Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Sadi

Aus dem Bostan. Zweite Abteilung: Vom Wohlthun

Man lebe nicht von andrer Mühe

Ein Mann sah einen Fuchs einst ohne Beine,
Begriff nicht, wie hier Gottes Güt' erscheine;
»Ist's möglich, daß zu leben er vermag?
Woher erhält er Speise jeden Tag?«
Der Derwisch war darob in sich zerfallen;
Da kam ein Leu, den Schakal in den Krallen,
Der fraß den Schakal hier nach Löwen Art,
Genug blieb, daß der Fuchs auch satt noch ward;
Am andern Tag ließ sich ein Habicht nieder,
Und so versorgte Gott ihn immer wieder.
Da glaubt' ein neues Licht der Mann zu schaun.
Er wollte fortan nur auf Gott vertraun,
Als Ameis' in dem Winkel ruhig leben:
»Auch Löwen kann Gewalt den Fraß nicht geben.«
Das Kinn steckt' in den Kragen er in Ruh:
»Aus dem Verborgnen sendet Gott mir's zu.«
Doch will nicht Freund noch Fremder bei ihm pochen,
Wie Klauen dürr wird Ader, Haut und Knochen.
Als er Geduld und Sinne schon verlor,
Da aus der Zelle Wand schallt's an sein Ohr:
»Geh' Taugenichts, ein wilder Löwe werde,
Nicht wie ein lahmer Fuchs wirf dich zur Erde.
Als Löwe schaffe, daß was übrig ist,
Sei nicht ein Fuchs, der satt vom Rest sich frißt.«
Hat einer wie die Löwen starke Glieder,
Ein Hund ist er, legt er als Fuchs sich nieder.
Geh' hin auf Fang, gieb andern zum Genuß,
Und lau're nicht auf andrer Überfluß.
Kannst du's, mit eignem Arm dein Brot erjage:
Was du gethan nur wiegt auf deiner Wage.
Um andrer Wohl sei du als Mann bestrebt;
Ein Schurke, wer von andrer Mühe lebt.
Nimm bei der Hand, willst du dir raten lassen,
Latz nicht von andern bei der Hand dich fassen.
Dem Knechte wird der Herr nur gnädig sein,
Durch welchen die Geschöpfe sich erfreun.
Wer Hirn hat, wird auch gern großmütig schenken,
Denn haut- und hirnlos sind, die niedrig denken.
In beiden Welten trifft der Gutes an,
Der Gottes Volke Gutes hier gethan.

Karl Heinrich Graf

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