Unsere Methoden, einander
zu erkennen
Sie, die
Sie mit Schatten wie mit Licht gesegnet sind; Sie, denen zwei
Augen geschenkt sind; Sie, die Sie begabt sind mit der
Kenntnis der Perspektive; die Sie sich erfreuen können am
Genuss verschiedener Farben; Sie, die Sie einen Winkel
tatsächlich sehen können; die Sie den vollständigen Umfang
eines Kreises im glücklichen Lande der drei Dimensionen
betrachten können, wie soll ich Ihnen die außerordentliche
Schwierigkeit klar machen, denen wir in Flächenland begegnen,
wenn wir die Gestalt eines anderen erkennen wollen?
Erinnern
Sie sich bitte daran, was ich Ihnen bereits erzählt habe. Alle
Wesen in Flächenland, belebt oder unbelebt, ganz gleichgültig
von welcher Form, bieten unserem Blick die gleiche oder nahezu
die gleiche Erscheinung dar, nämlich die einer geraden Linie.
Wie soll man nun einen vom andern unterscheiden, wenn alle
gleich erscheinen? Darauf gibt es drei Antworten.
Das erste
Mittel, jemanden zu erkennen, ist das Gehör; dieser Sinn ist
bei uns weit höher entwickelt als bei Ihnen, und es befähigt
uns nicht nur, unsere persönlichen Freunde an der Stimme zu
erkennen, sondern sogar zwischen verschiedener Abstammung und
Herkunft zu unterscheiden. Der Tastsinn hingegen ist unter
unseren Frauen weitaus ausgeprägter und das hauptsächlichste
Erkennungsmittel. Meine Leser mögen jedoch nicht annehmen,
dass das Ertasten bei uns ein so langwieriger Vorgang ist wie
bei Ihnen, oder dass wir es nötig haben, um alle Seiten eines
Individuums rundherum zu tasten, bevor wir ihn erkennen. Lange
Erfahrung und Übung, in der Schule begonnen und in dem Umgang
des täglichen Lebens fortgesetzt, befähigen uns, sofort den
Winkel eines Dreiecks zu ertasten; und ich brauche nicht zu
sagen, dass die Spitze eines einfachen Strichs mit der
plumpsten Berührung ertastet werden kann, so dass wir unsere
Kinder sofort erkennen.
Dagegen
bedarf es bei abgerundeten Dreiecken und Quadraten eines sehr
gut entwickelten Tastsinns. Für Sie dreidimensionale Wesen ist
dies leicht nachvollziehbar, da Sie doch sehen können, wie
sehr sich abgerundete und spitze Formen ähneln.
Diejenigen
meiner aufmerksamen Leser, die sich der Gefahren in
Flächenland nunmehr bewusst geworden sind, werden sicherlich
einsehen, dass eine Vorstellung durch Berührung eine gewisse
Vorsicht und Diskretion erfordert. Sonst könnten die Ecken und
Spitzen dem unvorsichtigen Ertaster nicht reparable Schäden
zufügen. Für die Sicherheit des Tastenden ist es nötig, dass
sein Gegenüber vollständig still steht. Ein Zusammenzucken,
ein nervöses Verändern des Standortes, ja gar ein heftiges
Niesen haben sich bekanntermaßen für unvorsichtige Leute als
verhängnisvoll erwiesen und manche anfänglich viel
versprechende Freundschaft im Keime erstickt. Auch Eltern
haben manchmal unter der Zappeligkeit ihrer Kinder zu leiden.
Besonders kritisch ist das bei den Kindern, die durch ein
ungeeignetes Niesen einen Menschen verletzen können; diese
doch so lieben Kinder.
An dieser
Stelle erscheint es mir notwendig, auf eine Frage der Leser
einzugehen, der jetzt möglicherweise denkt: „Wie könnt ihr
denn in Flächenland irgend etwas über Winkel und Rundungen
wissen?“ Und die Frage ist durchaus berechtigt. Denn
schließlich können Sie in Raumland einen Winkel und eine Kurve
sehen, weil Sie in der Dimension des Raumes zwei sich
schneidende Linien – sozusagen von oben – sehen können, sowie
Sie auch gekrümmte Linien sofort von geraden Strecken zu
unterscheiden vermögen; aber wir, die wir weiter nichts sehen
können als eine Gerade oder höchstens doch nur einige Stücke
von Geraden, die alle wieder in einer Geraden liegen, wie
können wir also einen Winkel, Kurven und Strecken voneinander
und untereinander unterscheiden?
Darauf antworte ich, dass wir diese Formen tatsächlich nie
direkt sehen können, sie jedoch aus den Gegebenheiten folgern
und aus anderen Merkmalen erschließen können, und zwar mit
großer Genauigkeit. Unser Tastsinn, zwangsläufig immer wieder
angespornt und durch lange Übung entwickelt, befähigt uns, die
Winkel und Kurven viel genauer zu unterscheiden als Ihr
Sehsinn im Raumland, falls Sie nicht einen Winkelmesser zu
Hilfe nehmen.
Es sei
aber erwähnt, dass auch unsere Erkenntnis vom Gegenüber
letztendlich nicht durch einen Sinn allein, sondern durch eine
Reihe von Sinnen entsteht, die uns ein Gesamtbild vermitteln,
ganz wie Sie Raumländer einen fremden Menschen doch niemals
über seine Hautfarbe oder Kleidung bewerten würden. Und neben
dem sehr genauen Tastsinn und Hörsinn verfügen wir über einen
dritten Sinn, mit dem wir erstaunlicherweise bewegliche Teile
erkennen können. Daher will ich jetzt den wichtigsten Sinn,
das Erkennen mit dem Sehsinn in Flächenland, erläutern.
In den
vorhergehenden Worten habe ich darauf hingewiesen, dass alle
Figuren in Flächenland die Erscheinung einer Geraden besitzen,
worin auch die scheinbare Unmöglichkeit liegt, eine Person von
einer anderen Person allein mit dem Sehsinn zu unterschieden.
Aber jetzt will ich meinen Kritikern aus Raumland erklären,
wie wir dennoch befähigt sind, einander auch mit dem Sehsinn
zu erkennen. Diese Möglichkeit ist uns allerdings nur an Orten
gegeben, die viel Nebel aufweisen – der Nebel ist die
Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Sehsinns.
Wenn wir
keinen Nebel hätten, würden alle Linien gleich und
ununterscheidbar klar erscheinen; und dies ist tatsächlich der
Fall in den unglücklichen Ländern, wo die Atmosphäre
vollständig trocken und durchsichtig ist. Aber überall, wo es
Nebel gibt, sind die Gegenstände bei einer Entfernung von,
sagen wir, 10 Zentimetern merklich undeutlicher als bei einer
Entfernung von 5 Zentimetern; und daraus folgt, dass wir durch
sorgfältige und beständige Beobachtung der Lichtverhältnisse
befähigt sind, die Gestalt des beobachteten Gegenstandes zu
erahnen.
Angenommen, ich sehe zwei Individuen auf mich zukommen, über
deren Gestalt ich mich vergewissern möchte. Es mögen ein
großer Gelehrter und ein einfacher Bürger sein, oder mit
andern Worten, ein fast perfekter Kreis und ein Rechteck; wie
soll ich sie unterscheiden?
Stellen
Sie sich vereinfacht einen in einem bestimmten Abstand fast
undurchdringlichen Nebel vor. Erst wenn man näher kommt,
erscheint die Figur. Dahinter ist er nicht sichtbar oder nur
sehr verschwommen. Wenn nun ein Quadrat auf mich zukommt, so
sehe ich eine langsam länger werdende Linie, oder, falls er
mit einer Seite senkrecht auf mein Auge zukommt, sehe ich
diese Linie plötzlich und ohne eine merkliche Veränderung der
Größe. Ein Kreis jedoch würde mir seine Gestalt durch das
rasche Größerwerden seiner Randlinie offenbaren, da die
Abschnitte seiner Außenlinie, die von mir weiter entfernt
liegen, im Nebel dunkler erscheinen und erst mit schrumpfender
Entfernung zu mir an Helligkeit gewinnen.
Nun mag
der gebildete Leser aus Raumland sicher einwerfen, dass doch
die Größen der Linien schon bei Bewegungen ohne Nebel als
wachsend und schrumpfend erscheinen müssten, ganz wie in
Raumland Menschen in großer Entfernung winzig erscheinen. Das
ist richtig, dieses perspektivische Phänomen gibt es auch bei
uns in Flächenland. Der Leser mag nun denken, dass dies eine
Erkennung durch den Sehsinn auch bei Nebel zu einem Ding der
Unmöglichkeit machen würde, aber nein: Zum einen lässt der
Nebel die Außenlinien verschieden deutlich oder undeutlich
erscheinen, dies ist ein wichtiges Kriterium für die
Entfernung der Figur. Zum anderen aber sind den Ausmaßen der
Bewohner von Flächenland, wie auch euch denen der Bewohnern
von Raumland, enge Grenzen gesetzt. Wie ich Eingangs schon
erwähnte, betragen die Durchmesser Erwachsener im Durchschnitt
zehn Zentimeter.
Um es noch
mehr zu verdeutlichen: Wenn in Raumland neben Ihnen auch
Menschen leben würden, die dutzende Meter oder nur wenige
Zentimeter groß wären, hätten Sie größte Mühe, die Entfernung
dieser Menschen zu Ihnen abzuschätzen. Dies ist jedoch
glücklicherweise bei Ihnen genauso wenig der Fall wie bei uns.
Nichtsdestotrotz bedarf diese Fähigkeit eines intensiven
Trainings schon in frühesten Kindertagen. Letztlich befähigen
uns die jahrelangen Erfahrungen mit den Erscheinungen von
Nebel und Perspektive das jeweilige Gegenüber auch mit dem
Blick zu erkennen, obwohl er nur als Strich erscheint.