dieses plötzlich durch irgendeinen
unglücklichen Zwischenfall stürzte und seinen Reiter mit aller
Wucht gegen einen in der Mitte der Reitbahn aufgerichteten
Pfahl schleuderte. Der Verletzte wurde aufgehoben und durch
die Menge getragen. Irgend jemand, der meine Zugehörigkeit zum
Doktor des Schahs kannte, forderte mich auf, mich des
Verletzten anzunehmen. Ohne mich auch nur im geringsten ob
meiner Unwissenheit zu bangen, spielte ich mich sofort als
Doktor auf. Den Verunglückten fand ich leblos auf dem Boden
ausgestreckt liegen; alle Umstehenden hatten schon ausgiebig
an ihm herumkuriert. Einer goß ihm im Namen des heiligen
Hussein Wasser in die Kehle; ein andrer blies ihm Rauch in die
Nase, um ihn zum Bewußtsein zu bringen; ein dritter knetete
ihm Körper und Gliedmaßen, um die Blutzirkulation zu fördern.
Sobald ich erschien, wurde mir Platz gemacht und die
verschiedenen Prozeduren eingestellt. Mit feierlichem Ernste
fühlte ich den Puls. Als alle Umstehenden fragend die
Gesichter erhoben und einen entscheidenden Ausspruch
meinerseits zu erwarten schienen, erklärte ich mit großem
Nachdrucke, der Gestürzte sei ein Opfer seines Fatums; jetzt
lägen Tod und Leben miteinander im Streite, wer ihn behalten
dürfe. Auf diese Art (ganz so, wie es der Doktor zu machen
pflegte) hatte ich meine Zuhörer schon auf das Schlimmste
vorbereitet. Ich verordnete nun als erstes Mittel, dem ich
noch manche andre folgen lassen wollte, den Patienten, um zu
ergründen, ob er überhaupt noch am Leben sei, tüchtig zu
schütteln. Wohl niemals wurde eine Verordnung prompter
ausgeführt; denn die Volksmenge schüttelte ihn, bis alle
Gliedmaßen verrenkt waren, doch ohne jeden Erfolg. Gerade als
ich wieder etwas verordnen wollte, drang der Ruf durch die
Menge »Rah beben« (macht Platz), und es erschien der
fränkische Doktor, von dessen Geschicklichkeit ich schon
früher einiges berichtete, den sein Gesandter, der Zeuge des
Unfalles gewesen, herschickte und der, noch ehe er den
Patienten zu Gesicht bekam, schrie: »Zapft ihm Blut ab – keine
Minute darf gewartet werden!«
Da fühlte ich mich denn berufen, die Ehre der persischen
Fakultät zu retten und Beweise meines eigenen Wissens zu
geben, indem ich sagte: »Was soll denn diese Verordnung
nützen? Wißt Ihr denn nicht, daß der Tod kalt und das Blut
warm ist und der erste Lehrbegriff der Arzneikunde darin
besteht, warme Mittel gegen kalte Krankheiten anzuwenden? So
hat Bukrad, der Vater aller Ärzte, es vorgeschrieben, und
sicherlich könnt Ihr nicht behaupten, daß dieser Unsinn lehrt.
Entzieht Ihr diesem Körper Blut, so stirbt er ab so, und nun
könnt Ihr hingehen und den Leuten erzählen, daß ich das
behauptet hätte.«
»In diesem Falle«, sagte der fränkische Arzt, der den
Gestürzten einstweilen untersucht hatte, »können wir uns jede
weitere Mühe ersparen; er ist tot –, und ob kalt, ob warm, ist
jetzt ganz einerlei.«
Er verabschiedete sich daraufhin, ich jedoch streckte trotz
meines Bukrad etwas verdutzt die Nase in die Luft. »In diesem
Falle siegte der Tod,« sagte ich. »Den göttlichen Gesetzen
menschliche Weisheit entgegenstellen zu wollen, ist nutzlos.
Ebensowenig als das Wasser eines Aquäduktes die Fluten eines
Stromes zu überwinden vermöchte, ebensowenig vermögen wir
Ärzte gegen das Schicksal auszurichten.«
Ein anwesender Molla befahl, die Füße des Leichnams der
›Kibleh‹ zuzuwenden, die großen Zehen zusammenzubinden,
ein Taschentuch um das Kinn zu schlingen und auf dem Kopfe
zuzubinden. Dann wiederholten die Umstehenden das Bekenntnis
des wahren Glaubens. Als der Leichnam auf die Bahre gelegt
wurde, um zu seiner Familie überführt zu werden, begannen
einige der bereits versammelten Anverwandten die
landesüblichen Totenklagen anzustimmen.
Wie ich erfuhr, war der Verstorbene ein Nessektschi
gewesen, einer jener Offiziere, von denen hundertundfünfzig
dem Oberexekutor beigegeben waren und seinem Befehle
unterstanden. Ihr Amt war es, dem Schah auf seinen Märschen
vorauszureiten, Volksansammlungen zu zerstreuen, die
allgemeine Ordnung aufrecht zu erhalten, die Staatsgefangenen
zu bewachen, sich überhaupt als Polizeioffiziere im ganzen
Lande zu betätigen. Mir leuchtete sofort ein, wie angenehm und
passend es für mich wäre, in die Fußstapfen des Verstorbenen
zu treten, wieviel besser mein Charakter und meine Anlagen für
einen derartigen Beruf paßten, als Mixturen zu brauen und
Kranke zu besuchen. Als ich mir den Kopf zerbrach, wie es
möglich wäre, diese Stellung zu erlangen, fiel mir ein, daß
der Oberexekutor ein großer Freund Mirza Ahmaks sei und diesem
zum größten Danke verpflichtet. Denn erst vor wenigen Tagen
hatte der Doktor vermocht, dem Schah unter Eid zu versichern,
der so streng verbotene Wein sei für sein Wohlergehen
unumgänglich nötig. Daraufhin gab der oberste Gesetzgeber die
Erlaubnis, Wein zu trinken, ein Privilegium, von dem der
Oberexekutor in der unmäßigsten Weise Gebrauch machte. Ich
beschloß darum, den Mirza um seine Fürsprache zu bitten und,
wenn möglich, die Ströme bitteren Wassers, welche die
Schicksalsquelle in den Becher des Verstorbenen gegossen
hatte, für mich in süßesten Scherbett zu wandeln.