Flächenland
Flächenland für Gläubige

von

Yavuz Özoguz

und

Huseyin Özoguz

Inhaltsverzeichnis

Unsere Methoden, einander zu erkennen

Sie, die Sie mit Schatten wie mit Licht gesegnet sind; Sie, denen zwei Augen geschenkt sind; Sie, die Sie begabt sind mit der Kenntnis der Perspektive; die Sie sich erfreuen können am Genuss verschiedener Farben; Sie, die Sie einen Winkel tatsächlich sehen können; die Sie den vollständigen Umfang eines Kreises im glücklichen Lande der drei Dimensionen betrachten können, wie soll ich Ihnen die außerordentliche Schwierigkeit klar machen, denen wir in Flächenland begegnen, wenn wir die Gestalt eines anderen erkennen wollen?

Erinnern Sie sich bitte daran, was ich Ihnen bereits erzählt habe. Alle Wesen in Flächenland, belebt oder unbelebt, ganz gleichgültig von welcher Form, bieten unserem Blick die gleiche oder nahezu die gleiche Erscheinung dar, nämlich die einer geraden Linie. Wie soll man nun einen vom andern unterscheiden, wenn alle gleich erscheinen? Darauf gibt es drei Antworten.

Das erste Mittel, jemanden zu erkennen, ist das Gehör; dieser Sinn ist bei uns weit höher entwickelt als bei Ihnen, und es befähigt uns nicht nur, unsere persönlichen Freunde an der Stimme zu erkennen, sondern sogar zwischen verschiedener Abstammung und Herkunft zu unterscheiden. Der Tastsinn hingegen ist unter unseren Frauen weitaus ausgeprägter und das hauptsächlichste Erkennungsmittel. Meine Leser mögen jedoch nicht annehmen, dass das Ertasten bei uns ein so langwieriger Vorgang ist wie bei Ihnen, oder dass wir es nötig haben, um alle Seiten eines Individuums rundherum zu tasten, bevor wir ihn erkennen. Lange Erfahrung und Übung, in der Schule begonnen und in dem Umgang des täglichen Lebens fortgesetzt, befähigen uns, sofort  den Winkel eines Dreiecks zu ertasten; und ich brauche nicht zu sagen, dass die Spitze eines einfachen Strichs mit der plumpsten Berührung ertastet werden kann, so dass wir unsere Kinder sofort erkennen.

Dagegen bedarf es bei abgerundeten Dreiecken und Quadraten eines sehr gut entwickelten Tastsinns. Für Sie dreidimensionale Wesen ist dies leicht nachvollziehbar, da Sie doch sehen können, wie sehr sich abgerundete und spitze Formen ähneln.

Diejenigen meiner aufmerksamen Leser, die sich der Gefahren in Flächenland nunmehr bewusst geworden sind, werden sicherlich einsehen, dass eine Vorstellung durch Berührung eine gewisse Vorsicht und Diskretion erfordert. Sonst könnten die Ecken und Spitzen dem unvorsichtigen Ertaster nicht reparable Schäden zufügen. Für die Sicherheit des Tastenden ist es nötig, dass sein Gegenüber vollständig still steht. Ein Zusammenzucken, ein nervöses Verändern des Standortes, ja gar ein heftiges Niesen haben sich bekanntermaßen für unvorsichtige Leute als verhängnisvoll erwiesen und manche anfänglich viel versprechende Freundschaft im Keime erstickt. Auch Eltern haben manchmal unter der Zappeligkeit ihrer Kinder zu leiden. Besonders kritisch ist das bei den Kindern, die durch ein ungeeignetes Niesen einen Menschen verletzen können; diese doch so lieben Kinder.

An dieser Stelle erscheint es mir notwendig, auf eine Frage der Leser einzugehen, der jetzt möglicherweise denkt: „Wie könnt ihr denn in Flächenland irgend etwas über Winkel und Rundungen wissen?“ Und die Frage ist durchaus berechtigt. Denn schließlich können Sie in Raumland einen Winkel und eine Kurve sehen, weil Sie in der Dimension des Raumes zwei sich schneidende Linien – sozusagen von oben – sehen können, sowie Sie auch gekrümmte Linien sofort von geraden Strecken zu unterscheiden vermögen; aber wir, die wir weiter nichts sehen können als eine Gerade oder höchstens doch nur einige Stücke von Geraden, die alle wieder in einer Geraden liegen, wie können wir also einen Winkel, Kurven und Strecken voneinander und untereinander unterscheiden?

Darauf antworte ich, dass wir diese Formen tatsächlich nie direkt sehen können, sie jedoch aus den Gegebenheiten folgern und aus anderen Merkmalen erschließen können, und zwar mit großer Genauigkeit. Unser Tastsinn, zwangsläufig immer wieder angespornt und durch lange Übung entwickelt, befähigt uns, die Winkel und Kurven viel genauer zu unterscheiden als Ihr Sehsinn im Raumland, falls Sie nicht einen Winkelmesser zu Hilfe nehmen.

Es sei aber erwähnt, dass auch unsere Erkenntnis vom Gegenüber letztendlich nicht durch einen Sinn allein, sondern durch eine Reihe von Sinnen entsteht, die uns ein Gesamtbild vermitteln, ganz wie Sie Raumländer einen fremden Menschen doch niemals über seine Hautfarbe oder Kleidung bewerten würden. Und neben dem sehr genauen Tastsinn und Hörsinn verfügen wir über einen dritten Sinn, mit dem wir erstaunlicherweise bewegliche Teile erkennen können. Daher will ich jetzt den wichtigsten Sinn, das Erkennen mit dem Sehsinn in Flächenland, erläutern.

In den vorhergehenden Worten habe ich darauf hingewiesen, dass alle Figuren in Flächenland die Erscheinung einer Geraden besitzen, worin auch die scheinbare Unmöglichkeit liegt, eine Person von einer anderen Person allein mit dem Sehsinn zu unterschieden. Aber jetzt will ich meinen Kritikern aus Raumland erklären, wie wir dennoch befähigt sind, einander auch mit dem Sehsinn zu erkennen. Diese Möglichkeit ist uns allerdings nur an Orten gegeben, die viel Nebel aufweisen – der Nebel ist die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Sehsinns.

Wenn wir keinen Nebel hätten, würden alle Linien gleich und ununterscheidbar klar erscheinen; und dies ist tatsächlich der Fall in den unglücklichen Ländern, wo die Atmosphäre vollständig trocken und durchsichtig ist. Aber überall, wo es Nebel gibt, sind die Gegenstände bei einer Entfernung von, sagen wir, 10 Zentimetern merklich undeutlicher als bei einer Entfernung von 5 Zentimetern; und daraus folgt, dass wir durch sorgfältige und beständige Beobachtung der Lichtverhältnisse befähigt sind, die Gestalt des beobachteten Gegenstandes zu erahnen.

Angenommen, ich sehe zwei Individuen auf mich zukommen, über deren Gestalt ich mich vergewissern möchte. Es mögen ein großer Gelehrter und ein einfacher Bürger sein, oder mit andern Worten, ein fast perfekter Kreis und ein Rechteck; wie soll ich sie unterscheiden?

Stellen Sie sich vereinfacht einen in einem bestimmten Abstand fast undurchdringlichen Nebel vor. Erst wenn man näher kommt, erscheint die Figur. Dahinter ist er nicht sichtbar oder nur sehr verschwommen. Wenn nun ein Quadrat auf mich zukommt, so sehe ich eine langsam länger werdende Linie, oder, falls er mit einer Seite senkrecht auf mein Auge zukommt, sehe ich diese Linie plötzlich und ohne eine merkliche Veränderung der Größe. Ein Kreis jedoch würde mir seine Gestalt durch das rasche Größerwerden seiner Randlinie offenbaren, da die Abschnitte seiner Außenlinie, die von mir weiter entfernt liegen, im Nebel dunkler erscheinen und erst mit schrumpfender Entfernung zu mir an Helligkeit gewinnen.

Nun mag der gebildete Leser aus Raumland sicher einwerfen, dass doch die Größen der Linien schon bei Bewegungen ohne Nebel als wachsend und schrumpfend erscheinen müssten, ganz wie in Raumland Menschen in großer Entfernung winzig erscheinen. Das ist richtig, dieses perspektivische Phänomen gibt es auch bei uns in Flächenland. Der Leser mag nun denken, dass dies eine Erkennung durch den Sehsinn auch bei Nebel zu einem Ding der Unmöglichkeit machen würde, aber nein: Zum einen lässt der Nebel die Außenlinien verschieden deutlich oder undeutlich erscheinen, dies ist ein wichtiges Kriterium für die Entfernung der Figur. Zum anderen aber sind den Ausmaßen der Bewohner von Flächenland, wie auch euch denen der Bewohnern von Raumland, enge Grenzen gesetzt. Wie ich Eingangs schon erwähnte, betragen die Durchmesser Erwachsener im Durchschnitt zehn Zentimeter.

Um es noch mehr zu verdeutlichen: Wenn in Raumland neben Ihnen auch Menschen leben würden, die dutzende Meter oder nur wenige Zentimeter groß wären, hätten Sie größte Mühe, die Entfernung dieser Menschen zu Ihnen abzuschätzen. Dies ist jedoch glücklicherweise bei Ihnen genauso wenig der Fall wie bei uns.

Nichtsdestotrotz bedarf diese Fähigkeit eines intensiven Trainings schon in frühesten Kindertagen. Letztlich befähigen uns die jahrelangen Erfahrungen mit den Erscheinungen von Nebel und Perspektive das jeweilige Gegenüber auch mit dem Blick zu erkennen, obwohl er nur als Strich erscheint.

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