VII. Zum Schluss
2. Die Araber und die Scholastik
1. Dem Sieger gehört die Braut. In den Kriegen zwischen
Christen und Muslimen, die in Spanien geführt wurden, hatten
erstere oft die Anziehungskraft maurischer Schönen kennen
gelernt. Manch christlicher Ritter hatte mit einer Mohrin den
“neuntägigen Gottesdienst” gefeiert. Aber außer den
materiellen Gütern und den sinnlichen Genüssen wirkten auch
die Reize geistiger Kultur auf die Eroberer. Und so erschien
die arabische Wissenschaft dem Auge vieler wissensbedürftiger
Männer wie eine holde Braut.
Vermittelnd traten da besonders Juden auf. Die Juden hatten
alle Wandlungen der muslimischen Geisteskultur mitgemacht.
Viele haben in der arabischen Sprache geschrieben, andere
arabische Schriften ins Hebräische übertragen. Manch
philosophisches Werk muslimischer Autoren verdankt diesem
Umstande seine Erhaltung.
Der Schlusspunkt jüdisch-philosophischer Entwicklung war
Maimonides (1135–1204), der, hauptsächlich unter dem Einflusse
Farabis und Ibn Sinas, Aristoteles mit dem Alten Testamente zu
versöhnen suchte. Teils deutete er die philosophischen Lehren
aus dem offenbarten Texte heraus, teils ließ er die
aristotelische Philosophie auf das Irdische sich beschränken,
während dasjenige, was drüber ist, aus dem göttlichen Buche
erkannt werden sollte.
In den muslimischen Staaten zur Zeit ihrer Blüte hatten die
Juden sich an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligt.
[185]Sie waren geduldet, auch wohl begünstigt worden. Aber mit
dem Zusammenbruch jener Staaten, beim Niedergange der Kultur,
änderte sich ihre Lage. Von fanatisierten Massen vertrieben,
flüchteten sie sich in die Christenländer, besonders nach
Südfrankreich, dort als Kulturvermittler ihre Mission zu
erfüllen.
2. An zwei Punkten berührte sich die muslimische mit der
christlichen Welt des Abendlandes: in Unteritalien und in
Spanien. Zu Palermo, am Hofe Kaiser Friedrichs II. wurde die
arabische Wissenschaft eifrig gepflegt und den Lateinern
zugänglich gemacht. Der Kaiser und sein Sohn Manfred schickten
den Universitäten zu Bologna und Paris Übersetzungen
philosophischer Schriften, zum Teil aus dem Arabischen, zum
Teil aber auch direkt aus dem Griechischen.
Viel bedeutender aber und einflussreicher war die
Übersetzerthätigkeit in Spanien. In dem von den Christen
zurückeroberten Toledo befand sich eine reiche arabische
Moschee-Bibliothek, die als Bildungsstätte weit in die
nördlichen Christenländer hinein bekannt wurde. Mosaraber und
Juden, zum Teil getaufte, arbeiteten dort mit spanischen
Christen zusammen. Aus allen Ländern fanden sich Mitarbeiter.
So wirkten z. B. als Übersetzer Johannes Hispanus und
Gundisalinus (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts), Gerard von
Cremona (1114–1187), Michel der Schotte und Hermann der
Deutsche (zwischen 1240 und 1246). Über die Thätigkeit dieser
Männer sind wir im einzelnen noch nicht genügend unterrichtet.
Insofern jedem Worte des arabischen Originales oder der
hebräischen (auch spanischen?) Übersetzung irgend ein
lateinisches entspricht, sind ihre Übersetzungen treu zu
nennen. Durch geistvolles Verständnis zeichnen sie sich im
allgemeinen nicht aus. Demjenigen, der des Arabischen nicht
kundig ist, fällt es schwer, sich da hinein zu lesen.
Gespensterhaft nehmen sich viele beibehaltene arabische Worte
und bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete Eigennamen aus. Es
mag das alles eine schöne Verwirrung in den Köpfen
lateinischer Philosophieschüler [186]angestiftet haben. Und
nicht weniger thaten es die sich neu aufschließenden Gedanken.
Die Übersetzerthätigkeit hält im allgemeinen gleichen
Schritt mit dem Interesse christlicher Kreise, und dieses hat
sich ähnlich entwickelt, wie wir es im östlichen und
westlichen Islam zu beobachten Gelegenheit hatten (vgl. VI, 1
§ 2). Die ersten Übersetzungen sind mathematisch-astrologisch,
medizinisch, naturphilosophisch, psychologisch, daran sich das
logische und metaphysische schließt. Später beschränkt man
sich mehr auf Aristoteles und seine Kommentare, anfangs aber
wird allerhand Wundersüchtiges bevorzugt.
Kindi wurde hauptsächlich als Arzt und Astrolog bekannt.
Ibn Sina wirkte durch seine Medizin, empirische Psychologie
und dazu seine Naturphilosophie und Metaphysik. Weniger
Einfluss übten neben ihm Farabi und Ibn Baddscha aus. Zuletzt
kamen die Kommentare des Ibn Roschd (Averroes) und ihr Ansehen
hat, neben Ibn Sinas Kanon der Medizin, am längsten Stand
gehalten.
3. Was hat nun die christliche Philosophie des Mittelalters
den Muslimen zu verdanken? Diese Frage zu beantworten, gehört
eigentlich nicht mehr zur Aufgabe dieser Monographie. Es ist
eine Arbeit für sich, dafür es viele Folianten, von denen ich
keinen gelesen, zu durchstöbern gibt. Im allgemeinen lässt
sich sagen, dass sich in den Übersetzungen aus dem Arabischen
dem christlichen Abendlande ein zweifaches Neues aufthat.
Erstens bekam man den Aristoteles, sowohl logisch als
physisch-metaphysisch, vollständiger als man ihn bisher
kannte. Doch war dies nur von vorübergehender, zeitweilig
anregender, Bedeutung, denn bald wurden alle seine Schriften
direkt aus dem Griechischen viel besser ins Lateinische
übersetzt. Das wichtigste aber war, dass man aus den Schriften
der Araber, namentlich des Ibn Roschd, eine eigentümliche
Auffassung der aristotelischen Lehren als der höchsten
Wahrheit kennen lernte. Dies musste fortwährend zum
Widerspruch, zum [187]Kompromiss zwischen Theologie und
Philosophie, oder gar zur Leugnung des Kirchenglaubens
Veranlassung geben. Zum Teil anregend, zum Teil zersetzend
wirkte so die muslimische Philosophie auf die scholastische
Entwicklung des kirchlichen Dogmas ein. Denn gleichgültig
neben einander hergehen, wie das bei muslimischen Denkern wohl
vorgekommen, konnten im Christentume Philosophie und Theologie
noch nicht. Dazu hatte die christliche Dogmatik schon in den
ersten Jahrhunderten ihrer Ausbildung zu viel griechische
Philosophie in sich aufgenommen. Sie konnte noch etwas mehr
sich assimilieren. Und es war verhältnismäßig leichter, über
die einfachen Lehren des Islam als über die verwickelten
Dogmen des Christentums hinauszukommen.
Die christliche Theologie zeigte, als im 12. Jahrhundert
der Einfluss der Araber zu wirken anfing, einen
neuplatonisch-augustinischen Charakter. Bei den Franziskanern
blieb auch im 13. Jahrhundert dieser Charakter gewahrt. Damit
kam nun die pythagoreisch-platonische Richtung im muslimischen
Denken gut überein. Für Duns Scotus war Ibn Gebirol (Avencebrol,
s. VI, 1 § 2) eine erste Autorität. Dagegen nahmen die großen
Dominikaner, Albert und Thomas, die die Zukunft der
kirchlichen Lehre bestimmten, einen gemäßigten Aristotelismus
auf, mit dem sich vieles aus Farabi, besonders aber aus Ibn
Sina und Maimonides, ganz gut vertrug.
Erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts geht eine tiefere
Wirkung von Ibn Roschd aus, und zwar in Paris, dem
Mittelpunkte der damaligen christlich-wissenschaftlichen
Bildung. Im Jahre 1256 schreibt Albert der Große noch gegen
Averroes, 15 Jahre später aber Thomas von Aquino gegen die
Averroisten. Ihr Haupt ist Siger von Brabant (seit 1266
bekannt), Mitglied der Artistenfakultät von Paris. Vor der
strengen Konsequenz des averroistischen Systems schreckt er
nicht zurück. Und wie Ibn Roschd den Ibn Sina meistert, so
kritisiert, wenn auch äußerst [188]respektierlich, Siger den
großen Albert und den heiligen Thomas. Zwar versichert er,
sich der Offenbarung zu unterwerfen, aber die Vernunft
bestätigt ihm doch, was Aristoteles, in zweifelhaften Fällen
nach der Erklärung des Ibn Roschd, in seinen Schriften gelehrt
hat. Sein feiner Intellektualismus gefällt aber den Theologen
nicht. Wie es scheint auf Anstiften der Franziskaner, die in
ihm vielleicht auch den Aristotelismus der Dominikaner treffen
wollten, wird er von der Inquisition verfolgt, bis er zu
Orvieto (um 1281–1284) im Gefängnis stirbt. Dante, der
möglicherweise von seinen Ketzereien nichts wusste, hat
unseren Siger als Repräsentanten weltlicher Wissenschaft ins
Paradies versetzt.
Dagegen sind ihm die beiden Vertreter der muslimischen
Philosophie neben den großen und weisen Männern Griechenlands
und Roms in der Hölle Vorhalle begegnet. Ibn Sina und Ibn
Roschd schließen dort die Reihe der großen Heiden, zu denen,
wie Dante, die Nachwelt noch oft mit Bewunderung emporgeblickt
hat. [189]
1 Ibn Chaldun spricht nur von armen Reichen und schweigt
von Proletariern und großstädtischem Elend, wie wir es kennen.
Er hat auch meistens nur in kleineren Städten gelebt und Kairo
aus der Ferne bewundert. ↑