Geistlichkeit

Die Geistlichkeit und die Islamische Revolution

Ayatollah Morteza Motahhari

Die Geistlichkeit und die Islamische Revolution

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Vorbemerkung

Ajatollah Morteza Motahhari war einer der führenden und einflußreichsten Geistlichen in der islamischen Revolution Irans von 1979. Er wurde noch im gleichen Jahr in Teheran von den Feinden der Islamischen Revolution ermordet und zum Märtyrer. In zahlreichen Reden und Veröffentlichungen hatte er sich um die Wiederbelebung des Islam bemüht. Die im folgenden übersetzte Rede hielt er zwei Monate nach der Revolution, in einer Zeit also, als es keine etablierten Machtverhältnisse in Iran gab. Im Mittelpunkt der Rede steht das Verhältnis der schiitischen Geistlichkeit zur politischen Herrschaft. Im schiitischen Islam kommt die eigentliche Führung der Gläubigen dem zwölften Imam (Imam Mahdi - möge er bald erscheinen) und in seiner Abwesenheit stellvertretend dem qualifiziertesten Rechts­gelehrten zu. Dieser Überzeugung nach ist jede weltliche Herrschaft über die Gläubigen potentiell als Usurpation seiner Führungsrolle anzusehen, also nur bedingt legitim. Vor diesem Hintergrund zeichnet Motahhari die Konfrontation zwischen schiitischen Theologen und Herrschern in der Geschichte nach und wirft einen Blick in die Zukunft, d.h. in die Zeit einer den islamischen Prinzipien entsprechenden Regierung. Hierbei geht es hauptsächlich darum, die Position der Geistlichen innerhalb der nach der Revolution entstandenen politischen Auseinandersetzungen zu klären und sie gegenüber den anderen iranischen Gruppierungen zu verteidigen.

Die Rede wurde in einem Sammelband mit dem Titel "Piramun-e Inqilab-e Islami" (Teheran) abgedruckt, in dem einige Reden und Debatten Motahharis zusammengestellt sind.

 

gezeichnet von Ali Rajabi

Die Geistlichkeit und die Islamische Revolution

Im Zusammenhang mit der Geistlichkeit und der Islamischen Revolution stehen zwei Aspekte zur Diskussion. Davon bezieht sich einer auf die Vergangenheit: Welchen Anteil hatte die Geistlichkeit an dieser Revolution, und wie kam es, daß die Geistlichkeit'- wie einige sagen - so revolutionär wurde, daß überhaupt eine Revolution stattfand? Der zweite Aspekt liegt in dem Verhältnis der Geistlichkeit zur Zukunft der Islamischen Revolution in Iran.

Dieser Diskurs wird sich hauptsächlich mit dem zweiten Punkt beschäftigen. Über den ersten Punkt haben die sogenannten linken Gruppen, seien es die, die ihre Ansichten klar und offen darlegen oder die, die ihre Gedanken islamisch verschleiern, in ihren Veröffentlichungen und Broschüren geschrieben, daß die Geistlichkeit unmöglich revolutionär werden könne. Denn aufgrund der marxistischen Prinzipien - die zweite Gruppe würde sicher sagen: aufgrund qur’anischer Prinzipien - muß die Revolution durch die ausgebeutete Klasse, und zwar wegen ihrer Ausbeutung, gegen die besitzende und herrschende Klasse ausbrechen. Deshalb waren sie der Meinung, es sei unmöglich, daß die Revolution von einer der herrschenden Schicht verbundenen Gruppe ausgehe. Da die Geistlichkeit im Laufe der Geschichte mit der herrschenden Klasse verflochten gewesen sei, könne sie sich nicht gegen eben diese Klasse erheben. Wenn man heute sehe, daß die Geistlichkeit revolutionäre Züge angenommen habe, so sei dies nur eine Intrige der herrschenden Klasse zur Wahrung ihrer Existenz. In Wirklichkeit seien es die Machthaber, die den Geistlichen ins Ohr flüstern: "Setze eine revolutionäre Maske auf, bis es an der Zeit ist, die Revolution in ihrem Fortgang aufzuhalten. Auf diese Weise rettest Du Dich selbst und uns!" In einer Zeitung, die ein Jahr vor der Revolution von einer Untergrundorganisation herausgegeben wurde 1, habe ich sogar eine Warnung an das Volk gelesen, sich nicht von ihnen - gemeint sind die Geistlichen - verführen zu lassen, denn sie seien dem Schahregime verbunden und wollten es schützen.

Im Jahre der Ermordung Razmaras 2 sagten einige Leute, die jegliche Bewegung skeptisch betrachteten und auf der anderen Seite Razmara - in dieser Zeit als ein Held auf der politischen Bühne angesehen - mit bewundernden Blicken verfolgten, jedes Konzept sei die Politik Razmaras, ja selbst seine eigene Erschießung. Manche unserer Intellektuellen können es in den Äußerungen ihres blinden Eifers durchaus mit den skeptischen Ansichten der Ära Razmaras aufnehmen.

Wenn jemand die Veröffentlichungen dieser sogenannten Intellektuellen gelesen hat, wird er bemerken, daß der Sieg der Revolution in Iran durch die Gläubigen und die Geistlichkeit sie ungemein verblüfft hat. Da gemäß ihren Normen eine solche Revolution nicht stattfinden konnte, bemühten sie sich anfangs sehr, die Vorgänge in jeder nur möglichen Art auszudeuten, um schließlich zu sagen, auch dies sei das Werk Razmaras. Aber die Wirklichkeit war so mächtig, daß alle Gruppen, selbst die linkesten unter ihnen, nicht umhinkonnten, die Führung der Geistlichkeit anzuerkennen. Sie dachten: Warum konnten wir, die wir seit Jahrzehnten von der Revolution sprechen, eine Partei gegründet, Organisationen aufgebaut und Konzeptionen entwickelt haben, nichts ausrichten? Dagegen haben diese Geistlichen mit ihren geringen Möglichkeiten ein 2500 Jahre altes Regime in Iran an der Wurzel ausgerottet, ohne daß auch die erfahrensten Politiker in der Welt es voraussehen konnten. Sogar im Iran selbst haben iranische Soziologen die Geistlichkeit als eine Dekoration neben Politik und Wirtschaft betrachtet 3 und ihre Bedeutung weitgehend unterschätzt.

In diesem Artikel habe ich nicht die Absicht, die Rolle der Geistlichkeit in der Bewegung noch einmal zu bekräftigen - niemand kann sie leugnen -, sondern ich will primär über die Zukunft der Bewegung und die Rolle der Geistlichen im weiteren Verlauf der Revolution sprechen. Eine wichtige Frage, die sehr zur Erhellung des Problems beiträgt, ist die, warum die Geistlichen im Iran soviel Macht besitzen. In einer Broschüre, die ich vor einiger Zeit veröffentlicht habe 4, habe ich die schiitische mit der sunnitischen Geistlichkeit verglichen. Obwohl unter den sunnitischen Geistlichen und Theologen viel häufiger reformerische Gespräche geführt wurden als bei den schiitischen und von ihnen weit mehr Reformentwürfe vorgelegt wurden, konnten sie doch keine tiefgreifende Reformbewegung auslösen.

Im Gegensatz dazu haben schiitische Geistliche, obwohl sie weniger darüber sprachen, im Verlauf der letzten hundert Jahre Bewegungen angeführt, die ihresgleichen nicht hatten, nicht unter den Sunniten geschweige den unter der christlichen Geistlichkeit und anderem mehr.

Ein anscheinend zum Islam übergetretener Amerikaner namens Hamid Algar hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Die Rolle der führenden Geistlichen in der Verfassungsbewegung Irans", das auch ins Persische übersetzt wurde. Die Darstellung der historischen Ereignisse beginnt mit den Anfängen der Qadscharenzeit. Hier wird dargelegt, wie die schiitischen Theologen während der 250 Jahre der Qadscharen-Ära immerfort im Widerstreit gegen die Herrscher gelegen haben und im oppositionellen Führungskader vertreten waren. Das Buch hat zwar einige kleinere Schwächen, da der Verfasser mit dem iranischen Milieu nicht vertraut ist, aber es ist im allgemeinen objektiv und unvoreingenommen geschrieben und zeigt, daß die schiitische Geistlichkeit immer auf der Seite des Volkes stand und sich immer im Interesse des Volkes erhoben hat. In dem Kampf um die Verstaatlichung des iranischen Erdöls, den wir selbst miterlebt haben, sahen wir, welche große Rolle die Geistlichkeit unter der Führung des verstorbenen Ajatollah Khansari und des Ajatollah Kashani zusammen mit den islamischen Fed'iyan spielte: Ohne Macht und den Einfluß ihrer Worte wäre es nicht zur Verstaatlichung des Erdöls gekommen. In einer weiteren Erhebung, der des 15. Khordad 5, war die Geistlichkeit die einzige führende Kraft, und durch ihren Einsatz konnte sie schließlich das Übel an der Wurzel vernichten.

Aber alle diese Themen gehören der Vergangenheit an. Es genügt nicht, daß wir immer von der Vergangenheit der Revolution sprechen und uns damit zufriedengeben, daß die Geistlichkeit dies und jenes getan hat. Was vorbei ist, ist vorbei. jetzt müssen wir an die Zukunft denken. So wird diese Revolution auch künftig die Geistlichkeit brauchen, vorausgesetzt, daß diese ihre Verpflichtungen richtig begreift und sich ihrer Verantwortung stellt. Die Geistlichkeit muß ihre Bemühungen vervielfachen und ihren öffentlichen Einsatz intensivieren. Der Beginn der Revolution gleicht den Anfängen des Islam. Die herrschenden Mächte müssen zerschlagen werden, jetzt ist die Zeit des Dschihad und des Kampfes.

In der frühesten Epoche des Islam bis in die Zeit von Imam Husayn 6 (a.s.) kämpfte man in direkten militärischen Auseinandersetzungen gegen die Herrschenden. Aber seit dem Ende des ersten Jahrhunderts der Hidschra (um 720 n.Chr.) und besonders im zweiten und dritten Jahrhundert (8. und 9. Jh. n.Chr.), der Zeit der nachfolgenden Imame (a.s.), haben sich in der islamischen Welt besondere Veränderungen vollzogen. Mit dem Übertritt verschiedener Völker zum Islam und der damit einhergehenden Ausdehnung der muslimischen Einflußsphäre wurde das Schwert nach und nach beiseite gelegt und dafür das Buch als neue Waffe eingesetzt. In allen islamischen Ländern verlangte es die Muslime danach, das Buch der neuen Religion kennenzulernen, zu lesen und zu verstehen. Dieses leidenschaftliche Verlangen war bei den neuen Muslimen viel größer als bei ihren Glaubensbrüdern. Überall wurden Männer gesucht, die den Heiligen Qur’an richtig zu lesen verstanden und ihn den Menschen von Anfang bis Ende richtig vortragen konnten.

Diese Hinwendung zum Qur’an hat viele Qur’an-Kommentatoren und Hadith7-Kenner hervorgebracht, besonders, nachdem sie den Qur’an-Kommentar auf die Nutzung der Hadithe gründeten. Dies führte jedoch dazu, daß eine Flut von Abweichungen und Hadith-Fälschungen entstand.

Es ist natürlich, daß, wenn die Nachfrage nach einer Ware sehr ansteigt und das Angebot nicht mehr genügt, der Markt für Fälschungen empfänglich wird. Gott erbarme sich des verstorbenen Ajatollah Burudjerdi, dessen wir bei diesem Thema gedenken. Er brachte folgendes Beispiel für die damalige Situation: Da machte sich einer aus Medina auf den Weg und reiste bis in die entlegensten Regionen von Khorasan (östliche Provinz im Iran). Dort fragte man ihn, wer er sei, und nannte ihn dann einen Prophetengenossen. Wenn er dem Propheten (s.a.s.) begegnet war, so genügten ein bis zwei Sätze, daß Zehntausende diesen Reisenden umringten und ihn um Worte (Hadithe) baten, die er selbst von den gesegneten Lippen des Propheten gehört hatte. Nun gehörten solche Leute nicht alle zu der Gefolgschaft, die jahrelang um den Propheten gewesen waren, sondern viele von ihnen hatten sich erst im letzten Lebensjahr des Propheten (s.a.s.) zum Islam bekehrt und kannten von ihm nur einige wenige Hadithe oder Geschichten. Aber dieser regelrechte Ansturm des Volkes hatte zur Folge, daß diejenigen, die schwach im Glauben waren, nach und nach selbst Hadithe erfanden und den "heißen Markt" mißbrauchten 8. Neben diesem Abweichungen trat noch eine ganze Flut anderen Gedankenguts zutage, da unter den Völkern, die zum Islam gefunden hatten, noch andersgläubige Menschen wohnten. Sie verteidigten ihre Religion angesichts des Ansturms des Islams. Da in jener Zeit Gedanken und Meinungen frei geäußert werden konnten 9, wurden die verschiedensten Themen diskutiert - auch solche Fragen, die in offenem Widerspruch zum geistigen Fundament des Islams standen. Dafür ist die Geschichte von Mufazzal, einem Gefährten Imam Sadiqs 10 (a.s.) ein sehr gutes Beispiel.

Imam Sadiq (a.s.) tat zu jener Zeit genau das, was auch der Prophet (s.a.s.), Imam Ali oder Imam Husayn (a.s.) getan hatten, d.h. er erfüllte die Botschaft und vollzog die religiösen Pflichten mit Rücksicht auf seine eigenen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten.

Zu Zeiten Imam Husayns (a.s.) hieß das grundlegende Problem des Islams Yazid und seine Anhängerschaft. Aber zur Zeit des Imam Sadiqs (a.s.) stand außer dem notwendigen Kampf gegen den Unterdrücker seiner Zeit - Imam Sadiq nahm selbst aktiv an diesem Kampf teil und unterstützte die an Imam Ali (a.s.) orientierten Bewegungen - die Frage des Kampfes gegen geistige Abspaltungen und abtrünnige Schulen zur Diskussion. Natürlich herrscht nach einer Revolution Freiheit, und diese Freiheit bringt widersprüchliche Gedanken und Meinungen, philosophische und theologische Diskussionen mit sich. Hier richtet das Schwert nichts aus, hier sind Lehre, Buch und Feder die angemessenen Waffen.

Was war nun die Pflicht von Imam Sadiq (a.s.) angesichts all dieser unterschiedlichen Ideen angefangen von den verschiedenen theologischen, juristischen und philosophischen Gruppierungen bis hin zu anderen Religionsgemeinschaften und den atheistischen und materialistischen Schulen? Seine Mission verlangte, daß er an dieser Front kämpfte und den Gläubigen den richtigen Weg und den wahren Glauben zeigte. Eine ähnliche Situation herrschte auch zur Zeit Imam Ridhas 11. In jener Zeit hielt Ma'mun 12, der selbst ein gelehrter Mann war, große Zusammenkünfte mit bedeutenden Wissenschaftlern und Religionsgelehrten aus den verschiedenen Gruppierungen und Glaubensgemeinschaften ab und ließ sie miteinander diskutieren. Die Debatten Imam Ridhas (a.s.) bei diesen Zusammenkünften sind sehr lehrreich.

Alles das habe ich erwähnt, um den folgenden Punkt zu klären: Wenn sich die Situation einer Zeit so entwickelt, daß es schwierig wird, das Rechte vom Nichtigen zu unterscheiden, besteht die vordringliche Pflicht des religiösen Führers darin, den Weg zu weisen und gegen Abweichungen und Entstellung zu kämpfen. Hätte Imam Husayn (a.s.) in der Zeit von Imam Sadiq (a.s.) oder Imam Ridha (a.s.) gelebt, hätte er zweifellos ebenso gehandelt wie diese beiden großen Männer.

Auch für unsere Bewegung kann man eine Zukunft, in der ein lebhafter Gedankenaustausch stattfindet, vorhersehen. Dafür muß sich die Geistlichkeit weit intensiver als in der Vergangenheit rüsten. Sie muß stärker werden, sie braucht ein Konzept und muß organisiert und vernünftig arbeiten. Der Geistlichkeit steht ein Volk gegenüber, das in noch höherem Maße der Führung und Rechtleitung bedarf als in der Vergangenheit. Die Geistlichen müssen unverzüglich Überlegungen anstellen und sich, solange dieser große Strom noch nicht in Fluß gekommen ist, darauf vorbereiten, ihm zu begegnen. In Teheran herrschen glücklicherweise eine gewisse Einheit und Organisation. Ich meine damit die Vereinigung der Geistlichen (Dschami’a-ye-ruhaniyat) und den Rat der Geistlichen (Sura-ye ruhaniyat). Ich hoffe, daß sich dieses Beispiel im ganzen Iran verbreitet, so daß alle Geistlichen miteinander in Verbindung stehen und sich optimal für ihre Aufgabe vorbereiten.

Wenn die islamische Revolution im Iran in Zukunft zu einem Ergebnis gelangen und weiter siegreich voranschreiten will, muß sie von den Geistlichen getragen werden. Wenn die Rolle des Bannerträgers der Geistlichkeit genommen wird und auf die sogenannten Intellektuellen übergeht, wird der Islam in einem Jahrhundert, nein, schon innerhalb einer Generation vollkommen verunstaltet. Denn als Träger der echten islamischen Kultur fungiert eben diese Gruppe verantwortlicher Geistlicher.

Die Frage, die ich zu Beginn meiner Rede aufgeworfen habe, will ich an dieser Stelle beantworten. Es gibt zwei Gründe, warum die schiitische Geistlichkeit im Gegensatz zu anderen Geistlichen im Laufe der Geschichte zum Ausgangspunkt großer Bewegungen werden konnte: Der erste Grund liegt in ihrer spezifischen Kultur. Die schiitische Kultur ist lebendig und eine Quelle revolutionären Bewegung - eine Kultur, die sich aus dem Denken und Handeln Imam Alis (a.s.) nährt, die in ihrer Geschichte den Aschura-Tag 13 hat, die die „Sahifa-ye Saggadiya 14“ besitzt und auf eine 250jährige Periode des Imamats und Freisein von Sünden (der Imame) zurückblicken kann. Keine andere Kultur trägt solche aufrührerischen Prinzipien in sich. Der zweite Grund liegt darin, daß die schiitische Geistlichkeit, die durch die schiitischen Imame begründet wurde, von Anfang an prinzipiell im Widerspruch zu den herrschenden Mächten gestanden hat. Hamid Algar beschreibt in seinem oben genannten Buch, daß das Prinzip der schiitischen Geistlichkeit auf der Verneinung der Legitimität monarchischer Herrschaft beruht. Die schiitische Geistlichkeit stützt sich in geistiger Hinsicht auf Gott, in gesellschaftlicher Hinsicht auf das Volk und hatte niemals an einer (unrechtmäßigen) Regierungsmacht teil. Demgegenüber war z.B. die sunnitische Geistlichkeit von Anfang an der herrschenden Macht verbunden. Seit der Zeit, als Abu Yusuf zum obersten Richter (qazi-al-quzat) Haruns 15 ernannt wurde und gleichzeitig das Amt des obersten Mufti 16 übernahm, konnte sie keine Basis im Volk mehr haben. So besaß z.B. in unserer Zeit jemand wie Scheich Muhammad Abduh, der zu den intellektuellen sunnitischen Geistlichen Ägyptens gehörte, nur dann Autorität, wenn der Khedive 17 Abbas in seinem Namen eine Mitteilung herausgab, sonst erkannte das Volk seine Autorität als Mufti nicht an. Oder für Scheich Muhammad Schaltut, den großen ägyptischen Reformer, mußte Dschamal Abdel Nasser Mitteilungen herausgeben, und in seinem Zimmer mußte ein Bild Dschamal Abdel Nassers hängen. Es versteht sich von selbst, daß solche Leute keine Basis im Volk haben können und nicht in der Lage sein werden, sich gegen die herrschende Macht zu empören. Die schiitische Geistlichkeit jedoch basiert auf dem Prinzip, daß sie nicht auf die herrschende (unrechtmäßige) Macht angewiesen ist - im Gegenteil: Immer mußten Könige und Mächtige demütig zu ihnen kommen.

Das Geheimnis, warum die Geistlichen fähig waren, die Revolution zu führen, ist demnach ihre Unabhängigkeit und die Tatsache, daß sie niemals an (weltlicher) Macht teilhatten, sei es in Verbindung mit der Regierung oder nicht. Sie mußten sich niemals anderer als Sprachrohr bedienen, sie ließen niemals zu, daß Bilder der Machthaber in ihren Häusern aufgehängt wurden. Auch in Zukunft müssen der Geistlichkeit diese Werte gewahrt bleiben. Der Imam (Khomeini) hat ganz klar gesagt, daß Geistliche in der islamischen Republik keine Regierungsposten bekleiden sollen. Natürlich fallen einige Ämter in die Kompetenz der Geistlichen, wie das Lehr- oder Richteramt. Die Geistlichen dürfen aber keine Regierungsstellen einnehmen, sondern müssen der Regierung rechtleitend zur Seite stehen. Sie müssen die Tätigkeit der Regierung beobachten und überwachen. Vielleicht wäre ein kluger Weg zur Durchführung dieser Kontrolle, eine Institution "Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten" (amr bil maruf wa-nahy anil munkar) zu gründen, die unabhängig von der Regierung arbeiten soll. Zuletzt möchte ich noch einmal zusammenfassen: Die Geistlichkeit spielt in der Wahrung und dem weiteren Verlauf der Revolution eine grundlegende Rolle, sie muß sich bemühen, die ihr angemessene Stellung zu bewahren, und in erster Linie die Bewegung des Volkes fortführen, indem sie es in der rechten Weise leitet.

Anmerkungen

1.   Siehe die Monatszeitschrift "Tufan", Organ der kommunistischen Arbeiter- und Bauernpartei Irans, Nr. 15, mit einem Aufsatz unter dem Titel "Kein Gott, kein König, kein Held" (na huda, na schah, na qahraman), ebenso die Veröffentlichungen der Gruppe Furqin während der Revolution und besonders im Monat Bahman 1357 (Januar/Februar 1979). Motahhari ist durch Mitglieder der letztgenannten Gruppe getötet worden.

2.   Premierminister Irans zu Beginn der fünfziger Jahre

3.   Ein nicht religiöser Autor, der vor einigen Jahren zu den Ideologen der Tudeh-Partei gehörte, dessen Ansichten sich aber im Laufe der Zeit auf ein recht hohes Niveau entwickelt haben, hat vor einiger Zeit einen Artikel in einer Zeitschrift geschrieben und die gegenwärtige geistige Bewegung in Iran aus einer verhältnismäßig neutralen Sicht analysiert. In diesem Artikel hat der Verfasser einen Vergleich zwischen dieser Bewegung, der Verfassungsbewegung und der Verstaatlichung des Erdöls durchgeführt und daran erinnert, daß die Schuld am Mißerfolg der beiden früheren Bewegungen den "Laien" anzutasten ist, d.h. denjenigen, deren Politik nicht durch ihre Religion beeinflußt wird und die keinerlei religiöse Neigungen haben. Zu Beginn jeder dieser beiden Bewegungen haben die zwei Kräfte, die religiöse und die laizistische Kraft, zusammengehalten. Aber als es darum ging, den Nutzen daraus zu ziehen, kamen die Laien auf den Gedanken, die religiösen Gruppe zurückzustoßen. Deshalb konnten diese beiden Bewegungen zerschlagen werden. Bei der gegenwärtigen Revolution dachten die meisten Intellektuellen auch, daß es nur zwei bestimmende Kräfte in der Gesellschaft gebe, die wirtschaftliche und die politische. Niemand konnte voraussehen, daß eine dritte Kraft innerhalb der Gesellschaft existierte, die stärker und fester verwurzelt war als die anderen Kräfte, die Kraft, die letztlich der Revolution zum Sieg verhalf.

4.   M. Motahhari: Islamische Bewegungen in den letzten hundert Jahren (Nahzatha-ye Islami dar sad salhaa-ye ahir)

5.   Gemeint sind die Unruhen vom 15. Khordad 1342 (15. Juni 1963), in deren Folge Imam Khomeini 1964 ins Exil geschickt wurde. (Anm. d. Übersetzer)

6.   Enkel des Propheten Muhammad (s.a.s.), Martyrium 680. (Anm. d. Ü.)

7.   Hadith: Überlieferung über das Tun und Lassen und die Worte des Propheten (Anm. d. Ü.)

8.   Natürlich besteht ein Unterschied zu der Praxis derer, deren offene oder versteckte Absicht auf die Vernichtung des Islams abzielte.

9.   Hier besteht eine große Ähnlichkeit zur Situation bei Herausgabe dieser Broschüre (die Broschüre wurde 1985 veröffentlicht).

10.   Es geht um eine Diskussion um den Tauhid (Einheit Gottes) zwischen dem genannten Mufazzal und Imam Dschafar as-Sadiq (a.s.), dem sechsten Imam, Martyrium 147 (765 n.Chr.) (Anm. d. Ü.)

11.   Achter Imam, Martyrium 202 (818 n.Chr.) (Anm. d. Ü.)

12.   Abbassidischer Khalif, gest. 218 (833 n.Chr.) (Anm. d. Ü.)

13.   10. Muharram, Tag des Martyriums des Prophetenenkels Husayn am Orte Kerbela. Der Tag heißt Aschura (Anm. d. Ü.)

14.   Sammlung von Vorträgen, Aussprüchen und Gebeten des vierten Imams Ali Zain-ul Abidien (a.s.) mit dem Beinamen as-Sadschad - der sich (vor Gott) Nierderwerfende (Anm. d. Ü.)

15.   Abbassidischer Khalif 786-809 (Anm. d. Ü.)

16.   Mufti-yi A'azam, oberster Rechtsberater, Erteiler von Rechtsgutachten (Anm. d. Ü.)

17.   Vizekönig von Ägypten unter osmanischer Oberhoheit (Anm. d. Ü.)

Abkürzungen

a.s.    Frieden sei mit ihm bzw. ihnen [caleyhis-sal~m, caleyhumma sal~m]

s.a.s.  der Friede sei mit ihm und mit den Reinen seiner auserwählten Familie [allall~hu calayhi wa ~lih§ wa sallam]

 

 

gezeichnet von Mahdi Rowhan

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