Flächenland
Flächenland für Gläubige

von

Yavuz Özoguz

und

Huseyin Özoguz

Inhaltsverzeichnis

Wie ich vergeblich versuchte, Flächenland zu erklären

Immer noch in meinem Traum hielt ich es nun an der Zeit, den Monarchen aus seinen Phantasien wieder auf die höhere Ebene unseres gesunden Menschenverstandes des Flächenländers zurückzubringen, und so entschloss ich mich, ihm einige Einblicke in die Wahrheit zu geben, d.h. in die Natur der Dinge in Flächenland.

So begann ich also: „Wie unterscheiden Eure Königliche Hoheit die Gestalt und den Standort Ihrer Untertanen? Ich meinerseits habe, ehe ich Euer Königreich betrat, mit dem Gesichtssinn wahrgenommen, dass einige von Ihren Leuten Linien und andere Punkte sind, und dass manche Linien größer und andere kleiner sind“ – „Sie sprechen von einer Unmöglichkeit“, unterbrach mich der König, „Sie müssen eine Vision gehabt haben; denn den Unterschied zwischen einer Linie und einem Punkt mit dem Gesichtssinn aufzudecken, ist, wie jedermann weiß, unmöglich; das liegt in der Natur der Dinge. Aber er kann durch den Gehörsinn aufgedeckt werden, und durch dasselbe Mittel kann man sich meiner Gestalt vergewissern. Sehen Sie mich an, ich bin eine Linie, die längste in Linienland, und sechs Zentimeter Raum“„Sie meinen Länge“, wagte ich zu äußern. „Dummkopf,“ sagte er, „Raum ist Länge. Wenn Sie mich noch einmal so unverschämt unterbrechen, haben wir nichts mehr miteinander zu tun.“

Er fuhr fort: „Sie sollen jetzt mit Ihren eigenen Ohren hören, wie ich mit Hilfe meiner beiden Stimmen meine Frau, die in diesem Augenblick sechshundert Zentimeter und siebzig Millimeter entfernt ist, meine Gestalt verrate. Hören Sie zu, ich werde nach ihr rufen.“ Er zirpte und fuhr dann gemächlich fort: „Meine Frau empfängt in diesem Augenblick den Ton von einer meiner Stimmen, dicht gefolgt von dem der andern; und da sie wahrnimmt, dass der zweite Ton sie nach einem Zeitraum erreicht, in welchem der Schall 67 Millimeter zurücklegen kann, wissen sie, dass der eine Mund 67 Millimeter weiter von ihnen entfernt sein muss als der andere. Aber Sie haben bestimmt Verständnis dafür, dass meine Frau diese Berechnung nicht jedes Mal ausführt, wenn sie meine Stimme hört. Sie macht sie ein für alle mal, ehe wir uns heirateten.“

„Aber wie“, sagte ich, „wenn ein Mann die Stimme einer Frau nachahmt? Kann eine solche Täuschung nicht große Unzuträglichkeiten hervorrufen? Und haben Sie keine Mittel, Betrügereien dieser Art zu begegnen, indem Sie Ihren benachbarten Untertanen befehlen, einander zu betasten?“ Dies war natürlich eine sehr dumme Frage, denn ein Betasten hätte dem Zweck nicht entsprechen können. „Was soll das denn bedeuten?“, rief der König entsetzt, „erklären Sie Ihre Meinung!“ „Betasten, berühren, Kontakt miteinander haben“, erwiderte ich, aber während ich meine Worte aussprach, dämmerte es mir, dass ein „Betasten“ in Linienland nur die Wirkung haben konnte, dass zwei Punkte einander begegnen, denn eine größere Berührungsfläche gab es ja gar nicht! Entsprechend fiel auch die Antwort aus: „Wenn Sie mit betasten meinen,“ sagte der Herrscher, „einander so nahe kommen, dass man keinen Raum zwischen zwei Wesen lässt, dann, Fremder, sollen Sie wissen, dass diese Beleidigung in meinem Reiche nicht zugelassen ist. Der Grund liegt auf der Hand: Die gebrechliche Gestalt eines Kindes, die bei einer solchen Annäherung einer Erschütterung ausgesetzt wäre, muss vom Staate geschützt werden. Und welchem möglichen Zwecke sollte diese ungesetzliche und unnatürliche Annäherung, die Sie berühren nennen, wohl dienen, wenn das Ergebnis eines so brutalen und groben Vorganges sofort viel einfacher und genauer durch den Gehörsinn erzielt wird? Und was die Gefahr eines Betruges betrifft, so besteht sie nicht: Denn die Stimme, die das Wichtigste eines Lebewesens darstellt, kann nicht willkürlich geändert werden. Da horchen Sie nur!“

Er schwieg und lauschte wie in Verzückung einem Ton. „Es ist wahr“, erwiderte ich, „der Gehörsinn tut Ihnen gute Dienste. Jedoch gestatten Sie mir festzustellen, dass das Leben in Linienland beklagenswert langweilig sein muss. Nichts als einen Punkt zu sehen! Nicht einmal imstande sein, eine gerade Linie zu betrachten! Nein, nicht einmal zu wissen, was eine gerade Linie überhaupt ist! Ich hingegen kann mit dem Gesichtssinn eine Linie von einem Punkt unterscheiden. Und ich will es Ihnen beweisen. Gerade ehe ich in Ihr Königreich kam, sah ich Sie von links nach rechts tanzen, und dann von rechts nach links, mit fünf Männern und neun Frauen in Ihrer unmittelbaren Nähe zur Linken, und mit fünf Männern, sieben Kindern und neun Frauen zur Rechten. Stimmt es nicht?"

„Es stimmt,“ sagte der König, „soweit es die Anzahl und das Geschlecht betrifft, obwohl ich nicht weiß, was Sie mit rechts und links meinen. Aber ich leugne, dass Sie diese Dinge gesehen haben. Denn wie könnten Sie die Linie sehen, das bedeutete doch das Innere irgendeines Menschen in unserer Welt? Und lassen Sie mich fragen, was Sie mit den Worten „links“ und „rechts“ meinen. Ich vermute, dies ist ihre primitive Art ist, „nördlich“ und „südlich“ auszudrücken.“ „Nein, das ist es nicht“, erwiderte ich, „außer einer Bewegung nordwärts und südwärts gibt es noch eine andere Bewegung, die ich „von links nach rechts“ oder „von Westen nach Osten“ nenne.“

Der König wurde zunehmend ungeduldiger und ich merkte, wie ich an die Grenzen meiner Erklärkunst geraten war: „Zeigen Sie mir bitte diese Bewegung von links nach rechts.“ Was konnte ich ihm jetzt antworten als die Wahrheit: „Nein, das kann ich nicht; es sei denn, dass Sie aus Ihrer Linie überhaupt heraustreten.“ Der König beherrschte seinen Zorn und fragte geduldig weiter: „Aus meiner Linie? Meinen Sie: Aus der Welt? Aus dem Raum?“ – Meine Worte kamen nicht mehr flüssig herüber: „Nun, ja, ich meine, aus Ihrer Welt; aus Ihrem Raum. Denn Ihr Raum ist nicht der wirkliche Raum. Der wirkliche Raum ist eine Ebene, aber Ihr Raum ist nur eine Linie.“

Der König merkte meine Schwierigkeit im Ausdruck und wurde erstaunlich gelassen und weise: „Wenn Sie die Bewegung von links nach rechts nicht zeigen können, indem Sie sich in ihr bewegen, dann bitte ich Sie, sie mir in Worten zu beschreiben.“ Wie sollte ich das tun: „Wenn Sie nicht Ihre rechte Seite von der linken unterscheiden können, dann befürchte ich, dass keine Worte Ihnen meine Meinung klarmachen können. Aber eine so einfache Unterscheidung kann Ihnen doch nicht unbekannt sein, oder doch?“

Der König sprach aus, was ich ohnehin schon befürchtet hatte: „Ich verstehe Sie nicht im Geringsten!“ Also versuchte ich es noch einmal aufs Neue: „Wenn Sie sich geradeaus bewegen, kommt Ihnen dann nicht manchmal der Gedanke, dass Sie sich noch in einer anderen Richtung bewegen könnten, sozusagen in der Richtung Ihrer Seite?“ – Der König antwortete resolut: „Niemals. Und was meinen Sie? Wie kann eines Menschen Innenseite vorangehen?“ – Da kam mir eine Idee: „Nun denn, da Worte die Sache nicht erklären können, will ich zu Taten schreiten und mich allmählich aus Linienland in der Richtung herausbewegen, die ich Ihnen klarzumachen wünsche.“

Abbildung 5: Wie ich mich aus Linienland heraus bewegte

Ich begann, meine Figur aus Linienland herauszubewegen, wie ich es für Sie, verehrte Leser, in Abbildung 5 dargestellt habe. Solange noch ein Teil von mir in seinem Reich und in seinem Gesichtsfeld blieb, rief der König: „Ich sehe Sie, ich sehe Sie immer noch; Sie bewegen sich ja nur nordwärts.“ Aber als ich mich endlich aus seiner Linie herausbewegt hatte, rief er in schrillstem Tone: „Sie ist verschwunden, sie ist tot!“„Ich bin nicht tot“, erwiderte ich, „ich bin einfach außerhalb Linienlands, das heißt außerhalb der geraden Linie, die Sie Raum nennen. Und im wirklichen Raum, also in Flächenland, wo ich die Dinge sehen kann, erkenne ich alle ihre Punkte, alle ihre Wesen auf einmal. Und in diesem Augenblick sehe ich Ihre gesamte Breite und damit auch Ihre Innenseite; ich kann auch die Männer und Frauen im Norden und Süden von Ihnen sehen, die ich nun aufzählen will, indem ihre Anordnung, ihre Größe und den Zwischenraum zwischen ihnen beschreiben werde!“ Als ich dies ausführlich getan hatte, rief ich triumphierend: „Überzeugt Sie das nun endlich?“

Und damit betrat ich Linienland zum zweiten mal. Aber der Monarch erwiderte: „Wenn Sie ein Mann von Vernunft wären, würden Sie auf die Vernunft hören. Sie verlangen von mir zu glauben, dass es eine Linie außer der gibt, die meine Sinne mir anzeigen, und eine Bewegung außer der, deren ich täglich bewusst bin. Ich meinerseits fordere Sie auf, jene andere Linie in Worten zu beschreiben oder durch Bewegung zu zeigen. Anstatt sich zu bewegen, führen Sie bloß ein Zauberkunststück aus. Sie verschwinden und werden wieder sichtbar; und anstatt irgendeine einleuchtende Beschreibung Ihrer angeblich neuen Welt zu geben, geben Sie mir die Zahl und Größe von einigen vierzig meines Gefolges an; Tatsachen, die jedem Kind in meiner Hauptstadt bekannt sind. Geben Sie Ihre Torheit zu, oder verschwinden Sie aus meinem Reich!“

Es war schwer, meine Wut über diese Halsstarrigkeit des beschränkten und eingebildeten Herrschers zu beherrschen. Und so brach es dann doch aus mir heraus in nicht gerade respektvollem Ton: „Du begrenztes und beschränktes Wesen. Es gibt Dinge, die du nicht weißt! Du hältst dich für die Vollkommenheit des Daseins, während du in Wirklichkeit ein unvollkommenes und einfältiges Wesen bist. Du behauptest zu sehen, während du nichts als einen Punkt sehen kannst! Ich dagegen bin die Vollendung deines unvollkommenen Selbst. Du bist eine Linie, ich aber bin eine Linie aus unendlich vielen Linien, in meinem Lande ein Quadrat genannt, in Flächenland, woher ich gekommen bin, dich zu besuchen, in der Hoffnung, deine Unwissenheit zu erleuchten!“ Als der König diese Worte hörte, ging er mit einem drohenden Schrei auf mich los, als ob er mich durchbohren wollte. Gebannt und bewegungslos konnte ich weder sprechen noch mich bewegen, um die drohende Zerstörung abzuwenden. Und der König kam näher, als ich voller Überraschung aufwachte, und die Morgendämmerung, bei der ich immer aufwachte, mich zu der Wirklichkeit von Flächenland zurückrief. Ich ärgerte mich, dass ich am Ende des Traumes meine Beherrschung verloren hatte, und mich als etwas Besseres aufspielte, was gegen die Lehre unserer Kreise verstieß. Aber ich war dankbar, als ich wieder aufwachte aus meinem Traum.

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