Wie ich vergeblich
versuchte, Flächenland zu erklären
Immer noch
in meinem Traum hielt ich es nun an der Zeit, den Monarchen
aus seinen Phantasien wieder auf die höhere Ebene unseres
gesunden Menschenverstandes des Flächenländers
zurückzubringen, und so entschloss ich mich, ihm einige
Einblicke in die Wahrheit zu geben, d.h. in die Natur der
Dinge in Flächenland.
So begann
ich also: „Wie unterscheiden Eure Königliche Hoheit die
Gestalt und den Standort Ihrer Untertanen? Ich meinerseits
habe, ehe ich Euer Königreich betrat, mit dem Gesichtssinn
wahrgenommen, dass einige von Ihren Leuten Linien und andere
Punkte sind, und dass manche Linien größer und andere kleiner
sind“ – „Sie sprechen von einer Unmöglichkeit“,
unterbrach mich der König, „Sie müssen eine Vision gehabt
haben; denn den Unterschied zwischen einer Linie und einem
Punkt mit dem Gesichtssinn aufzudecken, ist, wie jedermann
weiß, unmöglich; das liegt in der Natur der Dinge. Aber er
kann durch den Gehörsinn aufgedeckt werden, und durch dasselbe
Mittel kann man sich meiner Gestalt vergewissern. Sehen Sie
mich an, ich bin eine Linie, die längste in Linienland, und
sechs Zentimeter Raum“ – „Sie meinen Länge“, wagte
ich zu äußern. „Dummkopf,“ sagte er, „Raum ist
Länge. Wenn Sie mich noch einmal so unverschämt unterbrechen,
haben wir nichts mehr miteinander zu tun.“
Er fuhr
fort: „Sie sollen jetzt mit Ihren eigenen Ohren hören, wie
ich mit Hilfe meiner beiden Stimmen meine Frau, die in diesem
Augenblick sechshundert Zentimeter und siebzig Millimeter
entfernt ist, meine Gestalt verrate. Hören Sie zu, ich werde
nach ihr rufen.“ Er zirpte und fuhr dann gemächlich fort:
„Meine Frau empfängt in diesem Augenblick den Ton von einer
meiner Stimmen, dicht gefolgt von dem der andern; und da sie
wahrnimmt, dass der zweite Ton sie nach einem Zeitraum
erreicht, in welchem der Schall 67 Millimeter zurücklegen
kann, wissen sie, dass der eine Mund 67 Millimeter weiter von
ihnen entfernt sein muss als der andere. Aber Sie haben
bestimmt Verständnis dafür, dass meine Frau diese Berechnung
nicht jedes Mal ausführt, wenn sie meine Stimme hört. Sie
macht sie ein für alle mal, ehe wir uns heirateten.“
„Aber wie“,
sagte ich, „wenn ein Mann die Stimme einer Frau nachahmt?
Kann eine solche Täuschung nicht große Unzuträglichkeiten
hervorrufen? Und haben Sie keine Mittel, Betrügereien dieser
Art zu begegnen, indem Sie Ihren benachbarten Untertanen
befehlen, einander zu betasten?“ Dies war natürlich eine
sehr dumme Frage, denn ein Betasten hätte dem Zweck nicht
entsprechen können. „Was soll das denn bedeuten?“, rief
der König entsetzt, „erklären Sie Ihre Meinung!“ –
„Betasten, berühren, Kontakt miteinander haben“, erwiderte
ich, aber während ich meine Worte aussprach, dämmerte es mir,
dass ein „Betasten“ in Linienland nur die Wirkung haben
konnte, dass zwei Punkte einander begegnen, denn eine größere
Berührungsfläche gab es ja gar nicht! Entsprechend fiel auch
die Antwort aus: „Wenn Sie mit betasten meinen,“ sagte
der Herrscher, „einander so nahe kommen, dass man keinen
Raum zwischen zwei Wesen lässt, dann, Fremder, sollen Sie
wissen, dass diese Beleidigung in meinem Reiche nicht
zugelassen ist. Der Grund liegt auf der Hand: Die gebrechliche
Gestalt eines Kindes, die bei einer solchen Annäherung einer
Erschütterung ausgesetzt wäre, muss vom Staate geschützt
werden. Und welchem möglichen Zwecke sollte diese
ungesetzliche und unnatürliche Annäherung, die Sie berühren
nennen, wohl dienen, wenn das Ergebnis eines so brutalen und
groben Vorganges sofort viel einfacher und genauer durch den
Gehörsinn erzielt wird? Und was die Gefahr eines Betruges
betrifft, so besteht sie nicht: Denn die Stimme, die das
Wichtigste eines Lebewesens darstellt, kann nicht willkürlich
geändert werden. Da horchen Sie nur!“
Er schwieg
und lauschte wie in Verzückung einem Ton. „Es ist wahr“,
erwiderte ich, „der Gehörsinn tut Ihnen gute Dienste.
Jedoch gestatten Sie mir festzustellen, dass das Leben in
Linienland beklagenswert langweilig sein muss. Nichts als
einen Punkt zu sehen! Nicht einmal imstande sein, eine gerade
Linie zu betrachten! Nein, nicht einmal zu wissen, was eine
gerade Linie überhaupt ist! Ich hingegen kann mit dem
Gesichtssinn eine Linie von einem Punkt unterscheiden. Und ich
will es Ihnen beweisen. Gerade ehe ich in Ihr Königreich kam,
sah ich Sie von links nach rechts tanzen, und dann von rechts
nach links, mit fünf Männern und neun Frauen in Ihrer
unmittelbaren Nähe zur Linken, und mit fünf Männern, sieben
Kindern und neun Frauen zur Rechten. Stimmt es nicht?"
„Es
stimmt,“
sagte der König, „soweit es die Anzahl und das Geschlecht
betrifft, obwohl ich nicht weiß, was Sie mit rechts und links
meinen. Aber ich leugne, dass Sie diese Dinge gesehen haben.
Denn wie könnten Sie die Linie sehen, das bedeutete doch das
Innere irgendeines Menschen in unserer Welt? Und lassen Sie
mich fragen, was Sie mit den Worten „links“ und „rechts“
meinen. Ich vermute, dies ist ihre primitive Art ist,
„nördlich“ und „südlich“ auszudrücken.“ – „Nein, das
ist es nicht“, erwiderte ich, „außer einer Bewegung
nordwärts und südwärts gibt es noch eine andere Bewegung, die
ich „von links nach rechts“ oder „von Westen nach Osten“
nenne.“
Der König
wurde zunehmend ungeduldiger und ich merkte, wie ich an die
Grenzen meiner Erklärkunst geraten war: „Zeigen Sie mir
bitte diese Bewegung von links nach rechts.“ Was konnte
ich ihm jetzt antworten als die Wahrheit: „Nein, das kann
ich nicht; es sei denn, dass Sie aus Ihrer Linie überhaupt
heraustreten.“ Der König beherrschte seinen Zorn und
fragte geduldig weiter: „Aus meiner Linie? Meinen Sie: Aus
der Welt? Aus dem Raum?“ – Meine Worte kamen nicht mehr
flüssig herüber: „Nun, ja, ich meine, aus Ihrer Welt; aus
Ihrem Raum. Denn Ihr Raum ist nicht der wirkliche Raum. Der
wirkliche Raum ist eine Ebene, aber Ihr Raum ist nur eine
Linie.“
Der König
merkte meine Schwierigkeit im Ausdruck und wurde erstaunlich
gelassen und weise: „Wenn Sie die Bewegung von links nach
rechts nicht zeigen können, indem Sie sich in ihr bewegen,
dann bitte ich Sie, sie mir in Worten zu beschreiben.“ Wie
sollte ich das tun: „Wenn Sie nicht Ihre rechte Seite von
der linken unterscheiden können, dann befürchte ich, dass
keine Worte Ihnen meine Meinung klarmachen können. Aber eine
so einfache Unterscheidung kann Ihnen doch nicht unbekannt
sein, oder doch?“
Der König
sprach aus, was ich ohnehin schon befürchtet hatte: „Ich
verstehe Sie nicht im Geringsten!“ Also versuchte ich es
noch einmal aufs Neue: „Wenn Sie sich geradeaus bewegen,
kommt Ihnen dann nicht manchmal der Gedanke, dass Sie sich
noch in einer anderen Richtung bewegen könnten, sozusagen in
der Richtung Ihrer Seite?“ – Der König antwortete resolut:
„Niemals. Und was meinen Sie? Wie kann eines Menschen
Innenseite vorangehen?“ – Da kam mir eine Idee: „Nun
denn, da Worte die Sache nicht erklären können, will ich zu
Taten schreiten und mich allmählich aus Linienland in der
Richtung herausbewegen, die ich Ihnen klarzumachen wünsche.“
Abbildung
5: Wie ich mich aus Linienland heraus bewegte
Ich
begann, meine Figur aus Linienland herauszubewegen, wie ich es
für Sie, verehrte Leser, in Abbildung 5 dargestellt habe.
Solange noch ein Teil von mir in seinem Reich und in seinem
Gesichtsfeld blieb, rief der König: „Ich sehe Sie, ich sehe
Sie immer noch; Sie bewegen sich ja nur nordwärts.“ Aber
als ich mich endlich aus seiner Linie herausbewegt hatte, rief
er in schrillstem Tone: „Sie ist verschwunden, sie ist
tot!“ – „Ich bin nicht tot“, erwiderte ich, „ich
bin einfach außerhalb Linienlands, das heißt außerhalb der
geraden Linie, die Sie Raum nennen. Und im wirklichen Raum,
also in Flächenland, wo ich die Dinge sehen kann, erkenne ich
alle ihre Punkte, alle ihre Wesen auf einmal. Und in diesem
Augenblick sehe ich Ihre gesamte Breite und damit auch Ihre
Innenseite; ich kann auch die Männer und Frauen im Norden und
Süden von Ihnen sehen, die ich nun aufzählen will, indem ihre
Anordnung, ihre Größe und den Zwischenraum zwischen ihnen
beschreiben werde!“ Als ich dies ausführlich getan hatte,
rief ich triumphierend: „Überzeugt Sie das nun endlich?“
Und damit
betrat ich Linienland zum zweiten mal. Aber der Monarch
erwiderte: „Wenn Sie ein Mann von Vernunft wären, würden
Sie auf die Vernunft hören. Sie verlangen von mir zu glauben,
dass es eine Linie außer der gibt, die meine Sinne mir
anzeigen, und eine Bewegung außer der, deren ich täglich
bewusst bin. Ich meinerseits fordere Sie auf, jene andere
Linie in Worten zu beschreiben oder durch Bewegung zu zeigen.
Anstatt sich zu bewegen, führen Sie bloß ein Zauberkunststück
aus. Sie verschwinden und werden wieder sichtbar; und anstatt
irgendeine einleuchtende Beschreibung Ihrer angeblich neuen
Welt zu geben, geben Sie mir die Zahl und Größe von einigen
vierzig meines Gefolges an; Tatsachen, die jedem Kind in
meiner Hauptstadt bekannt sind. Geben Sie Ihre Torheit zu,
oder verschwinden Sie aus meinem Reich!“
Es war
schwer, meine Wut über diese Halsstarrigkeit des beschränkten
und eingebildeten Herrschers zu beherrschen. Und so brach es
dann doch aus mir heraus in nicht gerade respektvollem Ton:
„Du begrenztes und beschränktes Wesen. Es gibt Dinge, die du
nicht weißt! Du hältst dich für die Vollkommenheit des
Daseins, während du in Wirklichkeit ein unvollkommenes und
einfältiges Wesen bist. Du behauptest zu sehen, während du
nichts als einen Punkt sehen kannst! Ich dagegen bin die
Vollendung deines unvollkommenen Selbst. Du bist eine Linie,
ich aber bin eine Linie aus unendlich vielen Linien, in meinem
Lande ein Quadrat genannt, in Flächenland, woher ich gekommen
bin, dich zu besuchen, in der Hoffnung, deine Unwissenheit zu
erleuchten!“ Als der König diese Worte hörte, ging er mit
einem drohenden Schrei auf mich los, als ob er mich
durchbohren wollte. Gebannt und bewegungslos konnte ich weder
sprechen noch mich bewegen, um die drohende Zerstörung
abzuwenden. Und der König kam näher, als ich voller
Überraschung aufwachte, und die Morgendämmerung, bei der ich
immer aufwachte, mich zu der Wirklichkeit von Flächenland
zurückrief. Ich ärgerte mich, dass ich am Ende des Traumes
meine Beherrschung verloren hatte, und mich als etwas Besseres
aufspielte, was gegen die Lehre unserer Kreise verstieß. Aber
ich war dankbar, als ich wieder aufwachte aus meinem Traum.