Die Geistlichkeit und die
Islamische Revolution
Im Namen
Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen
Vorbemerkung
Ajatollah Morteza Motahhari
war einer der führenden und einflußreichsten Geistlichen in
der islamischen Revolution Irans von 1979. Er wurde noch im
gleichen Jahr in Teheran von den Feinden der Islamischen
Revolution ermordet und zum Märtyrer. In zahlreichen Reden und
Veröffentlichungen hatte er sich um die Wiederbelebung des
Islam bemüht. Die im folgenden übersetzte Rede hielt er zwei
Monate nach der Revolution, in einer Zeit also, als es keine
etablierten Machtverhältnisse in Iran gab. Im Mittelpunkt der
Rede steht das Verhältnis der schiitischen Geistlichkeit zur
politischen Herrschaft. Im schiitischen Islam kommt die
eigentliche Führung der Gläubigen dem zwölften Imam (Imam
Mahdi - möge er bald erscheinen) und in seiner Abwesenheit
stellvertretend dem qualifiziertesten Rechtsgelehrten zu.
Dieser Überzeugung nach ist jede weltliche Herrschaft über die
Gläubigen potentiell als Usurpation seiner Führungsrolle
anzusehen, also nur bedingt legitim. Vor diesem Hintergrund
zeichnet Motahhari die Konfrontation zwischen schiitischen
Theologen und Herrschern in der Geschichte nach und wirft
einen Blick in die Zukunft, d.h. in die Zeit einer den
islamischen Prinzipien entsprechenden Regierung. Hierbei geht
es hauptsächlich darum, die Position der Geistlichen innerhalb
der nach der Revolution entstandenen politischen
Auseinandersetzungen zu klären und sie gegenüber den anderen
iranischen Gruppierungen zu verteidigen.
Die Rede wurde in einem
Sammelband mit dem Titel "Piramun-e Inqilab-e Islami"
(Teheran) abgedruckt, in dem einige Reden und Debatten
Motahharis zusammengestellt sind.
gezeichnet von Ali Rajabi
Die Geistlichkeit und die
Islamische Revolution
Im Zusammenhang mit der
Geistlichkeit und der Islamischen Revolution stehen zwei
Aspekte zur Diskussion. Davon bezieht sich einer auf die
Vergangenheit: Welchen Anteil hatte die Geistlichkeit an
dieser Revolution, und wie kam es, daß die Geistlichkeit'- wie
einige sagen - so revolutionär wurde, daß überhaupt eine
Revolution stattfand? Der zweite Aspekt liegt in dem
Verhältnis der Geistlichkeit zur Zukunft der Islamischen
Revolution in Iran.
Dieser Diskurs wird sich
hauptsächlich mit dem zweiten Punkt beschäftigen. Über den
ersten Punkt haben die sogenannten linken Gruppen, seien es
die, die ihre Ansichten klar und offen darlegen oder die, die
ihre Gedanken islamisch verschleiern, in ihren
Veröffentlichungen und Broschüren geschrieben, daß die
Geistlichkeit unmöglich revolutionär werden könne. Denn
aufgrund der marxistischen Prinzipien - die zweite Gruppe
würde sicher sagen: aufgrund qur’anischer Prinzipien - muß die
Revolution durch die ausgebeutete Klasse, und zwar wegen ihrer
Ausbeutung, gegen die besitzende und herrschende Klasse
ausbrechen. Deshalb waren sie der Meinung, es sei unmöglich,
daß die Revolution von einer der herrschenden Schicht
verbundenen Gruppe ausgehe. Da die Geistlichkeit im Laufe der
Geschichte mit der herrschenden Klasse verflochten gewesen
sei, könne sie sich nicht gegen eben diese Klasse erheben.
Wenn man heute sehe, daß die Geistlichkeit revolutionäre Züge
angenommen habe, so sei dies nur eine Intrige der herrschenden
Klasse zur Wahrung ihrer Existenz. In Wirklichkeit seien es
die Machthaber, die den Geistlichen ins Ohr flüstern: "Setze
eine revolutionäre Maske auf, bis es an der Zeit ist, die
Revolution in ihrem Fortgang aufzuhalten. Auf diese Weise
rettest Du Dich selbst und uns!" In einer Zeitung, die ein
Jahr vor der Revolution von einer Untergrundorganisation
herausgegeben wurde 1, habe ich sogar eine Warnung
an das Volk gelesen, sich nicht von ihnen - gemeint sind die
Geistlichen - verführen zu lassen, denn sie seien dem
Schahregime verbunden und wollten es schützen.
Im Jahre der Ermordung
Razmaras 2 sagten einige Leute, die jegliche
Bewegung skeptisch betrachteten und auf der anderen Seite
Razmara - in dieser Zeit als ein Held auf der politischen
Bühne angesehen - mit bewundernden Blicken verfolgten, jedes
Konzept sei die Politik Razmaras, ja selbst seine eigene
Erschießung. Manche unserer Intellektuellen können es in den
Äußerungen ihres blinden Eifers durchaus mit den skeptischen
Ansichten der Ära Razmaras aufnehmen.
Wenn jemand die
Veröffentlichungen dieser sogenannten Intellektuellen gelesen
hat, wird er bemerken, daß der Sieg der Revolution in Iran
durch die Gläubigen und die Geistlichkeit sie ungemein
verblüfft hat. Da gemäß ihren Normen eine solche Revolution
nicht stattfinden konnte, bemühten sie sich anfangs sehr, die
Vorgänge in jeder nur möglichen Art auszudeuten, um
schließlich zu sagen, auch dies sei das Werk Razmaras. Aber
die Wirklichkeit war so mächtig, daß alle Gruppen, selbst die
linkesten unter ihnen, nicht umhinkonnten, die Führung der
Geistlichkeit anzuerkennen. Sie dachten: Warum konnten wir,
die wir seit Jahrzehnten von der Revolution sprechen, eine
Partei gegründet, Organisationen aufgebaut und Konzeptionen
entwickelt haben, nichts ausrichten? Dagegen haben diese
Geistlichen mit ihren geringen Möglichkeiten ein 2500 Jahre
altes Regime in Iran an der Wurzel ausgerottet, ohne daß auch
die erfahrensten Politiker in der Welt es voraussehen konnten.
Sogar im Iran selbst haben iranische Soziologen die
Geistlichkeit als eine Dekoration neben Politik und Wirtschaft
betrachtet 3 und ihre Bedeutung weitgehend
unterschätzt.
In diesem Artikel habe ich
nicht die Absicht, die Rolle der Geistlichkeit in der Bewegung
noch einmal zu bekräftigen - niemand kann sie leugnen -,
sondern ich will primär über die Zukunft der Bewegung und die
Rolle der Geistlichen im weiteren Verlauf der Revolution
sprechen. Eine wichtige Frage, die sehr zur Erhellung des
Problems beiträgt, ist die, warum die Geistlichen im Iran
soviel Macht besitzen. In einer Broschüre, die ich vor einiger
Zeit veröffentlicht habe 4, habe ich die
schiitische mit der sunnitischen Geistlichkeit verglichen.
Obwohl unter den sunnitischen Geistlichen und Theologen viel
häufiger reformerische Gespräche geführt wurden als bei den
schiitischen und von ihnen weit mehr Reformentwürfe vorgelegt
wurden, konnten sie doch keine tiefgreifende Reformbewegung
auslösen.
Im Gegensatz dazu haben
schiitische Geistliche, obwohl sie weniger darüber sprachen,
im Verlauf der letzten hundert Jahre Bewegungen angeführt, die
ihresgleichen nicht hatten, nicht unter den Sunniten
geschweige den unter der christlichen Geistlichkeit und
anderem mehr.
Ein anscheinend zum Islam
übergetretener Amerikaner namens Hamid Algar hat ein Buch
geschrieben mit dem Titel: "Die Rolle der führenden
Geistlichen in der Verfassungsbewegung Irans", das auch ins
Persische übersetzt wurde. Die Darstellung der historischen
Ereignisse beginnt mit den Anfängen der Qadscharenzeit. Hier
wird dargelegt, wie die schiitischen Theologen während der 250
Jahre der Qadscharen-Ära immerfort im Widerstreit gegen die
Herrscher gelegen haben und im oppositionellen Führungskader
vertreten waren. Das Buch hat zwar einige kleinere Schwächen,
da der Verfasser mit dem iranischen Milieu nicht vertraut ist,
aber es ist im allgemeinen objektiv und unvoreingenommen
geschrieben und zeigt, daß die schiitische Geistlichkeit immer
auf der Seite des Volkes stand und sich immer im Interesse des
Volkes erhoben hat. In dem Kampf um die Verstaatlichung des
iranischen Erdöls, den wir selbst miterlebt haben, sahen wir,
welche große Rolle die Geistlichkeit unter der Führung des
verstorbenen Ajatollah Khansari und des Ajatollah Kashani
zusammen mit den islamischen Fed'iyan spielte: Ohne Macht und
den Einfluß ihrer Worte wäre es nicht zur Verstaatlichung des
Erdöls gekommen. In einer weiteren Erhebung, der des 15.
Khordad 5, war die Geistlichkeit die einzige
führende Kraft, und durch ihren Einsatz konnte sie schließlich
das Übel an der Wurzel vernichten.
Aber alle diese Themen gehören
der Vergangenheit an. Es genügt nicht, daß wir immer von der
Vergangenheit der Revolution sprechen und uns damit
zufriedengeben, daß die Geistlichkeit dies und jenes getan
hat. Was vorbei ist, ist vorbei. jetzt müssen wir an die
Zukunft denken. So wird diese Revolution auch künftig die
Geistlichkeit brauchen, vorausgesetzt, daß diese ihre
Verpflichtungen richtig begreift und sich ihrer Verantwortung
stellt. Die Geistlichkeit muß ihre Bemühungen vervielfachen
und ihren öffentlichen Einsatz intensivieren. Der Beginn der
Revolution gleicht den Anfängen des Islam. Die herrschenden
Mächte müssen zerschlagen werden, jetzt ist die Zeit des
Dschihad und des Kampfes.
In der frühesten Epoche des
Islam bis in die Zeit von Imam Husayn 6 (a.s.)
kämpfte man in direkten militärischen Auseinandersetzungen
gegen die Herrschenden. Aber seit dem Ende des ersten
Jahrhunderts der Hidschra (um 720 n.Chr.) und besonders im
zweiten und dritten Jahrhundert (8. und 9. Jh. n.Chr.), der
Zeit der nachfolgenden Imame (a.s.), haben sich in der
islamischen Welt besondere Veränderungen vollzogen. Mit dem
Übertritt verschiedener Völker zum Islam und der damit
einhergehenden Ausdehnung der muslimischen Einflußsphäre wurde
das Schwert nach und nach beiseite gelegt und dafür das Buch
als neue Waffe eingesetzt. In allen islamischen Ländern
verlangte es die Muslime danach, das Buch der neuen Religion
kennenzulernen, zu lesen und zu verstehen. Dieses
leidenschaftliche Verlangen war bei den neuen Muslimen viel
größer als bei ihren Glaubensbrüdern. Überall wurden Männer
gesucht, die den Heiligen Qur’an richtig zu lesen verstanden
und ihn den Menschen von Anfang bis Ende richtig vortragen
konnten.
Diese Hinwendung zum Qur’an
hat viele Qur’an-Kommentatoren und Hadith7-Kenner
hervorgebracht, besonders, nachdem sie den Qur’an-Kommentar
auf die Nutzung der Hadithe gründeten. Dies führte jedoch
dazu, daß eine Flut von Abweichungen und Hadith-Fälschungen
entstand.
Es ist natürlich, daß, wenn
die Nachfrage nach einer Ware sehr ansteigt und das Angebot
nicht mehr genügt, der Markt für Fälschungen empfänglich wird.
Gott erbarme sich des verstorbenen Ajatollah Burudjerdi,
dessen wir bei diesem Thema gedenken. Er brachte folgendes
Beispiel für die damalige Situation: Da machte sich einer aus
Medina auf den Weg und reiste bis in die entlegensten Regionen
von Khorasan (östliche Provinz im Iran). Dort fragte man ihn,
wer er sei, und nannte ihn dann einen Prophetengenossen. Wenn
er dem Propheten (s.a.s.) begegnet war, so genügten ein bis
zwei Sätze, daß Zehntausende diesen Reisenden umringten und
ihn um Worte (Hadithe) baten, die er selbst von den gesegneten
Lippen des Propheten gehört hatte. Nun gehörten solche Leute
nicht alle zu der Gefolgschaft, die jahrelang um den Propheten
gewesen waren, sondern viele von ihnen hatten sich erst im
letzten Lebensjahr des Propheten (s.a.s.) zum Islam bekehrt
und kannten von ihm nur einige wenige Hadithe oder
Geschichten. Aber dieser regelrechte Ansturm des Volkes hatte
zur Folge, daß diejenigen, die schwach im Glauben waren, nach
und nach selbst Hadithe erfanden und den "heißen Markt"
mißbrauchten 8. Neben diesem Abweichungen trat noch
eine ganze Flut anderen Gedankenguts zutage, da unter den
Völkern, die zum Islam gefunden hatten, noch andersgläubige
Menschen wohnten. Sie verteidigten ihre Religion angesichts
des Ansturms des Islams. Da in jener Zeit Gedanken und
Meinungen frei geäußert werden konnten 9, wurden
die verschiedensten Themen diskutiert - auch solche Fragen,
die in offenem Widerspruch zum geistigen Fundament des Islams
standen. Dafür ist die Geschichte von Mufazzal, einem
Gefährten Imam Sadiqs 10 (a.s.) ein sehr gutes
Beispiel.
Imam Sadiq (a.s.) tat zu jener
Zeit genau das, was auch der Prophet (s.a.s.), Imam Ali oder
Imam Husayn (a.s.) getan hatten, d.h. er erfüllte die
Botschaft und vollzog die religiösen Pflichten mit Rücksicht
auf seine eigenen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten.
Zu Zeiten Imam Husayns (a.s.)
hieß das grundlegende Problem des Islams Yazid und seine
Anhängerschaft. Aber zur Zeit des Imam Sadiqs (a.s.) stand
außer dem notwendigen Kampf gegen den Unterdrücker seiner Zeit
- Imam Sadiq nahm selbst aktiv an diesem Kampf teil und
unterstützte die an Imam Ali (a.s.) orientierten Bewegungen -
die Frage des Kampfes gegen geistige Abspaltungen und
abtrünnige Schulen zur Diskussion. Natürlich herrscht nach
einer Revolution Freiheit, und diese Freiheit bringt
widersprüchliche Gedanken und Meinungen, philosophische und
theologische Diskussionen mit sich. Hier richtet das Schwert
nichts aus, hier sind Lehre, Buch und Feder die angemessenen
Waffen.
Was war nun die Pflicht von
Imam Sadiq (a.s.) angesichts all dieser unterschiedlichen
Ideen angefangen von den verschiedenen theologischen,
juristischen und philosophischen Gruppierungen bis hin zu
anderen Religionsgemeinschaften und den atheistischen und
materialistischen Schulen? Seine Mission verlangte, daß er an
dieser Front kämpfte und den Gläubigen den richtigen Weg und
den wahren Glauben zeigte. Eine ähnliche Situation herrschte
auch zur Zeit Imam Ridhas 11. In jener Zeit hielt
Ma'mun 12, der selbst ein gelehrter Mann war, große
Zusammenkünfte mit bedeutenden Wissenschaftlern und
Religionsgelehrten aus den verschiedenen Gruppierungen und
Glaubensgemeinschaften ab und ließ sie miteinander
diskutieren. Die Debatten Imam Ridhas (a.s.) bei diesen
Zusammenkünften sind sehr lehrreich.
Alles das habe ich erwähnt, um
den folgenden Punkt zu klären: Wenn sich die Situation einer
Zeit so entwickelt, daß es schwierig wird, das Rechte vom
Nichtigen zu unterscheiden, besteht die vordringliche Pflicht
des religiösen Führers darin, den Weg zu weisen und gegen
Abweichungen und Entstellung zu kämpfen. Hätte Imam Husayn (a.s.)
in der Zeit von Imam Sadiq (a.s.) oder Imam Ridha (a.s.)
gelebt, hätte er zweifellos ebenso gehandelt wie diese beiden
großen Männer.
Auch für unsere Bewegung kann
man eine Zukunft, in der ein lebhafter Gedankenaustausch
stattfindet, vorhersehen. Dafür muß sich die Geistlichkeit
weit intensiver als in der Vergangenheit rüsten. Sie muß
stärker werden, sie braucht ein Konzept und muß organisiert
und vernünftig arbeiten. Der Geistlichkeit steht ein Volk
gegenüber, das in noch höherem Maße der Führung und
Rechtleitung bedarf als in der Vergangenheit. Die Geistlichen
müssen unverzüglich Überlegungen anstellen und sich, solange
dieser große Strom noch nicht in Fluß gekommen ist, darauf
vorbereiten, ihm zu begegnen. In Teheran herrschen
glücklicherweise eine gewisse Einheit und Organisation. Ich
meine damit die Vereinigung der Geistlichen (Dschami’a-ye-ruhaniyat)
und den Rat der Geistlichen (Sura-ye ruhaniyat). Ich hoffe,
daß sich dieses Beispiel im ganzen Iran verbreitet, so daß
alle Geistlichen miteinander in Verbindung stehen und sich
optimal für ihre Aufgabe vorbereiten.
Wenn die islamische Revolution
im Iran in Zukunft zu einem Ergebnis gelangen und weiter
siegreich voranschreiten will, muß sie von den Geistlichen
getragen werden. Wenn die Rolle des Bannerträgers der
Geistlichkeit genommen wird und auf die sogenannten
Intellektuellen übergeht, wird der Islam in einem Jahrhundert,
nein, schon innerhalb einer Generation vollkommen
verunstaltet. Denn als Träger der echten islamischen Kultur
fungiert eben diese Gruppe verantwortlicher Geistlicher.
Die Frage, die ich zu Beginn
meiner Rede aufgeworfen habe, will ich an dieser Stelle
beantworten. Es gibt zwei Gründe, warum die schiitische
Geistlichkeit im Gegensatz zu anderen Geistlichen im Laufe der
Geschichte zum Ausgangspunkt großer Bewegungen werden konnte:
Der erste Grund liegt in ihrer spezifischen Kultur. Die
schiitische Kultur ist lebendig und eine Quelle revolutionären
Bewegung - eine Kultur, die sich aus dem Denken und Handeln
Imam Alis (a.s.) nährt, die in ihrer Geschichte den
Aschura-Tag 13 hat, die die „Sahifa-ye Saggadiya
14“ besitzt und auf eine 250jährige Periode des
Imamats und Freisein von Sünden (der Imame) zurückblicken
kann. Keine andere Kultur trägt solche aufrührerischen
Prinzipien in sich. Der zweite Grund liegt darin, daß die
schiitische Geistlichkeit, die durch die schiitischen Imame
begründet wurde, von Anfang an prinzipiell im Widerspruch zu
den herrschenden Mächten gestanden hat. Hamid Algar beschreibt
in seinem oben genannten Buch, daß das Prinzip der
schiitischen Geistlichkeit auf der Verneinung der Legitimität
monarchischer Herrschaft beruht. Die schiitische Geistlichkeit
stützt sich in geistiger Hinsicht auf Gott, in
gesellschaftlicher Hinsicht auf das Volk und hatte niemals an
einer (unrechtmäßigen) Regierungsmacht teil. Demgegenüber war
z.B. die sunnitische Geistlichkeit von Anfang an der
herrschenden Macht verbunden. Seit der Zeit, als Abu Yusuf zum
obersten Richter (qazi-al-quzat) Haruns 15 ernannt
wurde und gleichzeitig das Amt des obersten Mufti 16
übernahm, konnte sie keine Basis im Volk mehr haben. So besaß
z.B. in unserer Zeit jemand wie Scheich Muhammad Abduh, der zu
den intellektuellen sunnitischen Geistlichen Ägyptens gehörte,
nur dann Autorität, wenn der Khedive 17 Abbas in
seinem Namen eine Mitteilung herausgab, sonst erkannte das
Volk seine Autorität als Mufti nicht an. Oder für Scheich
Muhammad Schaltut, den großen ägyptischen Reformer, mußte
Dschamal Abdel Nasser Mitteilungen herausgeben, und in seinem
Zimmer mußte ein Bild Dschamal Abdel Nassers hängen. Es
versteht sich von selbst, daß solche Leute keine Basis im Volk
haben können und nicht in der Lage sein werden, sich gegen die
herrschende Macht zu empören. Die schiitische Geistlichkeit
jedoch basiert auf dem Prinzip, daß sie nicht auf die
herrschende (unrechtmäßige) Macht angewiesen ist - im
Gegenteil: Immer mußten Könige und Mächtige demütig zu ihnen
kommen.
Das Geheimnis, warum die
Geistlichen fähig waren, die Revolution zu führen, ist demnach
ihre Unabhängigkeit und die Tatsache, daß sie niemals an
(weltlicher) Macht teilhatten, sei es in Verbindung mit der
Regierung oder nicht. Sie mußten sich niemals anderer als
Sprachrohr bedienen, sie ließen niemals zu, daß Bilder der
Machthaber in ihren Häusern aufgehängt wurden. Auch in Zukunft
müssen der Geistlichkeit diese Werte gewahrt bleiben. Der Imam
(Khomeini) hat ganz klar gesagt, daß Geistliche in der
islamischen Republik keine Regierungsposten bekleiden sollen.
Natürlich fallen einige Ämter in die Kompetenz der
Geistlichen, wie das Lehr- oder Richteramt. Die Geistlichen
dürfen aber keine Regierungsstellen einnehmen, sondern müssen
der Regierung rechtleitend zur Seite stehen. Sie müssen die
Tätigkeit der Regierung beobachten und überwachen. Vielleicht
wäre ein kluger Weg zur Durchführung dieser Kontrolle, eine
Institution "Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten"
(amr bil maruf wa-nahy anil munkar) zu gründen, die unabhängig
von der Regierung arbeiten soll. Zuletzt möchte ich noch
einmal zusammenfassen: Die Geistlichkeit spielt in der Wahrung
und dem weiteren Verlauf der Revolution eine grundlegende
Rolle, sie muß sich bemühen, die ihr angemessene Stellung zu
bewahren, und in erster Linie die Bewegung des Volkes
fortführen, indem sie es in der rechten Weise leitet.
Anmerkungen
1.
Siehe die Monatszeitschrift "Tufan", Organ der
kommunistischen Arbeiter- und Bauernpartei Irans, Nr. 15, mit
einem Aufsatz unter dem Titel "Kein Gott, kein König, kein
Held" (na huda, na schah, na qahraman), ebenso die
Veröffentlichungen der Gruppe Furqin während der Revolution
und besonders im Monat Bahman 1357 (Januar/Februar 1979).
Motahhari ist durch Mitglieder der letztgenannten Gruppe
getötet worden.
2.
Premierminister Irans zu Beginn der fünfziger Jahre
3.
Ein nicht religiöser Autor, der vor einigen Jahren zu
den Ideologen der Tudeh-Partei gehörte, dessen Ansichten sich
aber im Laufe der Zeit auf ein recht hohes Niveau entwickelt
haben, hat vor einiger Zeit einen Artikel in einer Zeitschrift
geschrieben und die gegenwärtige geistige Bewegung in Iran aus
einer verhältnismäßig neutralen Sicht analysiert. In diesem
Artikel hat der Verfasser einen Vergleich zwischen dieser
Bewegung, der Verfassungsbewegung und der Verstaatlichung des
Erdöls durchgeführt und daran erinnert, daß die Schuld am
Mißerfolg der beiden früheren Bewegungen den "Laien"
anzutasten ist, d.h. denjenigen, deren Politik nicht durch
ihre Religion beeinflußt wird und die keinerlei religiöse
Neigungen haben. Zu Beginn jeder dieser beiden Bewegungen
haben die zwei Kräfte, die religiöse und die laizistische
Kraft, zusammengehalten. Aber als es darum ging, den Nutzen
daraus zu ziehen, kamen die Laien auf den Gedanken, die
religiösen Gruppe zurückzustoßen. Deshalb konnten diese beiden
Bewegungen zerschlagen werden. Bei der gegenwärtigen
Revolution dachten die meisten Intellektuellen auch, daß es
nur zwei bestimmende Kräfte in der Gesellschaft gebe, die
wirtschaftliche und die politische. Niemand konnte
voraussehen, daß eine dritte Kraft innerhalb der Gesellschaft
existierte, die stärker und fester verwurzelt war als die
anderen Kräfte, die Kraft, die letztlich der Revolution zum
Sieg verhalf.
4.
M. Motahhari: Islamische Bewegungen in den letzten
hundert Jahren (Nahzatha-ye Islami dar sad salhaa-ye ahir)
5.
Gemeint sind die Unruhen vom 15. Khordad 1342 (15.
Juni 1963), in deren Folge Imam Khomeini 1964 ins Exil
geschickt wurde. (Anm. d. Übersetzer)
6.
Enkel des Propheten Muhammad (s.a.s.), Martyrium 680.
(Anm. d. Ü.)
7.
Hadith: Überlieferung über das Tun und Lassen und die
Worte des Propheten (Anm. d. Ü.)
8.
Natürlich besteht ein Unterschied zu der Praxis
derer, deren offene oder versteckte Absicht auf die
Vernichtung des Islams abzielte.
9.
Hier besteht eine große Ähnlichkeit zur Situation bei
Herausgabe dieser Broschüre (die Broschüre wurde 1985
veröffentlicht).
10.
Es geht um eine Diskussion um den Tauhid (Einheit
Gottes) zwischen dem genannten Mufazzal und Imam Dschafar
as-Sadiq (a.s.), dem sechsten Imam, Martyrium 147 (765 n.Chr.)
(Anm. d. Ü.)
11.
Achter Imam, Martyrium 202 (818 n.Chr.) (Anm. d. Ü.)
12.
Abbassidischer Khalif, gest. 218 (833 n.Chr.) (Anm.
d. Ü.)
13.
10. Muharram, Tag des Martyriums des Prophetenenkels
Husayn am Orte Kerbela. Der Tag heißt Aschura (Anm. d. Ü.)
14.
Sammlung von Vorträgen, Aussprüchen und Gebeten des
vierten Imams Ali Zain-ul Abidien (a.s.) mit dem Beinamen
as-Sadschad - der sich (vor Gott) Nierderwerfende (Anm. d. Ü.)
15.
Abbassidischer Khalif 786-809 (Anm. d. Ü.)
16.
Mufti-yi A'azam, oberster Rechtsberater, Erteiler von
Rechtsgutachten (Anm. d. Ü.)
17.
Vizekönig von Ägypten unter osmanischer Oberhoheit
(Anm. d. Ü.)
a.s. Frieden sei mit ihm
bzw. ihnen [caleyhis-sal~m,
caleyhumma sal~m]
s.a.s. der Friede sei mit ihm
und mit den Reinen seiner auserwählten Familie [allall~hu
calayhi wa
~lih§
wa sallam]
gezeichnet von Mahdi Rowhan