VI. Die Philosophie im Westen
4. Ibn Roschd
1. Abu-l-Walid Mohammed ibn Achmed ibn Mohammed ibn Roschd
(Averroes) wurde im Jahre 1126 zu Kordova aus einer
Juristenfamilie geboren. Dort eignete er sich auch die
gelehrte Bildung seiner Zeit an. Im Jahre 1153 [166]soll er
von Ibn Tofail dem Fürsten Abu Jaaqub Jusuf vorgestellt sein,
über welchen Vorfall wir einen charakteristischen Bericht
besitzen. Nach den einleitenden Höflichkeitsphrasen nämlich
fragte ihn der Fürst: Was ist die Ansicht der Philosophen über
den Himmel, ist er ewig oder entstanden? Vorsichtig antwortete
Ibn Roschd, er beschäftige sich nicht mit Philosophie. Darauf
fing der Fürst mit Ibn Tofail über den Gegenstand an zu reden
und zeigte zum Erstaunen des Zuhörers seine Bekanntschaft mit
Aristoteles, Platon und den Philosophen und Theologen des
Islam. Jetzt rückte auch Ibn Roschd mit der Sprache heraus und
erwarb sich die Gunst des hohen Herrn. Sein Schicksal war
bestimmt. Er sollte den Aristoteles interpretieren, wie keiner
es vor ihm gethan, damit die Menschheit rein und vollständig
die Wissenschaft besitze.
Nebenbei war er Jurist und Mediziner. Wir finden ihn (1169)
als Richter in Sevilla und kurz darauf in Kordova. Abu Jaaqub,
jetzt Chalif, beruft ihn im Jahre 1182 als seinen Leibarzt,
nach kurzer Zeit aber ist er wieder Richter in seiner
Vaterstadt, wie es sein Vater und Großvater gewesen. Aber die
Verhältnisse verschlechtern sich. Die Philosophen werden
verflucht und ihre Schriften ins Feuer geworfen. In seinem
Alter wird Ibn Roschd von Abu Jusuf nach Elisana (Lucena bei
Kordova) verbannt, doch stirbt er in der Residenz Marokko, am
10. Dez. 1198.
2. Auf Aristoteles konzentriert sich seine Wirksamkeit. Was
er von dessen Schriften und über sie erlangen kann, wird
fleißig studiert und genau verglichen. Ibn Roschd hat noch in
Übersetzung Schriften der Griechen gekannt, die jetzt ganz
oder teilweise verloren sind. Kritisch und systematisch geht
er ans Werk. Er paraphrasiert den Aristoteles, er
interpretiert, bald kürzer, bald ausführlicher, in mittleren
und großen Kommentaren. So verdient er sich den Namen des
Kommentators, den er [167]auch in Dantes Komödie besitzt. Es
ist, als ob die Philosophie der Muslime in ihm zum Verständnis
des Aristoteles kommen soll, um dann, fertig, sterben zu
können. Aristoteles ist für ihn der vollkommenste Mensch, der
größte Denker, der im Besitze einer unfehlbaren Wahrheit
gewesen. Neue Entdeckungen der Astronomie und der Physik
könnten daran nichts ändern. Zwar kann man den Aristoteles
mißverstehen. Ibn Roschd selbst hat manches, was er den
Schriften Farabis und Ibn Sinas entnommen, später anders und
besser verstehen gelernt. Doch lebt er immer des Glaubens,
dass der richtig verstandene Aristoteles mit der höchsten uns
Menschen erreichbaren Wissenschaft übereinstimmen werde. Im
ewigen Kreislaufe des Weltgeschehens hat Aristoteles eine Höhe
erreicht, über die hinauszugelangen nicht möglich ist. Denen,
die nach Aristoteles gekommen sind, hat es oft viel Mühe und
Nachdenken gekostet, sich die Einsichten zu erschließen, die
sich dem ersten Meister leicht eröffneten. Nach und nach aber
werden alle Zweifel und Gegenreden verstummen, denn
Aristoteles ist ein Übermensch, gleichsam von der Vorsehung
dazu bestimmt, zu zeigen, wie weit das menschliche Geschlecht
es in seiner Annäherung an den Weltgeist bringen kann. Als die
höchste Inkarnation des Geistes der Menschheit möchte Ibn
Roschd seinen Meister den göttlichen nennen.
Es wird sich im folgenden zeigen, dass die maßlose
Bewunderung für Aristoteles zu einer reinen Erfassung seiner
Gedanken auch bei Ibn Roschd nicht ausreichte. Den Ibn Sina zu
bekämpfen, lässt er keine Gelegenheit vorbeigehen. Mit Farabi
und Ibn Baddscha, denen er vieles verdankt, setzt er sich auch
gelegentlich auseinander. Er meistert alle seine Vorgänger,
weit schlimmer als Aristoteles es seinen Lehrer Platon gethan.
Und dennoch ist er selbst nicht hinausgekommen, bei weitem
nicht, über die Auffassung neuplatonischer Ausleger und die
Missverständnisse syrischer und arabischer Übersetzer. Öfter
[168]folgt er sogar dem oberflächlichen Themistius entgegen
dem verständigen Alexander von Aphrodisias, oder sucht ihre
Ansichten zu kombinieren.
3. Ibn Roschd ist vor allem ein Fanatiker der
aristotelischen Logik. Ohne sie wird man nicht selig und es
ist schade für Platon und Sokrates, dass sie nicht davon
wussten! Die Glückseligkeit der Menschen bemisst sich nach der
Stufe ihrer logischen Einsichten. Mit kritischem Blicke
erkennt er Porphyrs Isagoge als entbehrlich, aber Rhetorik und
Poetik rechnet er noch zum logischen Organon. Da gibt es denn
die wunderlichsten Missverständnisse. Tragödie und Komödie z.
B. werden zu Lob- und Schmähgedichten, die poetische
Wahrscheinlichkeit muss es sich gefallen lassen, entweder
demonstrierbare Wahrheit oder trügerischen Schein zu bedeuten,
die Erkennung auf der Bühne wird zur apodeiktischen Erkenntnis
u. s. w. Von der griechischen Welt hat er natürlich überhaupt
keine Anschauung. Es ist verzeihlich, denn er konnte keine
Ahnung davon haben. Dennoch verzeiht man nicht gerne dem, der
andere geschulmeistert.
Wie seine Vorgänger legt Ibn Roschd besonderen Nachdruck
auf das Sprachliche, soweit es allen Sprachen gemeinsam.
Dieses Gemeinsame, das Universelle also, hat Aristoteles,
meint er, in seiner Hermeneutik, aber auch in der Rhetorik,
immer vor Augen. So soll es auch der arabische Philosoph
halten, nur darf er die Beispiele zur Erläuterung der
allgemeinen Regeln der arabischen Sprache und Litteratur
entnehmen. Um die allgemeinen Regeln aber ist es zu thun,
Wissenschaft ist Erkenntnis des Allgemeinen.
Die Logik ebnet dazu die Wege, dass unser Wissen aus
sinnlicher Besonderheit zur reinen Vernunftwahrheit aufsteige.
Die Menge wird immer im Sinnlichen leben, im Irrtum
herumtappen. Mangelhafte Anlage und wenig Ausbildung, dazu
schlechte Gewöhnung halten sie vom Fortschritt zurück. Doch
muss es einigen möglich sein, zur Erkenntnis der Wahrheit zu
gelangen. Der Adler [169]schaut der Sonne ins Gesicht, denn,
wenn keiner sie anschauen könnte, so hätte die Natur etwas
vergebens gemacht. Was da glänzt, soll gesehen, was da ist,
soll erkannt werden, wenn auch nur von einem einzigen Manne.
Und die Wahrheit ist. Die Liebe zu ihr in unserer Brust wäre
ganz vergebens, wenn wir uns ihr nicht nähern könnten. Ibn
Roschd glaubt, in vielen Dingen die Wahrheit zu erkennen, ja
die absolute Wahrheit auffinden zu können. Mit Lessing hätte
er sich nicht bescheiden mögen, sie zu suchen.
Die Wahrheit ist ihm ja in Aristoteles gegeben. Von diesem
Standpunkte blickt er auf die muslimische Theologie herab.
Zwar erkennt er in der Religion eine Wahrheit eigener Art (s.
unten § 7), aber die Theologie ist ihm zuwider. Sie will
beweisen, was, auf diese Weise, nicht bewiesen werden kann.
Die Offenbarung im Koran, so lehrt Ibn Roschd mit anderen,
später ähnlich Spinoza, hat nicht den Zweck, die Menschen zu
belehren, sondern sie zu bessern. Nicht Wissen, sondern
Gehorsam oder Sittlichkeit ist das Ziel des Gesetzgebers, der
weiß, dass menschliches Glück nur in der Gesellschaft zu
verwirklichen ist.
4. Was Ibn Roschd von seinen Vorgängern, namentlich von Ibn
Sina, unterscheidet, ist vor allem die unzweideutige Art und
Weise, in der er die Welt als ewigen Prozess des Werdens
auffasst. Die Welt als ganzes ist eine ewig-notwendige
Einheit, ohne irgendwelche Möglichkeit des Nicht- oder
Andersseins. Materie und Form sind nur im Gedanken zu trennen.
Die Formen wandern nicht wie Gespenster durch die dunkle
Materie, sondern sind keimartig in dieser enthalten. Wie
Naturkräfte wirken die materiellen Formen, ewig fortzeugend,
nie von der Materie getrennt, aber dennoch göttlich zu nennen.
Absolutes Entstehen und Vergehen gibt es nicht, denn alles
Geschehen ist Übergang von der Potenzialität zur Aktualität
und von der Aktualität in die Potenzialität zurück. Dabei wird
gleichartiges immer nur von gleichartigem erzeugt. [170]
Es gibt aber eine Stufenordnung des Seienden. Die
materielle oder substanzielle Form steht in der Mitte zwischen
bloßem Accidens und reiner (separater) Form. Auch die
substanziellen Formen zeigen graduelle Verschiedenheiten,
Mittelzustände zwischen Potenzialität und Aktualität. Und
endlich das ganze System der Formen, von der niedersten
hylischen Form bis zum göttlichen Wesen, der Urform des Alls,
ist ein geschlossener Stufenbau.
Der ewige Prozess des Werdens innerhalb der gegebenen
Ordnung setzt nun eine ewige Bewegung voraus, und diese ein
ewig Bewegendes. Wenn die Welt entstanden wäre, so könnte man
von ihr nur schließen auf eine andere, ebenfalls entstandene
Körperwelt, die sie erzeugt hätte, ins Unendliche. Wenn sie
ein Mögliches wäre, nur auf ein Mögliches, daraus sie
geworden, und so in infinitum. Nur die Annahme einer
einheitlich ewig-notwendig bewegten Welt gewährt uns nach Ibn
Roschd die Möglichkeit, auf ein ewig bewegendes, von der Welt
getrenntes Wesen zu schließen, das, indem es immerfort die
Bewegung und schöne Ordnung des Alls bewirkt, Urheber der Welt
genannt werden darf, und das in den Geistern, welche die
Sphären bewegen — denn jede besondere Bewegung erfordert ihr
besonderes Prinzip —, die Vermittler seiner Thätigkeit hat.
Das Wesen des ersten Bewegenden oder Gottes, sowie der
Sphärengeister, findet Ibn Roschd im Denken, in dem ihm die
Einheit des Seins gegeben ist. Das mit seinem Gegenstande
identische Denken ist die einzige positive Bestimmung des
göttlichen Wesens, womit dann Sein und Einheit absolut
zusammenfallen. Sein und Einheit kommen nämlich nicht zum
Wesen hinzu, sondern sind, wie alle Universalien, nur im
Denken gegeben. Das Denken bringt überall das Allgemeine im
Besonderen hervor. Zwar ist das Universale als Natur in den
Dingen wirksam, aber das Universale als solches ist nur im
Verstande. Oder der Möglichkeit nach ist es in den Dingen,
wirklich aber im [171]Verstande, d. h. im Verstande hat es
mehr Sein, eine höhere Art zu existieren als in den Dingen.
Fragt man nun, ob das göttliche Denken auch das Besondere,
oder nur das Allgemeine umfasse, so antwortet Ibn Roschd:
keins von beidem, denn über beides ist das göttliche Wesen
hinaus. Sein Denken bewirkt das All, umfasst das All. Gott ist
das Prinzip, die Urform und der Endzweck aller Dinge. Er ist
die Weltordnung, die Versöhnung aller Gegensätze, das All
selbst in seiner höchsten Existenzweise. Dass von einer
göttlichen Vorsehung im gewöhnlichen Sinne also nicht geredet
werden könne, ergibt sich daraus von selbst.
5. Zwei Arten des Seienden kennen wir: ein bewegtes und ein
bewegendes, selbst aber unbewegtes, oder ein körperliches und
ein geistiges. Im Geistigen aber liegt die höhere Einheit oder
Vollendung alles Seienden in stufenmäßiger Ordnung. Es ist
also keine abstrakte Einheit. Die Sphärengeister sind, je
ferner sie dem ersten stehen, um so weniger einfach. Alle
erkennen sich selbst, aber in ihrem Wissen ist auch die
Beziehung auf die erste Ursache. Daraus ergibt sich eine Art
Parallelismus zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Der
Zusammensetzung des Körperlichen aus Materie und Form
entspricht etwas in den niederen Geistern. Was dem rein
Geistigen beigemischt, ist zwar keine Materie, die etwas
erleiden könnte, aber doch etwas der Materie ähnliches, das
ein anderes in sich aufzunehmen vermag. Sonst ließe sich mit
der Einheit des auffassenden Geistes die Vielheit der
Intelligibilia nicht in Übereinstimmung bringen.
Die Materie erleidet, der Geist aber empfängt.
Hauptsächlich mit Rücksicht auf den menschlichen Geist hat Ibn
Roschd diesen fein unterscheidenden Parallelismus eingeführt.
6. Dass die menschliche Seele sich zu ihrem Körper
verhalte, wie die Form zur Materie, steht dem Ibn Roschd fest.
Es ist ihm völlig ernst damit. Die Theorie vieler
[172]unsterblicher Seelen weist er, Ibn Sina bekämpfend, ganz
bestimmt zurück. Nur als Vollkommenheit ihres Leibes hat die
Seele einen Bestand.
Was die empirische Psychologie betrifft, ist er ängstlich
bestrebt, sich an Aristoteles, gegen Galen u. a., zu halten.
Aber in der Lehre vom Nus entfernt er sich, ohne dass er sich
dessen bewusst wäre, nicht unbeträchtlich von seinem Meister.
Eigentümlich, von neuplatonischen Anschauungen ausgehend, ist
seine Auffassung der materiellen Vernunft. Sie ist nicht bloß
eine Anlage oder eine Fähigkeit der menschlichen Seele. Sie
ist auch nicht gleichbedeutend mit dem sinnlich-geistigen
Vorstellungsleben, sondern sie ist etwas Überseelisches,
Überindividuelles. Die materielle Vernunft ist ewiger,
unvergänglicher Geist, ebenso ewig und unvergänglich wie die
reine Vernunft oder der thätige Geist über uns. Es ist die
Verselbständigung der Materie im Bereiche des Körperlichen,
die hier von Ibn Roschd, freilich mit Anschluss an Themistius
u. a., auf das Gebiet des Geistigen übertragen wird.
Die materielle Vernunft ist also ewige Substanz. Die Anlage
aber oder die Fähigkeit des menschlichen Individuums zu
geistiger Erkenntnis nennt Ibn Roschd leidende Vernunft. Diese
entsteht und vergeht mit den Individuen, während die
materielle Vernunft ewig ist, wie die Gattung der Menschheit.
Nun bleibt aber, wie nicht anders möglich, das Verhältnis
zwischen dem thätigen und dem empfangenden Geiste (so sagen
wir jetzt für materielle Vernunft) etwas dunkel. Der thätige
Geist macht die Vorstellungen der menschlichen Seele
intelligibel, der empfangende Geist nimmt sie in sich auf. Das
Seelenleben der menschlichen Individuen ist also der Ort, wo
das mystische Liebespaar sich trifft. Und die Örter sind sehr
verschieden. Von der ganzen seelischen Anlage des Menschen und
von der Disposition seiner Vorstellungen hängt es ab, in
welchem Grade der thätige Geist dieselben zur Intelligibilität
erheben [173]kann, inwiefern der empfangende Geist sie zu
seinem Inhalte zu machen im Stande ist. Dadurch erklärt es
sich, dass die Menschen nicht alle auf derselben Stufe
geistigen Erkennens stehen. Aber die Summe geistiger
Erkenntnis in der Welt ändert sich nicht, wenn auch ihre
Verteilung an die einzelnen Schwankungen unterliegt. Mit
Naturnotwendigkeit ersteht immer wieder der Philosoph, sei es
Aristoteles oder Ibn Roschd, in dessen Kopf das Seiende zum
Begriff wird. Zwar sind die Gedanken der Individuen zeitlich
und ist der empfangende Geist, insofern der einzelne an ihm
teil hat, veränderlich, aber als menschliche Gattungsvernunft
betrachtet, ist dieser Geist ewig unveränderlich, wie der
thätige Geist aus der letzten Sphäre über uns.
7. Im ganzen sind es drei große Ketzereien, die das System
des Ibn Roschd in Widerspruch setzen zu der Theologie der drei
Weltreligionen seiner Zeit. Erstens die Ewigkeit der
Körperwelt und der sie bewegenden Geister, zweitens der
notwendige Kausalnexus alles Weltgeschehens, sodass für
Vorsehung, Wunder und dergleichen kein Platz bleibt, und
drittens die Vergänglichkeit alles Individuellen, womit auch
die individuelle Unsterblichkeit aufgehoben ist.
Logisch betrachtet scheint die Annahme einer Anzahl
selbständiger Sphärengeister unter Gott keinen genügenden
Grund zu besitzen. Aber Ibn Roschd hilft sich hier, wie seine
Vorgänger, über den Widerspruch hinweg mit der Behauptung,
jene Sphärengeister seien nicht individuell, sondern nur der
Art nach verschieden. Ihr Zweck war ja nur, so lange die
Einheit des Weltsystems nicht erkannt war, die verschiedenen
Bewegungen zu erklären. Nachdem das ptolemäische Weltsystem
gefallen und diese vermittelnden Geister überflüssig wurden,
identifizierte man den thätigen Geist mit Gott, wie es
übrigens auch schon früher von spekulativer und religiöser
Seite versucht war. Ein Schritt weiter war es nur, auch den
ewigen Geist der Menschheit mit Gott zu identifizieren. Keins
von beiden [174]hat Ibn Roschd gethan, wenigstens nicht nach
dem Wortlaute seiner Schriften. Aber in seinem Systeme war,
bei konsequenter Durchführung, die Möglichkeit dazu gegeben,
wie zu einer pantheistischen Weltanschauung überhaupt.
Andererseits konnte sich leicht der Materialismus, wie
entschieden ihn auch unser Philosoph bekämpfte, daran lehnen.
Denn wo die Ewigkeit, Form und Wirksamkeit alles Materiellen
so stark betont wird, wie von ihm geschah, da mag der Geist
noch König heißen, aber, wie es scheinen könnte, nur von des
Stoffes Gnaden.
Jedenfalls ist Ibn Roschd ein kühner und folgerichtiger,
wenn auch kein origineller Denker zu nennen. Die theoretische
Philosophie genügte ihm, doch schuldete er es seiner Zeit und
seiner Stellung, sich mit der Religion und der Praxis
abzufinden. Wir können uns darüber kurz fassen.
8. Ibn Roschd findet oft Gelegenheit, gegen die
ungebildeten Herrscher und die bildungsfeindlichen Theologen
seiner Zeit sich zu äußern. Doch bleibt ihm das Leben im
Staate immer der Einsamkeit vorzuziehen. Auch seinen Gegnern
dankt er — das ist ein erfreulicher Charakterzug — für manche
Belehrung. Die Einsamkeit, meint er, bringe keine Künste und
Wissenschaften hervor, höchstens könne man in ihr das
Erworbene genießen und es vielleicht um ein weniges vermehren.
Zum Wohle des Ganzen aber soll jeder beitragen, auch die
Frauen sollen wie die Männer der Gesellschaft und dem Staate
dienen. Hier schließt Ibn Roschd sich dem Platon an (die
Politik des Aristoteles hat er nicht gekannt) und bemerkt ganz
vernünftig, viel Armut und Elend seiner Zeit rühre daher, dass
man sich die Weiber nur zu einem außerdem sehr fraglichen
Vergnügen wie Haustiere oder Pflanzen halte, statt sie an der
materiellen und geistigen Güterproduktion und der Hütung
dieser Güter teilnehmen zu lassen.
In der Ethik tadelt unser Philosoph sehr scharf die Doktrin
der Rechtslehrer, dass etwas nur gut oder böse [175]sei, weil
Gott es so gewollt. Alles hat vielmehr von Natur oder
vernunftgemäss seinen sittlichen Charakter. Die von
vernünftiger Einsicht bestimmte Handlung ist sittlich.
Freilich ist es nicht die Einzelvernunft, sondern die
Staatsraison, an die in letzter Instanz zu appellieren ist.
Von staatsmännischem Gesichtspunkte aus betrachtet Ibn
Roschd auch die Religion. Er würdigt sie ihres moralischen
Zweckes wegen. Sie ist Gesetz, keine Lehre. Deshalb bekämpft
er fortwährend die Theologen, die statt gläubig zu gehorchen
begreifen wollen. Er macht es Gazali zum Vorwurf, dass dieser
der Philosophie Einfluss auf seine Religionslehre auszuüben
gestattet und dadurch viele zum Zweifel und Unglauben
veranlasst hat. Das Volk soll glauben, so wie es im Buche
steht. Das ist Wahrheit, freilich eine Wahrheit für große
Kinder, denen man Märchen erzählt. Was darüber hinaus, ist vom
Übel. Für die Existenz Gottes z. B. hat der Koran zwei jedem
einleuchtende Beweise: die göttliche Fürsorge für alles,
besonders für den Menschen, und die Erschaffung des Lebens in
Pflanzen, Tieren u. s. w. Daran ist nicht zu rütteln, am
Wortlaute der Offenbarung nicht theologisch herumzudeuteln.
Denn die Beweise, welche die Theologen für das Dasein Gottes
beibringen, halten einer wissenschaftlichen Kritik nicht
Stand, ebensowenig wie der aus dem Begriffe des Möglichen und
Notwendigen bei Farabi und Ibn Sina. Das alles führt zu
Atheismus und Libertinismus. Im Interesse der Sittlichkeit,
des Staates also, ist die halbe Theologie zu bekämpfen.
Dagegen dürfen die wissenden Philosophen das Wort Gottes im
Koran deuten. Im Lichte höchster Wahrheit verstehen sie, was
damit bezweckt ist. Und dem gemeinen Manne sagen sie davon nur
so viel, wie er eben aufzufassen im Stande ist. Auf diese
Weise kommt die schönste Harmonie heraus. Religionsgesetz und
Philosophie stimmen mit einander überein, eben weil sie nicht
dasselbe wollen. Wie Praxis und Theorie verhalten sie sich.
Indem der [176]Philosoph die Religion begreift, lässt er sie
in ihrem Bereiche gelten, sodass die Philosophie gar nicht
wider die Religion verstößt. Die Philosophie aber ist die
höchste Form der Wahrheit, zugleich auch die erhabenste
Religion. Die Religion des Philosophen nämlich ist die
Erkenntnis alles dessen, was ist.
Aber irreligiös erscheint diese Ansicht doch, und eine
positive Religion kann es sich nicht gefallen lassen, im
Reiche der Wahrheit die führende Stellung der Philosophie
anzuerkennen. Nur natürlich war es, dass die Theologen des
Westens, ähnlich ihren orientalischen Brüdern, die Gunst der
Verhältnisse ausnutzten und nicht ruhten, bis sie die Herrin
zur Magd der Theologie erniedrigt hatten. [177]
1 Vgl. hierzu Munk, Mélanges, p. 389–409. ↑