Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Rumi

Aus dem Divan - Ich war am Tag, als noch kein Name war

Ich war am Tag, als noch kein Name war,
Und man vom Dasein noch kein Zeichen fand;
Zum Zeichen formte sich des Freundes Haar,
Und Gott nur war der einz'ge Gegenstand;
Es kamen alle Namen nur von mir,
Zur Zeit, als noch kein Ich war und kein Wir.

Ich betete den Schöpfer an, zur Zeit
Als noch Maria nicht den Heiland trug;
Ich maß das Kreuz, ich maß die Christenheit,
Doch nicht am Kreuz hing der, nach dem ich frug;
Ich ging zum Götzenhaus, zum Tempel hin,
Doch fruchtlos sucht' ich eine Farbe drin.
Ich wollte nun ihn in der Kaba schau'n,
Des Greises wie des Jünglings höchstem Ziel,
Und ging nach Kandahar, nach Herats Gau'n,
Und suchte unten, suchte oben viel;
Umsonst! – Da trieb's mich auf den Kaf zu gehn:
Doch war von Anka keine Spur zu sehn.

Durch sieben Erden drang ich fruchtlos vor:
Ich fand sie gleich den sieben Himmeln leer;
Ich frug des Schicksals Tafel und sein Rohr,
Doch von ihm sprachen beide nimmermehr;
Es sah mein Aug', der Gottheit zugewandt,
Nur das, was ich als göttlich nicht erkannt.

Nun blickt' ich in mein eignes Herz hinein,
Da fand ich ihn, den sonst ich nirgends fand;
Da fühlte ich des Rausches süße Pein,
Und jedes Stäubchen meines Seins verschwand;
Und so wie Tebris' Sonne, klar und hehr,
Erschien kein Trunkner und Entzückter mehr.

Vinzenz Rosenzweig von Schwannau

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