Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Rumi

Aus dem Divan - Ich sah, wie auf zur Sonne sich schwang ein Adelaar

Ich sah, wie auf zur Sonne sich schwang ein Adelaar,
Und wie im Schatten girrte ein Turteltaubenpaar.

Ich sah, wie Wolkenherden der Ost am Himmel trieb,
Und auf der Flur dem Hirten sich stellten Lämmlein dar.

Ich hörte Sterne fragen: wann sollen wir entstehn?
Und Keim' im Körnchen: Sollen wir schlafen immerdar?

Ich sah ein Gras am Morgen erblühn, und vor der Nacht
Verblühn, und Cedern trotzen den Stürmen tausend Jahr.

Ich sah des Weltmeers Wogen, wie Kön'ge, schaumgekrönt,
Vorm Fels sich niederwerfen, wie Beter am Altar.

Ich sah ein Tröpflein funkeln, Juwel am Sonnenstrahl,
Das, aufgeglüht zu werden, nicht scheute die Gefahr.

Ich sah im Menschenwimmeln sich Städt' und Häuser bau'n,
Und Hügelein zu häufen sich müh'n Ameisenschar.

Ich sah das Roß des Kriegers zertreten Stand und Land,
Daß seine Hufe wurden von Blute rosenfar.

Ich sah den Winter weben aus Flocken ein Gewand
Der Erde, die der Frühling verlassen nackt und bar.

Den Webstuhl hört' ich sausen, der Sonnenschleier wob,
Und sah ein Räuplein weben sein Grab aus Fädlein klar.

Ich sahe Groß und Kleines, und sah auch Kleines groß;
Denn Gottes Gleichnis sah ich in allem, was da war.

Friedrich Rückert

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