Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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VI. Die Philosophie im Westen

3. Ibn Tofail

1. Die Herrschaft über den westlichen Islam verblieb den Berbern, aber an die Stelle der Almoraviden traten alsbald die Almohaden. Der Gründer der neuen Dynastie, Mohammed ibn Tumart, war seit 1121 als Mahdi aufgetreten. Unter seinen Nachfolgern Abu Jaaqub Jusuf (1163–1184) und Abu Jusuf Jaaqub (1184–1198) erreichte ihre Herrschaft, deren Sitz Marokko, den Höhepunkt.

Eine gewaltige Neuerung in der Theologie führten die Almohaden herbei: das bis jetzt verketzerte System der Aschari und Gazali wurde im Westen aufgenommen. Das [161]bedeutete eine Vergeistigung der Glaubenslehre, die weder Altgläubige noch Freidenker ganz befriedigen konnte, aber doch manchen zu weiterem Philosophieren angeregt haben mag. Bisher hatte man sich gegen alles Räsonnieren in Glaubenssachen ablehnend verhalten, und auch später noch waren viele Politiker und Philosophen der Ansicht, an dem Glauben der Menge solle man nicht rütteln, noch ihn zum Wissen erheben, sondern die Gebiete der Religion und der Philosophie reinlich scheiden.

Die Almohaden waren theologisch interessiert, doch zeigten Abu Jaaqub und dessen Nachfolger, soweit die politischen Verhältnisse es erlaubten, ein derartiges Verständnis für weltliches Wissen, dass eine kurze Blüte der Philosophie an ihrem Hofe hervorbrechen konnte.

2. Nachdem er in Granada eine Sekretärstelle bekleidet hatte, finden wir den Abu Bekr Mohammed ibn Abdalmalik ibn Tofail al-Qaisi als Wezir und Leibarzt des Abu Jaaqub. In der kleinen andalusischen Stadt Guadix war er geboren und in der Residenz Marokko starb er im Jahre 1185. Dazwischen liegt sein, wie es scheint, wenig wechselreiches Leben. Er liebte die Bücher mehr als die Menschen und in der großen Bibliothek seines Herrn las er sich vieles zusammen, das er für seine Kunst brauchte oder das seiner Wissbegierde zusagte. Er war der Dilettant unter den Philosophen des Westens, mehr zu beschaulichem Genießen als zu wissenschaftlicher Arbeit aufgelegt. Zum Schreiben kam er selten. Seiner Behauptung, das ptolemäische Weltsystem gründlich verbessern zu können, braucht man wohl nicht unbedingt Glauben zu schenken. Viele Araber haben Ähnliches behauptet, sie thaten es aber nicht.

Von Ibn Tofails poetischen Versuchen haben sich ein paar Gedichte erhalten. Sein Hauptbestreben aber war, dem des Ibn Sina ähnlich, griechische Wissenschaft mit orientalischer Weisheit zu einer modernen Weltansicht zu vereinigen. Wie Ibn Baddscha war ihm das ein persönliches [162]Anliegen. Das Verhältnis des einzelnen zu der Gesellschaft und ihren Vorurteilen beschäftigte auch seinen Geist. Aber er ging weiter. Ibn Baddscha ließ als Regel den einzelnen oder einen kleinen Kreis selbständiger Denker einen Staat im Staate bilden, gleichsam wie ein Abbild des großen Ganzen oder als Vorbild für bessere Zeiten. Ibn Tofail dagegen griff auf das Original zurück.

3. In seinem Werke “Hai ibn Jaqzan” stellt er den Fall rein dar. Zwei Inseln bilden die Scenerie: auf die eine versetzt er die menschliche Gesellschaft mit ihrer Konvention, auf die andere ein Individuum, das sich natürlich entwickelt. Die Gesellschaft als Ganzes wird von niederen Trieben, nur äußerlich durch eine grobsinnliche Religion etwas gebändigt, beherrscht. Aber zwei Männer aus dieser Gesellschaft, Salaman und Asal (Absal, vgl. IV, 4 § 7) genannt, erheben sich zu vernünftiger Erkenntnis und Beherrschung ihrer Begierden. Mit Anbequemung an die Volksreligion weiß der erstere, der praktischen Sinnes ist, das Volk zu regieren; der andere aber, von spekulativer Anlage und mystischer Neigung, wandert aus nach der gegenüberliegenden, wie er glaubt, unbewohnten Insel, dort dem Studium und der Askese sich zu ergeben.

Auf jener Insel aber war unser Hai ibn Jaqzan, d. h. der Einsame, der Sohn des Wachenden, zu einem vollkommenen Philosophen herangebildet. Als Kind nach der Insel verschlagen oder durch spontane Generation daselbst entstanden, war er von einer Gazelle gesäugt worden, hatte sich dann nach und nach, wie ein Robinson, aber ganz auf eigene Mittel angewiesen, eine materielle Existenz gegründet, ferner durch Beobachtung und Nachdenken sich die Erkenntnis der Natur, der Himmel, Gottes und seines Inneren erworben, bis er nach 7 × 7 Jahren das Höchste erreichte, nämlich das sufische Schauen Gottes, die Ekstase. In diesem Zustande fand ihn Asal. Nachdem sie dazu gelangt waren, sich zu verständigen — Hai war anfangs noch ohne Sprache — stellte es sich heraus, dass die Philosophie [163]des Einen und die Religion des Anderen zwei Formen derselben Wahrheit waren, nur in der ersteren etwas weniger verschleiert. Als dann aber Hai erfuhr, dass auf der gegenüberliegenden Insel ein ganzes Volk in dunklem Irrtum verharrte, fasste er den Entschluss, dahin zu gehen, den Leuten die Wahrheit zu enthüllen. Da musste er aber die Erfahrung machen, dass die Menge einer reinen Auffassung der Wahrheit nicht fähig war, und dass Mohammed weise daran gethan, als er dem Volke statt des vollen Lichtes Sinnbilder gegeben hatte. Nach diesem Ergebnis zog er sich deshalb mit seinem Freunde Asal auf die unbewohnte Insel zurück, Gott im Geist und Wahrheit zu dienen bis zum Tode.

4. Ibn Tofail hat den weitaus größten Teil seines Romans dem Entwicklungsgange Hais gewidmet. Es wird nun aber wohl nicht seine Meinung gewesen sein, das auf sich selbst gestellte Individuum könne es an der Hand der Natur ohne die Hilfe der Gesellschaft so weit bringen, wie unser Hai. Er dachte doch wohl etwas mehr historisch als einige Aufklärer des vorigen Jahrhunderts. Viele kleine Züge in seinem Werke zeigen, dass Hai der Vertreter der außerhalb der Offenbarung stehenden Menschheit sein soll. Was sich in ihm vollzieht, ist die Entwicklung indischer, persischer, griechischer Weisheit. Ein paar Andeutungen in dieser Richtung, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, mögen diese Ansicht wahrscheinlich machen. So ist es zunächst bedeutsam, dass Hai auf der Insel Ceylon lebt, deren Klima die spontane Generation ermöglichen soll, wo der Sage nach Adam, der erste Mensch, erschaffen wurde und wo der indische König zum Weisen kam. Hais erste religiöse Bewunderung, nachdem er sich aus tierischen Anfängen durch Scham und Neugierde emporgearbeitet, gilt dem von ihm entdeckten Feuer, was an die persische Religion erinnert. Und seine weiteren Spekulationen sind der griechisch-arabischen Philosophie entlehnt.

Die Verwandtschaft mit Ibn Sinas Hai-Gestalt [164](s. IV, 4 § 7), auf die Ibn Tofail selbst hinweist, ist klar. Nur tritt Hai hier menschlicher auf. Ibn Sinas Figur stellt den übermenschlichen Geist dar. Der Romanheld Ibn Tofails aber scheint die Personifikation zu sein des natürlichen, von oben her erleuchteten Geistes der Menschheit, der mit der richtig verstandenen Prophetenseele Mohammeds, deren Aussagen allegorisch zu deuten sind, vortrefflich übereinstimmen soll.

Ibn Tofail ist somit zu denselben Ergebnissen gekommen wie seine orientalischen Vorgänger. Dem gemeinen Manne muss die Religion erhalten bleiben, weil er nicht darüber hinaus kann. Nur wenige erheben sich zum Verständnis der religiösen Symbole. Und ganz vereinzelt erreicht einer die freie Anschauung der höchsten Wirklichkeit. Mit dem größten Nachdruck ist letzteres hier hervorgehoben. Auch wenn man in Hai den Vertreter der Menschheit findet, wird man das nicht leugnen können. Als die höchste Vollkommenheit des Menschen wird es hingestellt, in einsamster Stille, von allem Sinnlichen abgewendet, sein Selbst in den Weltgeist zu versenken.

Freilich, dazu kommt es erst im Alter, das außerdem einen menschlichen Freund findet. Und die Beschäftigung mit dem Materiellen, mit Künsten und Wissenschaften, bildet die natürliche Vorstufe geistiger Vollkommenheit. Ohne Reue und Scham darf also Ibn Tofail auf sein am Hofe verbrachtes Leben zurückschauen.

5. Die philosophischen Ansichten, die Hai sich in seinen sieben Lebensperioden entwickelte, sind uns schon öfter begegnet. Aber auch sein praktisches Verhalten wird von Ibn Tofail besonders berücksichtigt. Sufische Übungen, wie sie in orientalischen Ordensgemeinschaften noch befolgt werden, wie sie aber auch schon von Platon und Neuplatonikern empfohlen worden, haben die Stelle gottesdienstlicher Handlungen nach dem muslimischen Gesetze eingenommen. Und Hai bildet sich in der siebenten Periode seines Lebens eine Ethik aus, die pythagoreisch aussieht. [165]

Als den Zweck seines Handelns hat sich dem Hai ergeben, in allem das Eine zu suchen und sich mit dem Absoluten, Selbständigbestehenden zu vereinigen. Diesem Höchsten sieht er nämlich die ganze Natur zustreben. Über die Ansicht, alles auf Erden sei des Menschen wegen da, ist er hinaus. Tier und Pflanze leben ebenfalls für sich selbst und für Gott. Nicht willkürlich also darf er damit handeln. Auf das Notwendigste beschränkt er jetzt seine leiblichen Bedürfnisse. Reife Früchte werden von ihm bevorzugt, deren Samen er fromm der Erde anvertraut. Sorgfältig hütet er sich davor, dass durch seine Begierde irgend eine Art ganz aussterbe. Und nur in der äußersten Not greift er zu tierischer Nahrung, wobei er ebenso die Art möglichst zu schonen sucht. Genug zum Leben, zum Schlafen zu wenig, wird seine Losung.

Das betrifft das Verhalten seines Körpers zum Irdischen. Aber mit dem Himmel verbindet ihn der Lebensgeist. Und wie die Himmel bestrebt er sich, seiner Umgebung zu nützen und selbst rein zu leben. So pflegt er die Pflanze und schützt das Tier, damit seine Insel zum Paradiese werde. Er hält auf die äußerste Reinlichkeit seines Körpers und seiner Kleidung und sucht all seine Bewegungen harmonisch, denen der Himmelskörper gleichmäßig, zu gestalten.

Auf diese Weise wird er allmählich befähigt, sein Selbst über Erde und Himmel hinaus zum reinen Geiste zu erheben. Das ist der Zustand der Ekstase, den kein Gedanke, kein Wort, kein Bild je hat fassen oder ausdrücken können.

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