IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens
5. Ibn al-Haitham
1. Nach Ibn Sina und seiner Schule fand die theoretische
Philosophie in den östlichen Ländern des muslimischen Reiches
wenig Pflege mehr. Die arabische Sprache musste im Leben und
in der Litteratur dort immer mehr der persischen weichen. Dass
letztere Sprache sich weniger gut zu abstrakt logischen und
metaphysischen Erörterungen eignet, dürfte dabei nur ganz
nebensächlich ins Gewicht fallen. Es änderten sich in
trauriger Weise die Kulturverhältnisse und damit die
Interessen der Menschen. Ethik und Politik traten in den
Vordergrund, jedoch ohne eine wirklich neue Gestalt zu
bekommen. Ganz vorherrschend aber war es in der neupersischen
Litteratur eine teils freigeistige, teils, und zwar
überwiegend, mystische Poesie, die das Bedürfnis der
Gebildeten nach Weisheit befriedigte.
Seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts etwa hatte sich von
Bagdad aus ein Teil der wissenschaftlichen Bewegung dem Westen
zugewendet. Wir fanden schon Farabi in Syrien, Masudi in
Ägypten. Dort wurde Kairo ein zweites Bagdad.
2. In Kairo treffen wir am Anfang des elften Jahrhunderts
einen der bedeutendsten Mathematiker und Physiker des ganzen
Mittelalters, Abu Ali Mohammed ibn al-Hasan ibn al-Haitham. In
Basra, wo er geboren wurde, hatte er schon ein Staatsamt
verwaltet. In allzugroßem Vertrauen auf die Verwertbarkeit
seiner mathematischen Kenntnisse glaubte er die
Nilüberschwemmungen regulieren zu können. Deshalb vom Chalifen
al-Hakim berufen, sah er bald nach seiner Ankunft das
Vergebliche seiner Bemühungen ein. Als Verwaltungsbeamter fiel
er dann in Ungnade, verbarg sich bis zum Tode des Chalifen
(1020) und lebte ferner wissenschaftlichen und litterarischen
Arbeiten, bis er im Jahre 1038 starb. [134]
Seine Hauptwirksamkeit liegt auf dem Gebiete der Mathematik
und ihrer Anwendung. Doch hat er sich auch sehr viel mit den
galenischen und aristotelischen Schriften, und nicht bloß mit
den physischen, beschäftigt. Nach seinem eigenen Bekenntnis
hat er von Jugend auf alles bezweifelnd, die verschiedenen
Ansichten und Lehren der Menschen betrachtet, bis er in allen
mehr oder weniger gelungene Versuche, sich der Wahrheit zu
nähern, erkannte. Als Wahrheit galt ihm ferner nur das, was
sich der sinnlichen Wahrnehmung als Material darbot und vom
Verstande seine Form erhielt, also die logisch bearbeitete
Wahrnehmung. Solche Wahrheit zu suchen war sein Bestreben beim
Studium der Philosophie. Die Philosophie sollte ihm Grundlage
aller Wissenschaften sein. Er fand sie in den Schriften des
Aristoteles, weil dieser es am besten verstanden hatte, die
sinnliche Wahrnehmung einheitlich zu vernünftiger Erkenntnis
zu verknüpfen. Eifrig studierte und erläuterte er darum die
Werke des Aristoteles, zu Nutz und Frommen der Menschheit, zu
eigener Übung und als Schatz und Trost für sein Alter. Von
diesen Arbeiten scheint uns aber nichts erhalten zu sein.
Des Ibn al-Haithams bedeutendste Schrift, die in
lateinischer Übersetzung und Bearbeitung auf uns gekommen ist,
ist die Optik. Er zeigt sich darin als einen scharfen
mathematischen Denker, überall um die Analyse der Begriffe und
der wirklichen Vorgänge bemüht. Ein Abendländer des 13.
Jahrhunderts (Witelo) wusste das Ganze methodischer
darzustellen, doch dürfte an Schärfe der Beobachtung im
einzelnen Ibn al-Haitham jenem überlegen sein.
3. Das Denken Ibn al-Haithams ist ganz mathematisch
bestimmt. Die Substanz eines Körpers besteht nach ihm aus der
Summe seiner wesentlichen Eigenschaften, wie das Ganze der
Summe der Teile und der Begriff der Summe seiner Merkmale
gleich ist. [135]
In der Optik interessieren uns besonders die
psychologischen Bemerkungen über das Sehen und die
Sinneswahrnehmung überhaupt. Das Bestreben ist hier darauf
gerichtet, die einzelnen Momente der Wahrnehmung zu sondern
und den zeitlichen Charakter des ganzen Prozesses
hervorzuheben.
Die Wahrnehmung setzt sich dann zusammen aus der
Sinnesempfindung (1), der Vergleichung (2) mehrerer
Empfindungen oder der jetzigen Empfindung mit dem infolge
früherer Empfindungen nach und nach in der Seele geformten
Erinnerungsbilde, und dem Wiedererkennen (3), sodass wir das
jetzt Wahrgenommene als mit dem Erinnerungsbilde gleich
erkennen. Das Vergleichen und das Wiedererkennen sind keine
Thätigkeiten der Sinne, die nur passiv empfinden, sondern
fallen dem urteilenden Verstande zu. Gewöhnlich geht das alles
unbewusst oder halbbewusst von statten, und nur durch
Besinnung wird es uns zum Bewusstsein geführt und das
scheinbar Einfache in seine Bestandteile zerlegt.
Der Prozess der Wahrnehmung verläuft sehr schnell. Je
geübter der Mensch in dieser Hinsicht ist und je öfter eine
Wahrnehmung sich wiederholt, um so fester wird das
Erinnerungsbild der Seele eingeprägt, um so schneller kommt
das Wiedererkennen oder die Wahrnehmung zu Stande. Die Ursache
davon ist die, dass die neue Empfindung von dem schon
vorhandenen seelischen Gebilde ergänzt wird. Leicht könnte man
also meinen, die Wahrnehmung sei, wenigstens nach langer
Einübung, ein zeitloser Akt. Das wäre aber ein Irrtum, denn
nicht nur entspricht jeder Empfindung eine qualitative, im
Sinnesorgan lokalisierte Veränderung, die eine Zeit erfordert,
sondern auch zwischen der Reizung des Organs und der bewussten
Wahrnehmung muss der räumlichen Fortleitung des Reizes durch
die Nerven eine Zeitstrecke entsprechen. Dass es z. B. zur
Auffassung einer Farbe Zeit bedarf, beweist der drehende
Farbenkreisel, der uns nur eine Mischfarbe zeigt, weil wir
[136]wegen der schnellen Bewegung keine Zeit haben, die
einzelnen Farben aufzufassen.
Vergleichen und Wiedererkennen sind nach Ibn al-Haitham die
bedeutenden, seelischen Momente der Wahrnehmung. Dagegen
entspricht die Empfindung der Materie, der empfindende Sinn
verhält sich passiv. Eigentlich ist alles Empfinden an sich
eine Art Unlust, welche sich für gewöhnlich nicht fühlbar
macht, bei sehr starken Reizen aber, z. B. durch allzuhelles
Licht, zum Bewusstsein kommt. Der Charakter der Lust kommt nur
der vollkommenen Wahrnehmung zu, d. h. dem Erkennen, das die
Materie der Empfindung zur seelischen Form erhebt.
Das Vergleichen und Wiedererkennen in der Wahrnehmung ist
wesentlich ein unbewusstes Urteilen und Schließen. Das Kind
macht schon einen Schluss, wenn es von zwei Äpfeln den
schöneren wählt. Schließen ist jede Erfassung eines
Zusammenhanges. Weil aber Urteilen und Schließen schnell zu
Stande kommen, irrt der Mensch sich dabei leicht, und hält
auch oft für einen ursprünglichen Begriff, was nur ein auf dem
Wege des Schließens abgeleitetes Urteil ist. Bei allem, was
uns als Axiome verkündet wird, soll man doch auf der Hut sein
und nachspüren, ob es nicht aus Einfacherem abgeleitet werden
könne.
4. Diese Aufforderung unseres Philosophen hat im Orient
wenig gefruchtet. Zwar hat er in Mathematik und Astronomie
etwas Schule gemacht, aber für seine aristotelische
Philosophie gab es weniger Liebhaber. Wir kennen nur einen
seiner Schüler, der zu den Philosophen gezählt wird,
Abu-l-Wafa Mubasschir ibn Fatik al-Qaid, einen ägyptischen
Emir, der im Jahre 1053 ein Werk mit Spruchweisheit, Anekdoten
zur Philosophiegeschichte u. s. w. lieferte. Von eigener
Gedankenarbeit ist dabei kaum etwas zu spüren. Es sollte
unterhalten. Und mehr noch als an solchem Werke erbauten sich
die Einwohner Kairos [137]in der Folgezeit an den Märchen der
Tausend und eine Nacht.
Der Orient hat Ibn al-Haitham fast vergessen, ihn und seine
Werke verketzert. Ein Schüler des jüdischen Philosophen
Maimonides erzählt, er sei wegen Handelsgeschäfte in Bagdad
gewesen, als dort die Bibliothek eines Philosophen (gest.
1214) verbrannt wurde. Da warf ein Prediger, der die Exekution
leitete, mit eigener Hand eine astronomische Schrift des Ibn
al-Haitham in die Flammen, nachdem er auf eine darin
abgebildete Weltkugel als das Unglückszeichen verruchter
Gottlosigkeit hingewiesen hatte. [138]
1 Vgl. den Art. “Zu Kindi und seiner Schule” in Stein’s
Archiv für Geschichte der Philosophie XIII, S. 153 ff., aus
dem ich manches, ohne viel zu ändern, hier wieder aufgenommen
habe. ↑
2 Das arab. ʻaql (νοῦς) übersetzt man gewöhnlich mit
Vernunft und Intelligenz (lat. intellectus und intelligentia).
Ich ziehe aber Geist vor, weil der Ausdruck Gott und die
reinen (separaten) Sphärengeister mitumfasst. Übrigens ist
schwer zu entscheiden, wie weit bei den einzelnen Denkern die
Personifikation der Vernunft ging. ↑