Über die Bewohner von
Flächenland
Die
übliche Länge, Breite oder Durchmesser eines erwachsenen
Bewohners von Flächenland kann auf ungefähr 10 eurer
Zentimeter geschätzt werden. 12 Zentimeter kann man als
Maximum ansehen. Unsere Frauen sind schlanke Dreiecke. Nur
wenn sie schwanger sind, gleichen sie gleichseitigen
Dreiecken, da das heranwachsende Kind die drei Winkel der Frau
mit fortschreitender Schwangerschaft auf 60 ihrer Grade
verändert. Unsere Männer sind aus Ihrer Sicht Vierecke mit
Seiten die Senkrecht zueinander stehen, also Rechtecke bis hin
zu Quadraten, je nach Alter. Die noch nicht ausgereiften
jungen Männer sehen eher aus wie Rechtecke, und die kleinen
Kinder fast wie ein Strich, unabhängig davon ob Junge oder
Mädchen.
Nur
besonders weise Menschen in unserer Welt entwickeln mit der
Zeit Rundungen an ihren Kanten und Winkeln, und je weiser sie
werden, desto mehr ähneln sie einem Kreis, sowohl die Männer
als auch die Frauen, wobei die Frauen eher einem Oval ähneln.
Bis heute konnten unserer Wissenschaftler dieses Phänomen der
Abrundung von Ecken und der Deformation von Strecken in Kurven
nicht erklären.
Unsere
Kinder sind – wie bereits erwähnt – bis zu einem bestimmten
Alter annähernd kleine Linien. Mit der Zeit wird die Linie
größer bzw. länger, oder sollten wir lieber sagen „breiter“
und die Merkmale des Geschlechts werden deutlich. Die
erwachsenen Männer entwickeln sich zu Rechtecken und dann zum
Quadrat, wenn sie ausgereift sind. Sobald der erste Ansatz
eines Rechtecks aus der Linie entsteht und erkennbar ist,
gehen die Knaben auf Brautschau. Sie suchen dabei eine Frau –
also ein Dreieck – mit einer bestimmten Mindestlänge. Die Ehen
werden in der Regel von den Weisen in der Gesellschaft, also
den Kreisen geschlossen. Jene Kreise knöpfen sich vor der
Eheschließung den Jungen und das Mädchen vor und erzählen
ihnen viele Geheimnisse der ehelichen Geometrie und wünschen
beiden, dass sie eines Tages eines der heiligen übergroßen
Quadrate im Norden besuchen können, je nachdem, welches
übergroße Quadrat sie anstreben.
Unsere
Soldaten sind ausschließlich junge Männer, die stabil
rechteckig gebaut sind. An ihrer Figur tragen sie lauter
kleinere keilartige Gebilde, mit denen sie Gegnern viel
Schaden zufügen können, wenn sie die Gebilde werfen.
Wenn aber
schon die keilartige Gebilde, also äußerst spitzen Dreiecke,
die unsere Soldaten mit sich führen, sehr gefährlich sind,
wird es leicht einzusehen sein, dass man sich vor unseren
Kindern noch weit mehr in Acht nehmen muss. Denn wenn ein
Soldat einen Keil bei sich trägt, so ist ein Kind selbst
bereits eine Nadel, es ist sozusagen ganz und gar ein Punkt,
wenigstens an den beiden Enden. Bedenken Sie bitte dazu die
Fähigkeit, sich nach Belieben praktisch unsichtbar zu machen,
und Sie werden verstehen, dass ein Kind in Flächenland ein
Geschöpf ist, mit dem durchaus nicht zu spaßen ist. Es bedarf
einer sehr behutsamen und liebevollen Erziehung, da es sonst
viel Schaden anrichten kann.
Aber an
dieser Stelle werden vielleicht einige der geometrisch weniger
erfahrenen Leser erstaunt fragen, wie ein Kind sich in
Flächenland denn unsichtbar machen kann. Dies sollte
eigentlich ohne große Erklärung verständlich sein. Legen Sie
eine Nadel auf einen Tisch. Dann sehen Sie sich die Nadel von
der Spitze her an, mit Ihrem Auge in der Ebene des Tisches,
und Sie sehen nichts als einen Punkt: Die Nadel ist praktisch
unsichtbar geworden. Genauso ist es mit unseren Kindern. Wenn
das Ende, an dem sich das Auge oder der Mund befindet – diese
beiden Organe sind bei uns identisch – dem Auge des
Betrachters begegnet, sieht er nichts als einen schwach
leuchtenden Punkt. Die Gefahren, denen wir von Seiten unserer
Kinder ausgesetzt sind, müssen nun auch dem geringsten
Begriffsvermögen in Raumland einleuchten. Wenn die bloße
Berührung mit den Waffen eines einfachen Soldaten Todesgefahr
mit sich bringt, was kann es dann anderes bedeuten,
versehentlich gegen ein Kind zu laufen, als sofortige und
völlige Vernichtung? Und wenn ein Kind unsichtbar ist oder nur
als dunkler, schwach leuchtender Punkt sichtbar, wie schwierig
muss es dann auf Dauer sogar für die Vorsichtigsten sein,
einen Zusammenstoß zu vermeiden! Dabei können diese kleinen
Wesen doch auch so viel Freude schenken, wenn man ihrem Geiste
Entfaltung gewährt.
Zahlreich
sind die Gesetze, die zu den verschiedenen Zeiten in den
verschiedenen Staaten Flächenlands erlassen worden sind, um
diese Gefahr des Zusammenpralls zu vermindern; und in den
nördlicheren und weniger gemäßigten Zonen, wo die Schwerkraft
größer ist und die Wesen zufälligen und unbeabsichtigten
Bewegungen mehr ausgesetzt sind, sind die Gesetze für Kinder
verständlicherweise viel strenger. Deswegen reisen auch immer
nur Erwachsene zu den übergroßen Quadraten. Letztendlich aber
haften in Flächenland Eltern für ihre Kinder und müssen sich
entsprechend vor sie platzieren, um Zusammenstöße zu
vermeiden. Glücklicherweise machen unsere Kinder aber fast
immer viel Lärm, außer sie schlafen, so dass allein dadurch
ihre Nähe gespürt werden kann. Der Leser soll bei
Schilderungen dieser Gefahren aber nicht denken, dass Kinder
in Flächenland nur eine Plage seien. Vielmehr sind sie die
Figuren unserer Gesellschaft, die auch uns Ältere jung halten
und welche unsere geometrische Entwicklung fördern. Nicht
zuletzt bereiten sie uns viel Freude und kaum ein
Flächenländer wollte sie missen. Eine Gesellschaft ohne die zu
bändigende wilde Kraft von Kindern kann sich ein Flächenländer
gar nicht vorstellen.
Um Ihnen,
verehrter Leser, noch einmal die Erinnerung zu geben, die
unterschiedlichen Charaktere unseres bescheidenen Daseins zu
verstehen, führe ich Sie hier noch einmal in dem Kasten, den
Sie Tabelle nennen, an: