Blutiger Sonnenuntergang (Erzähler: Ali Nasrollah)
Es war Freitag, der 22. Bahman 1361. Ich war in einer sehr
traurigen Stimmung. Die Truppen kehrten zurück.
Nochmals schaute ich durch mein Fernglas. Plötzlich hatte
ich das Gefühl, dass sich etwas in der Ferne bewegt! Ich
schärfte meinen Blick. Dann konnte ich erkennen, dass drei
Personen rennend in unsere Richtung kamen. Unterwegs fielen
sie immer wieder auf den Boden, standen aber auf und liefen
weiter. Sie waren verletzt und völlig erschöpft. Es war klar,
dass sie aus der Richtung des Grabens kamen. Ich rief meine
Kameraden. Sofort rannten wir zu einer Erhöhung und befahlen,
nicht zu schießen. Bei Sonnenuntergang konnten die drei
endlich unseren Graben erreichen. Wir fragten sie: „Woher
kommt ihr?“ Sie hatten keine Kraft zu reden. Einer von ihnen
verlangte nach Wasser. Ich gab ihm sofort etwas zu trinken.
Der andere zitterte schon vor Schwäche und Hunger. Der Dritte
war völlig blutüberströmt. Nachdem sie sich ein wenig erholt
hatten, sagten sie: „Wir gehören zur Komeil-Division.“ Besorgt
fragte ich: „Was ist mit den restlichen Männern passiert?“
Während er nur mit Mühe aufblickte, sagte er: „Ich glaube
nicht, dass jemand außer uns überleben konnte!“ Aufgeregt
fragte ich noch einmal: „Wie konntet ihr diese fünf Tage
Widerstand leisten?!“ Er war zu erschöpft um weiterreden zu
können. Kurze Zeit später sagte er dann: „Wir hatten uns in
den letzten zwei Tagen zwischen den Toten versteckt. Aber es
gab eine Person, die den Graben alleine verteidigte!“
Er atmete kurz auf und sagte dann ganz ruhig: „Was für ein
Mensch er war! Auf einer Seite schoss er mit der RPG, auf der
anderen Seite mit einem ....Tirbar. Was für eine Kraft der
Mann hatte!“ Der andere fiel ihm nun ins Wort und sagte: „Er
legte alle Märtyrer am Ende des Grabens in einer Reihe
nebeneinander auf den Boden, dann verteilte er Vorrat und
Wasser und kümmerte sich um die Verletzten, er war
unermüdlich!“
Ich sagte: „Der Kommandeur der Division und ihre Vertreter
sind doch alle Märtyrer geworden? Von wem redet ihr denn?“ Er
sagte: „Es war ein junger Mann, den ich nicht kannte. Er hatte
sehr kurze Haare und eine kurdische Hose an.“ Der andere
sagte: „Am ersten Tag hatte er eine arabische Chafia um den
Hals. Was für eine Stimme er hatte! Er sang für uns
Trauerlieder, ermutigte uns und...“
Fast hätte mein Geist den Körper verlassen, mein Kopf wurde
heiß, ich schluckte. Es waren Ibrahims Merkmale. Besorgt
setzte ich mich hin und nahm seine Hände in die meinen.
Fassungslos fragte ich: „Du meinst Ibrahim, nicht? Wo ist er
jetzt?“ Er sagte: „Ja, ich glaube, ein oder zwei von den
Älteren nannten ihn Ibrahim.“ Noch einmal fragte ich laut: „Wo
ist er jetzt?“
Einer von ihnen sagte: „Bis zur letzten Minute des massiven
Feuers der Iraker lebte er noch. Er sagte zu uns, dass die
irakische Armee ihre Streitkräfte zurückgezogen hätte und sie
erneut und bestimmt noch heftiger angreifen werden. Er sagte
auch: „Wenn ihr Kraft dazu habt, dann zieht euch auch zurück
solange es hier noch ruhig ist. Er selber kümmerte sich weiter
um die Verletzten. Wir gingen zurück.“
Dann sagte jemand: „Ich habe gesehen, wie er getroffen
wurde. Gleich bei der ersten Explosion fiel er zu Boden.“ Ich
zitterte und meine Tränen liefen. Zum Schluss konnte ich mich
nicht mehr kontrollieren, legte meine Stirn auf den Boden und
weinte. Alle Erinnerungen spielten sich wieder in meinem Kopf
ab. Von der Zurkhane bis hin zu Gilangharb und...und
Der starke Geruch von Zündstoff und der Lärm der
Explosionen vermischten sich. Ich ging an den Rand des
Grabens. Einer meiner Kameraden stellte sich mir in den Weg
und sagte: „Was machst du? Mit deinem Tod wird Ibrahim nicht
zurückkommen, schau nur wie sie feuern.“ In der Nacht wurden
wir alle von Fakke weiter nach hinten verlegt. Alle waren
genauso gestimmt wie ich. Viele von ihnen hatten ihre Freunde
dort gelassen. Als wir in Dokuhe ankamen, hörten wir die
Stimme von Hadj Sadegh Ahangaran, der sang:
„Hey ihr die von der Reise Zurückgekommenen, wo sind eure
Märtyrer, wo...“
Das Weinen unserer Freunde wurde heftiger. Die Nachricht
von Ibrahims Tod verbreitete sich schnell unter den Kameraden.
Einer der Soldaten, der mit seinem Sohn im Krieg war, kam zu
mir. Traurig sagte er: „Wir trauern alle wegen Ibrahim, ich
schwöre, wenn mein Sohn Märtyrer geworden wäre, wäre ich nicht
so traurig. Niemand weiß, was für ein großer Mensch er war.“
Am nächsten Tag wurden alle Truppen in den Urlaub geschickt
und wir fuhren nach Teheran. Niemand hatte den Mut, Ibrahims
Tod zu verkünden. Aber ein paar Tage später zirkulierte
überall die Nachricht, dass er verschwunden sei!