Die Pilgerfahrt (Erzähler: Jabbar Sotudeh, Mehdi Faridwand)
Es war das erste Jahr des Krieges als wir uns mit einigen
Kameraden des Andarzguh-Teams früh am Morgen in die Berge im
Norden von Gilangharb begaben. Wir lagerten auf einem Hügel an
der Grenze. Der Wachturm dort war unter die Kontrolle der
Iraker geraten. Irakische Fahrzeuge fuhren ohne
Schwierigkeiten durch die Gegend.
Ibrahim öffnete sein kleines Doa-Buch und wir lasen alle
zusammen die Ziarate Aschura. Anschließend, mit einem
schmerzhaften Blick auf die von den Irakern besetzten Gebiete
sagte ich traurig: „Wird es wohl möglich sein, dass eines
Tages wieder unsere Landsleute auf diesen Straßen zu ihren
Städten fahren können! Es schien, als ob Ibrahim meine Worte
überhaupt nicht wahrnahm. Er schaute in die Ferne und sagte:
„Was redest du da! Es wird ein Tag kommen, an dem unser Volk
in Scharen über diese Straßen nach Kerbela reisen werden!“
Auf dem Rückweg fragte ich alle: „Wisst ihr wie der Name
dieses Wachturms ist?“. Einer sagte: „Khosrawi“.
Zwanzig Jahre später, auf einer Reise nach Kerbela fuhren
wir an dem gleichen Hügel vorbei, auf dem wir mit Ibrahim die
Ziarat Aschura gelesen hatten! Ich spürte Ibrahims
Anwesenheit. Nun fuhren die Menschen in großen Gruppen mit
Bussen zur Grenze, um von dort nach Kerbela weiter zu reisen!
Genau wie er gesagt hatte.
Immer wenn wir in Teheran waren, besuchte Ibrahim in der
Nacht auf Freitag das Grabmal von Hazrate Abdol-Azim. Er
meinte: „Die Nacht auf Freitag, ist die Nacht der Gnade
Gottes, die Pilgernacht Imam Husains (a.), die Nacht in der
sich die Gott Nahestehenden und die Engel nach Kerbela
begeben. Und wir gehen jetzt das Grabmal Abdol-Azims besuchen,
worüber die Familie des Propheten gesagt hat: „Es hat den
gleichen Lohn wie die Pilgerfahrt nach Kerbela“.“
Er las dort das Doa Komeil und um ein Uhr Mitternacht kam
er wieder zurück. Als das Basiji-Programm anlief, ging er
immer direkt vom Grabmal zur Moschee und zu den Basijis. An
einem dieser Abende verließen wir das Grabmal zusammen. Ich
hatte mir das Motorrad meines Freundes geliehen und fuhr damit
eilig zur Moschee. Doch Ibrahim kam erst Stunden später an.
Ich fragte ihn, warum er so spät gekommen sei? Er sagte: „Ich
wollte unterwegs auch das Grabmal Scheikh Sadughs besuchen.“
Die älteren Teheraner sagen, dass Imam Mahdi (a.) donnerstags
nachts dieses Grabmal besuchen kommt. Ich fragte ihn dann: „Du
hattest es doch so eilig um zur Moschee zu kommen, warum bist
du dann zu Fuß gegangen, hatte es einen bestimmten Grund?!“
Er sagte dann auf unser Drängen hin: „Nachdem ich den Platz
verlassen hatte kam ein sehr armer Mann zu mir. Ich gab ihm
das Geldbündel, das ich in meiner Hosentasche hatte. Als ich
ins Taxi stieg, bemerkte ich, dass ich kein Geld mehr habe und
bin wieder ausgestiegen und zu Fuß gekommen!“
***
In der letzten Zeit machten wir jede Woche zusammen diese
Pilgerfahrt. Am Ende gingen wir dann mitternachts zum Behescht
Zahra Friedhof und besuchten die Gräber der Märtyrer wobei
Ibrahim für uns Trauerlieder sang. In manchen Nächten legte er
sich auch in ein Grab und las dort weinend das Doa Komeil.