Über das Klima und die Häuser
in Flächenland
Wie bei
Ihnen gibt es auch bei uns vier Himmelsrichtungen: Norden,
Süden, Osten und Westen. Nur „oben“ und „unten“, wie Sie es
beschreiben, haben wir nicht. Bei uns ist „oben“ immer Norden
und „unten“ ist immer Süden. Weil es bei uns weder eine Sonne
noch andere Himmelskörper gibt, und wir auch keinen Kompass
haben, ist es für uns unmöglich, Norden in der für Sie
üblichen Weise zu bestimmen; aber wir haben unsere eigene
Methode. Infolge eines Naturgesetzes herrscht bei uns eine
beständige Anziehung nach Süden. Alle Figuren spüren eine
gewisse leichte Anziehung nach Süden. Obwohl diese Anziehung
in gemäßigten südlichen Zonen sehr schwach ist, so dass sogar
ein schwaches Kind ohne viel Kraft ohne besondere
Schwierigkeit mehrere Kilometer nordwärts wandern kann, ist
dennoch die hemmende Wirkung der Grundanziehung völlig
hinreichend, um uns in den meisten Teilen unserer Erde als
Kompass zu dienen. Da überdies der Regen, der zu bestimmten
Zeiten fällt, immer von Norden kommt, ist auch er uns ein
Hilfsmittel – bitte vergessen Sie nicht, dass wir kein „oben“
haben, von wo der Regen kommen könnte. In den Städten lassen
wir uns von den Häusern leiten, deren Seitenwände natürlich
größtenteils von Norden nach Süden laufen, so dass das Dach,
bzw. das, was wir Dach nennen, gegen den von Norden
einfallenden Regen schützen kann. Die Form unserer Häuser ist
wie in Abbildung 3 dargestellt.
Abbildung
3: Unsere Häuser in Flachenland
(ohne eingezeichnete Zimmer)
Fenster
gibt es in unsern Häusern nicht; denn das Licht umgibt uns
ohnehin überall, in unseren Wohnungen und auch draußen,
zumindest bei Tag, gleichmäßig an allen uns bekannten Orten.
Und Nachts wird es etwas schwächer, aber es genügt zum Sehen.
Woher das Licht kommt, das wissen wir leider nicht. In alten
Zeiten war es für unsere Gelehrten eine interessante und oft
bedachte Frage: “Wie entsteht das Licht?“, ohne dass
sie je befriedigend gelöst werden konnte. Aus frühen Zeiten
gab es bei uns einen Glauben, dass das Licht aus viel höheren
Gefilden stammt, aber kein Flächenländer wusste wirklich, was
damit gemeint war. Viele Besserwisser, die ohne tiefere
Kenntnis über die Welten sich an diese Frage herangetraut
haben, sind im Irrenhaus gelandet oder vom Glauben abgefallen.
Bitte Geduld lieber Leser, über den Glauben bei uns erzähle
ich später.
Ein großer
Gelehrter – ein perfekter fehlerfreier Kreis –, den ich immer
sehr gerne besuchte und seinen Lehren lauschte, erzählte mir
von anderen Welten, von Himmeln und faszinierenden Eindrücken.
Auch wenn ich im tiefsten Herzen spürte, dass dieser große
Gelehrte, dieser alte Kreis, den ich liebevoll “mein
geehrter Kreis“ nannte, die Sprache meiner Seele berührte,
so konnte ich ihn dennoch kaum verstehen. Nur eines machte
mich sehr nachdenklich: Er sagte mir immer wieder, dass ich
zwar nicht jedes Geheimnis verstehen könne, aber dass ich mit
ein wenig Glauben an den Schöpfer allen Seins die Begrenztheit
unserer zwei Dimensionen überwinden könnte.
Heute weiß
ich, wie Recht er doch hatte, und ich weiß jetzt nur zu gut
die wirkliche Lösung dieses geheimnisvollen Problems vom Licht
in unserer Welt, aber meine Kenntnis kann ich nur den
wenigsten meiner Landsleute verständlich machen. Meine Sprache
reicht nicht aus, um die Schönheit zu beschreiben, die ich
gesehen habe. Und wenn ich es dennoch versuche, dann
verspottet man mich, der ich doch jetzt die Kenntnis der
Wahrheit über den Raum und über die Quelle des Lichts aus der
Welt der drei Dimensionen habe. Manche behandeln mich dann
sogar so, als ob ich der Wahnsinnigste der Wahnsinnigen wäre.
Dabei habe ich doch nur etwas gesehen, was viele noch nicht
gesehen haben, aber auch sehen könnten. Vielleicht hätte ich
meine Geschichte auch nur denjenigen erzählen sollen, die mir
zuhören wollten, wie mein alter weiser Lehrer es tat. Aber
hören wir auf mit diesen Abschweifungen, lassen Sie mich zu
unseren Behausungen zurückkehren.
Die
häufigste Form für den Bau eines Hauses ist das regelmäßige
Fünfeck, wie es bereits in Abbildung 3 gezeigt wurde. Die zwei
Nordseiten bilden das Dach, oder zumindest das, was wir Dach
nennen. Und im Dach ist unsere Gebetsecke nach Norden
ausgerichtet, aber dazu später mehr, denn auch wir beten. Im
Osten ist eine Tür für die Frauen, im Westen eine Tür für die
Männer, die Südseite oder der Fußboden ist gewöhnlich ohne
Tür. Quadratische und dreieckige Häuser sind nicht gestattet,
und zwar aus folgendem Grund: Die Winkel, also die Ecken eines
Quadrats – und noch mehr die eines gleichseitigen Dreiecks –
sind spitzer als die eines Fünfecks, und die Linien unbelebter
und unbeweglicher Gegenstände (z.B. der Häuser) sind für uns
undeutlicher erkennbar als die Linien von Männern und Frauen.
Daher würde also die Gefahr bestehen, dass die Ecken eines
quadratischen oder gar dreieckigen Wohnsitzes einem
unachtsamen oder zerstreuten Reisenden, der dagegen läuft,
ernsthaften Schaden zufügen könnten. Daher wurden dreieckige
Häuser allgemein durch das Gesetz verboten. Die einzige
Ausnahme bilden Befestigungen, Kasernen und andere der
Verteidigung des Staates gewidmete Gebäude, denen sich das
Publikum ohnehin nur mit äußerster Vorsicht nähern darf.
Eine
weitere Ausnahme bilden drei übergroße Quadrate im Norden
unseres Landes. Diese sind Gebäude von viel, viel größeren
Ausmaßes als die gewöhnliche Größe von Menschen! Ein perfektes
und gut erhaltenes Quadrat im äußersten Norden unseres Landes
besuchen Einige, um es zu umkreisen. In einem weiteren
übergroßen Quadrat, nicht weit davon entfernt, gibt es eine
große Kreuzung von einer langen und einer etwas kürzeren
Linie, wobei die kurze Linie in der Mitte und die lange etwas
versetzt von der Mitte gekreuzt wird. Jenes übergroße Quadrat,
in dem jene Kreuzung der Striche steht, wird wiederum von
anderen gerne besucht. Und von einem dritten übergroßen
Quadrat existiert heute nur noch eine Seite, also eine Linie.
Die anderen Linien sind in der Geschichte von Flächenland
zerstört worden. Doch auch diese verbliebene Linie gilt für
einige unserer Bewohner als heilig, wie auch die vorher
genannten übergroßen Quadrate. Die Besucher aller drei
übergroßen Quadrate streiten sich durchgehend darüber, welches
übergroße Quadrat denn das schönste und beste sei. Und es wird
Sie – verehrte Leser – sicherlich nicht besonders überraschen,
dass jeder sein eigenes verehrtes übergroßes Quadrat am
schönsten findet, aber solch eitles Gezänk gibt es sicher nur
in Flächenland.
Kurz nach
den übergroßen Quadraten, also noch weiter im Norden, gibt es
keine Zivilisation mehr. Man könnte noch tausende und
abertausende Jahre weiterwandeln und würde auf keinen
Flächenländer stoßen. Manche unserer Wissenschaftler
behaupten, dass man Millionen von Jahren in die gleiche
Richtung gehen könnte, aber solche Gebiete unserer Welt haben
wir verständlicherweise noch nicht erforscht, da wir nur
ähnlich lange Leben, wie die Bewohner in Ihrer Welt, verehrter
Leser. Manche ganz tapfere mathematisch veranlagte
Wissenschaftler bei uns behaupten sogar, dass wenn man lange
genug nach Norden geht, man wieder im Süden ankommen würde,
aber sie können es zumindest kaum anschaulich machen, wie das
mit rechten Dingen zugehen soll.
Ich selbst
lebe mit meiner Familie in einem schönen einfachen Fünfeck.