Lieder des Mirza
mehr zu dem Buch siehe auch:

Mirza Schafi

Die Lieder des Mirza Schaffy

von Friedrich von Bodenstedt

Kapitel 9

1.

Frage und Antwort

»Du hast so oft uns schon gesungen,
Wie deiner Liebsten Wangen sind;
Wie Blumen, frisch im Lenz entsprungen,
Voll Lust und Blütenprangen sind –
Warum ist nie dein Lied erklungen
Von Zeiten, die vergangen sind?
Auch Helden deines Stammes waren
An Ruhm und hohen Ehren reich;
Es herrschten Fürsten der Tataren
Einst über alles Russenreich;
Der Tatarchan gebot den Zaren
Und machte sie den Sklaven gleich.
Er flog auf hohem Ruhmesflügel
Bis zu des großen Meeres Strand –
Stieg er zu Roß, hielt ihm den Bügel
Der Russenfürst mit eigner Hand,
Und reicht' ihm demutvoll den Zügel
Und küßte kniend sein Gewand.
Wohl ziemt's der Goldnen Horde Sohn,
Der Väter Tat im Lied zu ehren,
Und mit des alten Ruhmes Ton
Zu wecken neues Ruhmbegehren!«
Ich sprach: Die alten Sagen melden
Von großen und von kleinen Helden,
Die weithin mit der Goldnen Horde
Gestreift zu großem Menschenmorde.
Es drückt ein Volk das andre nieder
Und schwelgt in Siegesruhm und Glück –
Das andre Volk erhebt sich wieder,
Gibt die erlittne Schmach zurück –
So ist's in alter Zeit geschehn,
So kann man's jetzt und immer sehn;
Das ist kein Stoff für meine Lieder.
Erst machte sich der Tatarchan
Das Volk der Russen untertan,
Dann rächten sich die Russenscharen
Und unterjochten die Tataren;
Sie haben ihren Lohn dahin!
Was schert es mich, ob Volk und Fürsten
Nach Kriegesruhm und Beute dürsten,
Solch Tun ist nicht nach meinem Sinn.
Ein jeder bleib in seinem Kreise,
Ein jeder tu nach seiner Weise.
Ich singe nur, was mir gefällt,
Und davon gibt es in der Welt
So viel, dass ich mich allezeit
Von dieser Fülle nähren kann,
Und füglich die Vergangenheit
Mit ihrem Glanz entbehren kann.

 

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