Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

zum Inhaltsverzeichnis

II. Philosophie und arabisches Wissen

2. Die Pflichtenlehre

1. Der gläubige Muslim hatte, sofern nicht das Herkommen seine Herrschaft behauptete, anfangs als Richtschnur seines Handelns und Urteilens das Wort Gottes und das Beispiel seines Propheten. Nachdem dieser gestorben war, folgte man, falls der Koran keine Auskunft erteilte, der Sunna Mohammeds, d. h. man that und entschied, wie der Überlieferung seiner Genossen nach Mohammed entschieden oder gehandelt hatte. Aber seit der Eroberung alter Kulturländer traten an den Islam ganz neue Ansprüche heran. Statt der einfachen Verhältnisse arabischen Lebens fanden sich dort Gewohnheiten und Einrichtungen vor, für die das heilige Gesetz keine Bestimmung bot und noch keine Tradition vorhanden oder ausgedeutet war. Jeden Tag häuften sich also die Einzelfälle, die nicht vorgesehen waren, und die man, sei es nach dem Herkommen oder nach eigenem Gutdünken beurteilen musste. In den altrömischen Provinzen, Syrien und Mesopotamien, wird dabei das römische Recht noch lange Zeit eine bedeutende Wirkung ausgeübt haben.

Diejenigen Rechtslehrer nun, welche neben Koran und Sunna der eigenen Ansicht (ra’j, opinio) einen bestimmenden Einfluss auf das Recht zuerkannten, wurden Anhänger des Raj genannt. Als solcher ist besonders bekannt geworden Abu Hanifa von Kufa (gest. 767), der Stifter der [39]hanefitischen Schule. Aber auch in Medina, vor und in der Schule des Malik (715–795) hat man anfangs ganz harmlos, wenn auch weniger weitgehend, dem Raj gehuldigt. Nur allmählich hat sich, im Kampfe gegen das zu vielen Willkürlichkeiten Veranlassung gebende Raj, die Meinung vorgedrängt, es sei in Allem der Tradition (hadîth) in Bezug auf die Sunna des Propheten zu folgen. Es wurden dann von überall her Traditionen gesammelt, gedeutet, auch massenhaft gefälscht, und eine Lehre von den Kriterien ihrer Echtheit ausgebildet, die aber mehr auf die äußere Bezeugung und die Zweckmäßigkeit des Überlieferten als auf Folgerichtigkeit und historische Treue Gewicht legte. Infolge dieser Entwicklung standen jetzt den Leuten des Raj, die hauptsächlich in Iraq (Babylonien) gefunden wurden, die Anhänger der Tradition von Medina entgegen. Auch Schafii (767–820), der Gründer der dritten Rechtsschule, der sich im allgemeinen an der Sunna hielt, wurde wohl im Gegensatz zu Abu Hanifa den Anhängern der Tradition beigezählt.

2. Ein neues Element brachte die Logik in diesen Streit hinein: das Qijas, die Analogie. Einzelne Qijase gab es natürlich schon früher, aber die Aufstellung des Qijas als eines Prinzipes, einer Grundlage oder Quelle des Rechtes setzt den Einfluss wissenschaftlicher Reflexion voraus. Wenn auch Raj und Qijas synonym gebraucht sein mögen, so haftet doch dem letzteren Ausdrucke weniger das Moment individueller Willkür an. Je mehr man sich daran gewöhnte, bei sprachlich-logischen Untersuchungen das Qijas anzuwenden, um so leichter konnte man auch dieses Prinzip in die Grundlehre der Gesetzeskunde aufnehmen, sei es nun, dass man von Fall zu Fall und von der Mehrzahl der Fälle auf die übrigen (analogisch) schloss, oder aber für verschiedene Fälle einen gemeinsamen Grund aufsuchte, aus dem das Verhalten im Einzelfall (syllogistisch) abzuleiten wäre.1 [40]

Die Anwendung des Qijas scheint zunächst und zumeist in der hanefitischen, dann aber auch, obgleich in geringerem Umfange, in der schafiitischen Schule üblich gewesen zu sein. Im Zusammenhang damit wurde die Frage, ob die Sprache das Allgemeine auszudrücken vermöge oder bloß das Besondere bezeichnen könne, für die Pflichtenlehre von Bedeutung.

Zu einem großen Ansehen hat das logische Prinzip des Qijas es nie gebracht. Vielmehr wurde, neben den historischen Grundlagen des Gesetzes, dem Koran und der Sunna, das Idschma d. h. die Übereinstimmung der Gemeinde, betont. Die Übereinstimmung der Gemeinde oder faktisch der einflussreichsten Gelehrten, die mit den Vätern und Lehrern der katholischen Kirche zu vergleichen sind, ist das dogmatische Prinzip, das, nur von wenigen angefochten, sich als das wichtigste Mittel zur Begründung der muslimischen Pflichtenlehre erwiesen hat. Nach Koran, Sunna und Idschma räumt aber die Theorie immer noch, an vierter Stelle, dem Qijas einen untergeordneten Platz ein.

3. Die muslimische Pflichtenlehre (al-fiqh = das Erkennen) umfasst das ganze Leben des Gläubigen, dem der Glaube selbst an erster Stelle zur Pflicht gemacht wird. Anfangs stieß sie, wie jede Neuigkeit, auf heftigen Widerstand. Gesetz ward hier zu Lehre, gläubiger Gehorsam zu grübelndem Wissen. Das forderte Widerspruch heraus, von einfachen Frommen und klugen Politikern zugleich. Aber nach und nach wurden die Wissenden oder Gesetzesgelehrten (ulamâ, im Westen faqihs) als die Erben der Propheten anerkannt.

Die Pflichtenlehre hat sich vor der Glaubenslehre entwickelt und auch immer bis heute den ersten Platz zu behaupten gewusst. Fast jeder Muslim weiß etwas davon, weil es zur guten religiösen Erziehung gehört. Nach dem [41]großen Kirchenvater Gazali ist das Fiqh das tägliche Brot gläubiger Seelen, während die Glaubenslehre nur als Medizin für Kranke einen Wert hat.

Auf die fein ausgesponnene Kasuistik des Fiqh näher einzugehen, haben wir hier keine Veranlassung. Es handelt sich der Hauptsache nach um ein ideelles Recht, das in unserer mangelhaften Welt wohl nie rein zur Anwendung kommen kann. Seine Prinzipien und seine Stellung innerhalb des Islam kennen wir jetzt. Es sei nur noch die Einteilung der sittlichen Handlungen, wie die Pflichtenlehrer sie aufstellen, kurz erwähnt. Es gibt ihr zufolge 1. Handlungen, deren Ausübung unbedingte Pflicht ist und deshalb belohnt, deren Unterlassung bestraft wird; 2. gesetzlich anempfohlene Handlungen, die belohnt, deren Vernachlässigung aber nicht bestraft wird; 3. erlaubte, gesetzlich gleichgiltige Handlungen; 4. vom Gesetze missbilligte, aber nicht strafbare Handlungen; 5. gesetzlich verbotene Handlungen, die unbedingt Strafe fordern.2

4. Die Einwirkung griechischer Philosopheme auf die Ethik im Islam ist eine zweifache gewesen. Bei vielen Sektierern und Mystikern, sowohl orthodoxen als häretischen, findet sich eine asketische Ethik von pythagoreisch-platonischer Färbung. Sie findet sich ebenso bei Philosophen, denen wir in der Folge noch begegnen werden. In orthodoxen Kreisen aber fand der aristotelische Satz, dass Tugend in der richtigen Mitte bestehe, viel Anklang, weil ähnliches im Koran stand und überhaupt die Richtung des Islam eine katholische, die Gegensätze aussöhnende war.

Mehr wohl als die Ethik wurde im muslimischen Reiche die Politik gepflegt. Politische Parteikämpfe gaben zuerst Veranlassung zu Verschiedenheit der Meinungen. Streitigkeiten über das Imâmat, d. h. die Herrschaft über die muslimische Gemeinde, durchziehen die ganze Geschichte [42]des Islam. Es handelt sich aber durchweg mehr um Fragen persönlicher und praktischer als solche theoretischer Bedeutung, weshalb eine Geschichte der Philosophie sie nicht eingehend zu berücksichtigen braucht. Philosophisch Wertvolles kommt kaum dabei heraus. Schon im Laufe der ersten Jahrhunderte entwickelte sich ein festes kanonisches Staatsrecht, das aber, ähnlich der ideellen Pflichtenlehre, von starken Herrschern als theologische Grübelei nicht sonderlich beachtet wurde, dagegen von schwachen Fürsten erst recht nicht zur Anwendung gebracht werden konnte.

Ebensowenig verlohnt es sich, die vielen, besonders in Persien beliebten Fürstenspiegel, an deren weisen Sittensprüchen und politisch-klugen Maximen die höfischen Kreise sich erbauten, näher zu betrachten.

Das Schwergewicht philosophischer Bestrebungen im Islam liegt auf der theoretischen, intellektuellen Seite. Mit den thatsächlichen Vorgängen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens weiß man sich nur notdürftig abzufinden. Auch die Kunst der Muslime, obgleich sie viel mehr Originelles zeigt als ihre Wissenschaft, versteht es nicht, die spröden Stoffe zu beleben, sondern spielt mit zierlichen Formen. Die Poesie schafft kein Drama. Und ihre Philosophie ist nicht praktisch.

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de