II. Philosophie und arabisches Wissen
2. Die Pflichtenlehre
1. Der gläubige Muslim hatte, sofern nicht das Herkommen
seine Herrschaft behauptete, anfangs als Richtschnur seines
Handelns und Urteilens das Wort Gottes und das Beispiel seines
Propheten. Nachdem dieser gestorben war, folgte man, falls der
Koran keine Auskunft erteilte, der Sunna Mohammeds, d. h. man
that und entschied, wie der Überlieferung seiner Genossen nach
Mohammed entschieden oder gehandelt hatte. Aber seit der
Eroberung alter Kulturländer traten an den Islam ganz neue
Ansprüche heran. Statt der einfachen Verhältnisse arabischen
Lebens fanden sich dort Gewohnheiten und Einrichtungen vor,
für die das heilige Gesetz keine Bestimmung bot und noch keine
Tradition vorhanden oder ausgedeutet war. Jeden Tag häuften
sich also die Einzelfälle, die nicht vorgesehen waren, und die
man, sei es nach dem Herkommen oder nach eigenem Gutdünken
beurteilen musste. In den altrömischen Provinzen, Syrien und
Mesopotamien, wird dabei das römische Recht noch lange Zeit
eine bedeutende Wirkung ausgeübt haben.
Diejenigen Rechtslehrer nun, welche neben Koran und Sunna
der eigenen Ansicht (ra’j, opinio) einen bestimmenden Einfluss
auf das Recht zuerkannten, wurden Anhänger des Raj genannt.
Als solcher ist besonders bekannt geworden Abu Hanifa von Kufa
(gest. 767), der Stifter der [39]hanefitischen Schule. Aber
auch in Medina, vor und in der Schule des Malik (715–795) hat
man anfangs ganz harmlos, wenn auch weniger weitgehend, dem
Raj gehuldigt. Nur allmählich hat sich, im Kampfe gegen das zu
vielen Willkürlichkeiten Veranlassung gebende Raj, die Meinung
vorgedrängt, es sei in Allem der Tradition (hadîth) in Bezug
auf die Sunna des Propheten zu folgen. Es wurden dann von
überall her Traditionen gesammelt, gedeutet, auch massenhaft
gefälscht, und eine Lehre von den Kriterien ihrer Echtheit
ausgebildet, die aber mehr auf die äußere Bezeugung und die
Zweckmäßigkeit des Überlieferten als auf Folgerichtigkeit und
historische Treue Gewicht legte. Infolge dieser Entwicklung
standen jetzt den Leuten des Raj, die hauptsächlich in Iraq
(Babylonien) gefunden wurden, die Anhänger der Tradition von
Medina entgegen. Auch Schafii (767–820), der Gründer der
dritten Rechtsschule, der sich im allgemeinen an der Sunna
hielt, wurde wohl im Gegensatz zu Abu Hanifa den Anhängern der
Tradition beigezählt.
2. Ein neues Element brachte die Logik in diesen Streit
hinein: das Qijas, die Analogie. Einzelne Qijase gab es
natürlich schon früher, aber die Aufstellung des Qijas als
eines Prinzipes, einer Grundlage oder Quelle des Rechtes setzt
den Einfluss wissenschaftlicher Reflexion voraus. Wenn auch
Raj und Qijas synonym gebraucht sein mögen, so haftet doch dem
letzteren Ausdrucke weniger das Moment individueller Willkür
an. Je mehr man sich daran gewöhnte, bei sprachlich-logischen
Untersuchungen das Qijas anzuwenden, um so leichter konnte man
auch dieses Prinzip in die Grundlehre der Gesetzeskunde
aufnehmen, sei es nun, dass man von Fall zu Fall und von der
Mehrzahl der Fälle auf die übrigen (analogisch) schloss, oder
aber für verschiedene Fälle einen gemeinsamen Grund aufsuchte,
aus dem das Verhalten im Einzelfall (syllogistisch) abzuleiten
wäre.1 [40]
Die Anwendung des Qijas scheint zunächst und zumeist in der
hanefitischen, dann aber auch, obgleich in geringerem Umfange,
in der schafiitischen Schule üblich gewesen zu sein. Im
Zusammenhang damit wurde die Frage, ob die Sprache das
Allgemeine auszudrücken vermöge oder bloß das Besondere
bezeichnen könne, für die Pflichtenlehre von Bedeutung.
Zu einem großen Ansehen hat das logische Prinzip des Qijas
es nie gebracht. Vielmehr wurde, neben den historischen
Grundlagen des Gesetzes, dem Koran und der Sunna, das Idschma
d. h. die Übereinstimmung der Gemeinde, betont. Die
Übereinstimmung der Gemeinde oder faktisch der
einflussreichsten Gelehrten, die mit den Vätern und Lehrern
der katholischen Kirche zu vergleichen sind, ist das
dogmatische Prinzip, das, nur von wenigen angefochten, sich
als das wichtigste Mittel zur Begründung der muslimischen
Pflichtenlehre erwiesen hat. Nach Koran, Sunna und Idschma
räumt aber die Theorie immer noch, an vierter Stelle, dem
Qijas einen untergeordneten Platz ein.
3. Die muslimische Pflichtenlehre (al-fiqh = das Erkennen)
umfasst das ganze Leben des Gläubigen, dem der Glaube selbst
an erster Stelle zur Pflicht gemacht wird. Anfangs stieß sie,
wie jede Neuigkeit, auf heftigen Widerstand. Gesetz ward hier
zu Lehre, gläubiger Gehorsam zu grübelndem Wissen. Das
forderte Widerspruch heraus, von einfachen Frommen und klugen
Politikern zugleich. Aber nach und nach wurden die Wissenden
oder Gesetzesgelehrten (ulamâ, im Westen faqihs) als die Erben
der Propheten anerkannt.
Die Pflichtenlehre hat sich vor der Glaubenslehre
entwickelt und auch immer bis heute den ersten Platz zu
behaupten gewusst. Fast jeder Muslim weiß etwas davon, weil es
zur guten religiösen Erziehung gehört. Nach dem [41]großen
Kirchenvater Gazali ist das Fiqh das tägliche Brot gläubiger
Seelen, während die Glaubenslehre nur als Medizin für Kranke
einen Wert hat.
Auf die fein ausgesponnene Kasuistik des Fiqh näher
einzugehen, haben wir hier keine Veranlassung. Es handelt sich
der Hauptsache nach um ein ideelles Recht, das in unserer
mangelhaften Welt wohl nie rein zur Anwendung kommen kann.
Seine Prinzipien und seine Stellung innerhalb des Islam kennen
wir jetzt. Es sei nur noch die Einteilung der sittlichen
Handlungen, wie die Pflichtenlehrer sie aufstellen, kurz
erwähnt. Es gibt ihr zufolge 1. Handlungen, deren Ausübung
unbedingte Pflicht ist und deshalb belohnt, deren Unterlassung
bestraft wird; 2. gesetzlich anempfohlene Handlungen, die
belohnt, deren Vernachlässigung aber nicht bestraft wird; 3.
erlaubte, gesetzlich gleichgiltige Handlungen; 4. vom Gesetze
missbilligte, aber nicht strafbare Handlungen; 5. gesetzlich
verbotene Handlungen, die unbedingt Strafe fordern.2
4. Die Einwirkung griechischer Philosopheme auf die Ethik
im Islam ist eine zweifache gewesen. Bei vielen Sektierern und
Mystikern, sowohl orthodoxen als häretischen, findet sich eine
asketische Ethik von pythagoreisch-platonischer Färbung. Sie
findet sich ebenso bei Philosophen, denen wir in der Folge
noch begegnen werden. In orthodoxen Kreisen aber fand der
aristotelische Satz, dass Tugend in der richtigen Mitte
bestehe, viel Anklang, weil ähnliches im Koran stand und
überhaupt die Richtung des Islam eine katholische, die
Gegensätze aussöhnende war.
Mehr wohl als die Ethik wurde im muslimischen Reiche die
Politik gepflegt. Politische Parteikämpfe gaben zuerst
Veranlassung zu Verschiedenheit der Meinungen. Streitigkeiten
über das Imâmat, d. h. die Herrschaft über die muslimische
Gemeinde, durchziehen die ganze Geschichte [42]des Islam. Es
handelt sich aber durchweg mehr um Fragen persönlicher und
praktischer als solche theoretischer Bedeutung, weshalb eine
Geschichte der Philosophie sie nicht eingehend zu
berücksichtigen braucht. Philosophisch Wertvolles kommt kaum
dabei heraus. Schon im Laufe der ersten Jahrhunderte
entwickelte sich ein festes kanonisches Staatsrecht, das aber,
ähnlich der ideellen Pflichtenlehre, von starken Herrschern
als theologische Grübelei nicht sonderlich beachtet wurde,
dagegen von schwachen Fürsten erst recht nicht zur Anwendung
gebracht werden konnte.
Ebensowenig verlohnt es sich, die vielen, besonders in
Persien beliebten Fürstenspiegel, an deren weisen
Sittensprüchen und politisch-klugen Maximen die höfischen
Kreise sich erbauten, näher zu betrachten.
Das Schwergewicht philosophischer Bestrebungen im Islam
liegt auf der theoretischen, intellektuellen Seite. Mit den
thatsächlichen Vorgängen des gesellschaftlichen und
staatlichen Lebens weiß man sich nur notdürftig abzufinden.
Auch die Kunst der Muslime, obgleich sie viel mehr Originelles
zeigt als ihre Wissenschaft, versteht es nicht, die spröden
Stoffe zu beleben, sondern spielt mit zierlichen Formen. Die
Poesie schafft kein Drama. Und ihre Philosophie ist nicht
praktisch.