Hadschi Baba

Die Abenteuer des Hadschi Baba aus Isfahan

James Morier

Inhaltsverzeichnis

Achtunddreißigstes Kapitel - Ein grauenvolles Erlebnis Hadschis

Einige Tage später ward das Lager abgebrochen, und der Schah kehrte in sein Winterquartier nach Teheran mit der gleichen Feierlichkeit und Pracht zurück, wie er es verlassen hatte. Meine Stellung als Unterleutnant des Großexekutors hatte ich wieder angetreten und war, um strenge Ordnung während des Marsches aufrecht zu erhalten, gerade dabei, den mir unterstellten Leuten einige Weisungen zu geben, als ich den Auftrag erhielt, einen Boten nach Teheran mit dem Befehle zu schicken, die ›Bäsigers‹ (Tänzerinnen sowohl als Sängerinnen) möchten sich in Suleimanijé bereithalten, um den Schah bei seiner Ankunft dort zu empfangen.

Dieser Befehl brachte mir meine längst vergessene Seneb wieder in Erinnerung, und alle zärtlichen Regungen, die infolge meines bewegten Lebens so lange geschlummert hatten, erwachten nun aufs neue. Seit unsrer ersten Begegnung waren sieben Monate verstrichen, und wenn ich auch unterdessen nur mit Männern verkehrt hatte, deren rohe Sitten angetan waren, jede zartere Empfindung in mir zu ertöten, so malte ich mir dennoch ihre jetzige Lage in so entsetzlicher Weise aus, fühlte mich an allem so schuldig, daß mir jedesmal, sooft mir die Sache in den Sinn kam, ein Stich durchs Herz ging. »Ob meine Sorgen begründet sind, wird sich bald zeigen,« dachte ich; »in wenigen Tagen erreichen wir Suleimanijé, wo sich ihr Geschick entscheiden muß.«

Als wir dort ankamen, ritt ich an der Spitze des Zuges voraus, um im Palaste nachzusehen, ob alle Vorbereitungen richtig getroffen wären.

Als ich in die Nähe der Haremsmauern gelangte, hinter denen die ›Bäsigers‹ bereits wohnten, vernahm ich die Klänge von Stimmen und Musikinstrumenten. Was hätte ich nicht darum gegeben, mit Seneb sprechen oder sie wenigstens aus der Ferne beobachten zu können! Aber ich wußte, es wäre unklug gewesen, mich zu eingehend nach ihr zu erkundigen; daraus konnte ein für sie und mich gleich gefahrdrohender Verdacht entstehen, der für uns beide wohl augenblickliches Verderben bedeutet hätte. Mich jetzt über die Sache zu sehr aufzuregen, hatte auch gar keinen Zweck, denn ein Salutschuß der Kamelartillerie verkündete, der Schah sei soeben aus dem Sattel gestiegen.

Nachdem dieser im großen Audienzsaale eine Wasserpfeife geraucht und die Höflinge, die ihm aufgewartet, entlassen hatte, zog er sich in den Harem zurück.

Als ich dort eintrat, vernahm ich Stimmen von Frauen, die, während sie unter Begleitung von Tamburinen, Gitarren und kleinen Trommeln eine Melodie sangen, im Zuge an ihm vorüberschritten. Ich lauschte mit allen Sinnen, um Senebs Stimme zu erkennen, doch das war eitel Mühen. In peinvoll ungewisser Stimmung schwankte ich zwischen Furcht und Hoffnung bis zu dem Augenblicke, wo der Befehl kam, mein früherer Herr, Mirza Ahmak, habe augenblicklich vor dem Schah zu erscheinen. Alle Lebenslagen, die das Tiefste unsres Innern berühren, erzeugen Ideenverbindungen, die mit der Schnelligkeit des Gedankens auftauchen, um uns prophetisch die Zukunft zu enthüllen. Als ich hörte, es sei nach dem Doktor geschickt worden, rann mir ein kalter Schauer durch das Blut, und ich sagte mir: »Nun ist Seneb für immer verloren.«

Der Doktor kam, wurde jedoch rasch entlassen; da er mich an der Haremstür erblickte, nahm er mich beiseite und sagte: »Hadschi, der Schah ist wutentbrannt. Du entsinnst dich wohl der kurdischen Sklavin, die ich ihm am Feste von Nouruz schenkte? Unter dem Vorwande, sie sei krank, erschien sie nicht unter den Tänzerinnen. Er liebt sie und hat sein Herz daran gehängt, sie wiederzusehen. Er ließ mich rufen, damit ich Rechenschaft über ihr Betragen ablege, als ob ich irgendeinen Einfluß auf die Launen dieser Satanstochter hätte, und drohte, so er sie nicht in voller Schönheit und Gesundheit in Teheran vorfände, was in der nächsten glückverheißenden Stunde der Fall sein kann, würde er mir den Bart samt den Wurzeln ausreißen lassen. Verflucht sei der unselige Augenblick, in dem sie meine Sklavin wurde, und noch mehr die Stunde, wo ich den Schah in mein Haus zu Gaste lud.«

Daraufhin verließ mich der Doktor, um sofort nach Teheran weiterzureisen, während ich mich in mein Zelt zurückzog, um über das entsetzliche Schicksal, dem das unglückliche Mädchen mit Sicherheit entgegenging, nachzusinnen. Ich versuchte, meine Lebensgeister durch den Gedanken wieder aufzurichten, daß sie vielleicht wirklich krank wäre und deshalb nicht vor dem Schah erscheinen könnte; auch tröstete ich mich mit der Idee, des Doktors Herz ließe sich, wenn er erst den wahren Grund zu meinen Besorgnissen erfahren hätte, vielleicht erweichen, er würde sie allenfalls dadurch schützen können, daß er sie den Augen des Schahs entrückte und ihr Fernbleiben durch nichtige Vorwände erklärte. Und schließlich deklamierte ich, meinen Gefühlen zum Hohne, die Verse eines unsrer Dichter, der gleich mir seine Geliebte verloren hatte:

Gibt es denn nur ein Paar Rehaugen?

Nur eine Zypressengestalt?

Nur ein Gesicht so rund wie der Mond?

Soll ich den Verlust meiner Grausamen so tief betrauern?

Warum soll ich verbrennen, mich selbst verwunden

Und unter den Fenstern meiner Zauberin Seufzer aushauchen,

Für die sie kein Ohr hat?

Nein, laßt mich lieben, wo Liebe wohlfeil ist,

Denn meine Gefühle will ich nicht verschwenden.

In dieser Weise versuchte ich, die Dinge auf die leichte Achsel zu nehmen; durch meine Frauenverachtung jedoch wollte ich beweisen; ich sei ein echter Muselmann. Aber wohin ich mich wandte, wohin immer auch ich gehen mochte, schwebte mir Seneb als zerrissener, verstümmelter Leichnam vor Augen, eine Vorstellung, die mich zu jeder Stunde des Tages und der Nacht verfolgte.

Endlich wurde die glückbringende Stunde für die Ankunft des Schahs verkündet, und er betrat Teheran inmitten seines ganzen Volkes, das vor die Tore gezogen war, um seine Ankunft zu begrüßen. Mein sehnlichster Wunsch war es, den Doktor, aber nur wie durch Zufall, zu sprechen, damit, sollte Seneb schuldig befunden werden, kein Verdacht auf mich fiele. Am gleichen Abende unsrer Ankunft sollte mein verhängnisvoller Wunsch nur zu rasch erfüllt werden. Als ich gerade beschäftigt war, einem der Nessektschis einige Befehle zu erteilen, sah ich den Doktor tief bekümmert aus den inneren Gemächern des Schahs kommen, eine Hand im Gürtel, die andre in die Seite gestemmt, den Rücken mehr als sonst gebeugt, die Augen zu Boden gesenkt. Ich trat ihm in den Weg und bot ihm den Friedensgruß, was ihn veranlaßte aufzusehen.

Als er mich erkannte, blieb er stehen und sagte: »Gerade du bist es, den ich suche! Komm näher,« flüsterte er und nahm mich beiseite. »Eine ganz seltsame Geschichte ist hier im Umlauf. Diese Kurdin hat alles denkbare Mißgeschick über mein Haupt gebracht. Wallah! Beim Himmel, der Schah ist rein verrückt geworden; er spricht davon, in einem allgemeinen Blutbade alles, was männlich ist in und außer seinem Harem, von den Wesiren angefangen bis zu den Eunuchen, niedermachen zu lassen, und schwor mir bei seinem Barte, falls es mir nicht gelingen sollte, den Schuldigen ausfindig zu machen, an mir das erste Exempel statuieren zu wollen.«

»Welchen Schuldigen?« fragte ich. »Was ist denn eigentlich vorgefallen?«

»Nun Seneb!« antwortete er, »Seneb!«

»Oh,« sagte ich, »jetzt verstehe ich, es ist jene, die Ihr so liebtet?«

»Ich?!« rief der Hakim ganz entsetzt, man könnte ihn im Verdachte haben. »Ich?! Istaghfirullah! (Gott behüte!) Um des Himmels willen, sage so was nicht wieder, Hadschi; wenn dem Schah eine solche Verdächtigung nur angedeutet würde, so führte er seine Drohung auf der Stelle aus. Wo hast du je gehört, ich liebte Seneb?« – »Ach, damals waren viele Gerüchte, Euch betreffend, im Umlaufe«, sagte ich, »und alle Leute höchlichst erstaunt, daß ein Mann von Eurer Bedeutung, der Lukman seiner Zeit, der persische Galen, sich mit einem so leichtfertigen und gefährlichen Ding wie einem kurdischen Mädchen einlassen konnte! Die stammt ja zweifellos vom Teufel ab, in dessen Fußtapfen zu treten bekanntermaßen Unheil bringen muß; deren Persönlichkeit aber, abgesehn davon, ganz dazu angetan war, Unglück über ein ganzes Reich zu bringen, geschweige wie viel mehr über eine einzelne Familie wie die Eure!«

»Hadschi, du hast recht,« sprach der Doktor, indem er seinen Kopf auf den Schultern hin und her wiegte und sich gleichzeitig mit der rechten Hand auf die Magengrube schlug. »Ach, ich war doch ein rechter Narr, mich je von diesen schwarzen Augen blenden zu lassen! Doch das waren gar keine richtigen Augen, da war Zauberei im Spiele, der Teufel in Person blickte heraus, nicht sie; und wenn Seneb jetzt nicht von ihm besessen ist, will ich mein Lebtag ›Gorumsak‹ heißen. Aber was soll ich eigentlich tun?«

»Wie, soll wohl ich das wissen?« antwortete ich. »Was gedenkt der Schah mit ihr zu tun?«

»Meinetwegen soll sie zur Hölle fahren,« antwortete der Doktor, »in ihres Vaters Reich, und möge sie glücklich reisen! Jetzt heißt es nur auf meine eigene Haut bedacht sein!«

Dann schaute er mich voll Zärtlichkeit an und sagte: »O Hadschi, du weißt, wie innig ich dich immer liebte, ich nahm dich in mein Haus auf, als du ohne Obdach warst, ich verschaffte dir eine gute Stellung, und wenn du in deinem Berufe vorwärts kamst, so war es nur durch mein Zutun. Du mußt zugeben, es gibt noch Dankbarkeit in der Welt, oder es sollte sie geben! Du hättest jetzt eine so schöne Gelegenheit, sie zu beweisen!« Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, spielte er mit meinen Schnurrbartspitzen und sagte: »Errätst du nicht, was ich sagen möchte?«

»Nein,« war meine Antwort, »bis jetzt ist mir die Sache noch gänzlich unverständlich!«

»Wohlan, bekenne mit zwei Worten, du seiest der Schuldige. Ich würde ja durch so ein Geständnis den größten Teil meines Ansehens einbüßen, du aber bist jung und kannst es über dich ergehen lassen, wenn man so eine Geschichte von dir erzählte.«

»Mein Ansehen soll ich verlieren? Und was dann, wenn der Verlust des Lebens daraus erfolgt? Seid Ihr verrückt, Mirza Ahmak, oder nehmt Ihr etwa an, ich sei es? Warum sollte ich sterben müssen? Warum wollt Ihr, daß mein Blut über Euer Haupt komme? Sollte man mich über die Sache befragen, so kann ich nur aussagen, daß ich Euch nicht für schuldig halte, weil Ihr stets zu große Angst vor der Khanum, Eurer Frau, hattet; aber daß ich der Schuldige sein soll, werde ich niemals zugeben.«

Mitten in unserm Gespräche brachte einer der Eunuchen des Schahs eine Meldung, derzufolge sein Vorgesetzter den Befehl erhalten habe, der Unterleutnant des Großexekutors nebst fünf Mann hätten um Mitternacht am Fuße des hohen Turmes nächst dem Haremseingange Wache zu stehen, sollten auch einen ›Tabut‹ (Bahre) mitbringen, um einen Leichnam zur Bestattung zu tragen.

Alles, was ich darauf zu antworten vermochte, war: »Be tscheschm« (bei meinen Augen). Glücklicherweise ging er gleich weg. Mirza Ahmak verließ mich ebenfalls sofort, sonst hätten mich Furcht und Qual, die mich bei dieser Weisung überwältigten, verraten. Alsbald brach mir der kalte Schweiß aus, meine Knie zitterten; sicher wäre ich ohnmächtig geworden, hätte mich nicht die Furcht, in dieser Verfassung im Palast gesehen zu werden, aufrecht erhalten. »Was,« sagte ich mir, »ist es nicht genug, die Ursache ihres Todes zu sein? Muß ich auch noch ihr Henker werden, der Totengräber meines eignen Kindes sein? Muß ich Unseliger ihr die kalten Glieder strecken, wenn sie im Grabe liegt, und mein eignes Lebensblut der Mutter Erde wiedererstatten? O grausames, entsetzliches Schicksal, warum hast du mich dazu auserkoren? Aber könnte ich denn all dem Schrecklichen nicht entfliehen, wäre es nicht besser, mir selbst den Dolch ins Herz zu stoßen? Nein! dies ist einfach mein mir vorgeschriebenes, besiegeltes und beschlossenes Geschick, gegen das ich umsonst kämpfe! Das Werk, das mir aufgetragen, muß ich vollbringen! O Welt, Welt, was bist du? Und wie viel leichter würde man dich kennen, wenn jeder den Schleier wegzöge, der seine eignen Taten deckt, und sich zeigte, wie er wirklich ist!«

Diese Gefühle bedrückten mich so schwer, als lastete der Berg Demawend samt allen seinen Schwefellagern auf meinem Herzen. Mürrisch ging ich an meine Aufgabe und wählte einige meiner Leute aus, die meine Helfer bei dem blutigen Trauerspiele sein sollten. Sie zeigten sich gänzlich teilnahmlos und abgestumpft einem Ereignisse gegenüber, das ihnen nichts Ungewöhnliches bedeutete; war es ihnen doch vollkommen gleichgültig, ob sie als Leichenträger eines Ermordeten Verwendung fanden oder den Mord selbst vollführen mußten.

Der Nachthimmel zeigte sich bewölkt und finster, ganz dem entsetzlichen Vorgange angepaßt, der sich abspielen sollte. Die Sonne war auf eine in diesen Himmelsstrichen ungewöhnliche Weise untergegangen, dicht von blutrot leuchtenden Wolken umrahmt, deren Massen sich im Laufe der Nacht unter unaufhörlichem Donnergetöse über die Gipfel der nahen Elbruskette wälzten. Bisweilen trat der Mond plötzlich aus den dichten Wolkenschichten hervor, um ebenso plötzlich wieder dahinter zu verschwinden und die Erde abermals in feierliches Dunkel zu hüllen. Einsam saß ich im Wachtzimmer des Palastes. Da ertönten vom Wachtturme die lauten Rufe der Leibwachen, die Mitternacht verkündeten; und von den Moscheen klangen die vom Winde getragenen schrillen Rufe der Muezzins, die mich wie eisige Todesschauer durchfuhren und mir so seltsam geisterhaft zuraunten, die Stunde des Mordes sei nahe. Sie waren auch die Todesboten für das arme hilflose Weib. Dies länger anzuhören, war mir so unerträglich, daß ich in verzweifelter Hast bis zur bezeichneten Stelle rannte, wo ich meine Genossen vorfand, die stumpfsinnig und teilnahmlos auf und neben der Bahre saßen, die meine Seneb umschließen und zu ihrer letzten irdischen Ruhestätte bringen sollte. Meine Kraft reichte gerade noch zu der Frage: »Schud?« (Ist es geschehen?), worauf mir die Antwort wurde: »Nä schud« (Es ist noch nicht geschehen). Dem folgte eine entsetzliche Stille. Ach, wie hatte ich gehofft, alles wäre schon vorüber, es würden mir alle Schrecknisse außer dem, den traurigen Zug zum Begräbnisplatze begleiten zu müssen, erspart werden! Aber nein, die Bluttat war noch nicht vollbracht, für mich gab es kein Entrinnen. Im königlichen Palaste, dicht neben den Frauengemächern steht ein achteckiger gegen dreißig Gäz (Ellen) hoher Turm, den man von allen Teilen der Stadt sieht, und auf dessen Höhe sich ein Raum befindet, wo der Schah sich oftmals ausruht, um die frische Luft zu genießen. Der Turm, neben dessen Fundamenten sich das Haupttor des Harems befindet, steht auf unbebautem Grunde. Seine höchste Spitze krönt eine Terrasse (ein Fleck, den ich nimmermehr vergessen werde), die jetzt unsre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Kaum waren wir am Turme angelangt, als mein Blick oben auf der Terrasse drei Gestalten gewahrte, zwei männliche und eine weibliche, deren Umrisse der ab und zu hervortretende Mond mit blassen Strahlen undeutlich und gespenstig beleuchtete. Mit vereinbarter Kraft schienen sie ihr Opfer vorwärts zu zerren, während dieses, auf den Knien liegend, mit allen Anzeichen wildester Verzweiflung hilfesuchend die Hände ausstreckte. Als die Gruppe sich dem Rande der Terrasse näherte, vernahm man ihr gellendes Angstgeschrei, das der Sturm, der den Turm umtoste, in so schauerlich schrille Laute verwandelte, daß sie mir wie das Lachen des Wahnsinns klangen.

Wir verharrten in atemlosem, tödlichem Schweigen; selbst meine fünf rohen Kerle schienen ergriffen zu sein. Hätte man mich damals über meine Empfindungen befragt, so wäre ich unfähig gewesen, sie zu beschreiben; ich war wie versteinert und gab mir trotzdem Rechenschaft von allem, was vorging. Zuletzt erscholl ein durchdringender, gellender Wehschrei bitterster Not, der sich plötzlich in der grausigen Stille verlor. Dem folgte ein schwerer Fall – wir wußten, nun war alles vorüber. Da raffte ich mich auf und stürzte zum Platze hin, wo meine Seneb und ihre Bürde, nun ein zerfetzter, verstümmelter, zuckender Leichnam, lagen. Sie atmete noch, und trotzdem sie schon der Todeskampf verzerrte und das Blut aus ihrem Munde strömte, bewegte sie die Lippen, als ob sie sprechen wollte. Ich konnte nichts verstehen, wenn sie auch Laute von sich gab, die klangen, als sagte sie: »Mein Kind, mein Kind!« Aber vielleicht war es nur mein Fieberwahn, der mich täuschte. Ich beugte mich, von heftiger Verzweiflung erfaßt, über die Leiche und ließ mich, jede Klugheit oder Selbstbeherrschung vergessend, so von meinen Gefühlen übermannen, daß, wenn die Kerle in meiner Umgebung meine wirkliche Lage geahnt, mich nichts vor dem Verderben hätte retten können; ich ließ mich von meiner Raserei sogar so weit treiben, mein Taschentuch in ihr Blut zu tauchen und auszurufen: »Wenigstens dieses soll mich nie verlassen!« Als vom Turme die gellend teuflische Stimme einer ihrer Henker rief: »Ist sie tot?« – »Wie ein Stein,« lautete die Antwort einer meiner Rohlinge –, da kam ich wieder zu mir selbst. »Dann tragt sie fort,« tönte die Stimme von oben. »In die Hölle du selbst,« murmelte ein andrer Kerl.

Daraufhin legten die Henker den Leichnam in den ›Tabut‹, luden diesen auf ihre Schultern und trugen die Bahre zu dem außerhalb der Stadt liegenden Begräbnisplatze, wo sie ein fertiges Grab vorfanden. Ganz mechanisch und in tiefmelancholische Gedanken versunken, ging ich hinterdrein und ließ mich dann auf dem Friedhofe auf einem Grabsteine nieder, ohne recht zu wissen, was eigentlich vorging. Während die Nessektschis ihre Arbeit taten, starrte ich wie geistesabwesend vor mich hin, sah, daß sie den Leichnam in die Erde betteten, dann Erde darüber schaufelten und zwei Steine darauf stellten, einen an den Kopf, den andern an das Fußende des Grabes. Als sie mit allem fertig waren, kamen sie zu mir und sagten, nun sei alles getan, worauf ich antwortete: »Geht nach Hause, ich komme nach.« Als sie mich verließen, um in die Stadt zurückzukehren, saß ich noch lange auf dem Grabe.

Noch immer war es finstere Nacht, nur der Donner widerhallte in den Bergen, sonst war kein Laut vernehmbar, als das wie Kinderweinen klingende Schreien der Schakale, die bald rudelweise, dann wieder zu zweien und dreien die Stätte des Todes umschlichen.

Je länger ich am Grabe weilte, desto unerträglicher ward mir der Gedanke, in meine Behausung und zu meinem entsetzlichen Handwerk zurückzukehren. Ich verfluchte mein Dasein, und es überkam mich eine so unbezwingliche Sehnsucht, dem Weltgetriebe und den Machenschaften aller darin Hochgestellten zu entfliehen, daß mir nur der Gedanke, ein Derwisch zu werden und den Rest meiner Tage als reuiger, bußfertiger Sünder zu verbringen, tröstlich erschien. Mein Widerwille, heimzukehren, wurde auch durch die allmählich in mir aufsteigende Angst bestärkt, durch Wort und Tat verraten zu haben, wie eng meine Person mit den Schicksalen der Verstorbenen verwoben war. Unterdessen begann es zu dämmern, und angespornt von Furcht und dem Wunsche, diesen Ort zu verlassen, beschloß ich, mich zu Fuß nach Kinaragörd, der nächsten Station auf dem Wege nach Ispahan, zu begeben und mich dort der ersten Karawane anzuschließen, die ihren Weg nach dieser Stadt nehmen würde.

»Ich will fort,« sagte ich mir, »ich will sehen, was aus meinen Eltern geworden ist. Vielleicht erreiche ich das väterliche Dach noch früh genug, um den Segen meines sterbenden Vaters empfangen zu können. In seinem hohen Alter wird es ihn glücklich machen, den so lange entbehrten Sohn wieder zu haben. Wird es mir aber bei dem steten Unglück, das mich verfolgt, gelingen, allen meinen Pflichten gerecht zu werden? Lange genug habe ich den Weg des Lasters beschritten, nun ist es an der Zeit, daß ich Umkehr halte, um auf gottseligen Pfaden zu wandeln.«

Kurz, dies schreckliche Ereignis hatte eine solche Wirkung auf mein Gemüt, daß, hätte ich mein Lebtag in diesen Gesinnungen verharrt, ich einst würdig gewesen wäre, an die Spitze unsrer heiligsten Derwische gestellt zu werden.

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