Ghazali und die Räuber
Der bekannte islamische Gelehrte Ghazali
stammte aus Tus, einem Dorf in der Nähe von Maschhad. Zu
seinen Lebzeiten im elften Jahrhundert war Nischabur die
Hauptstadt jener Gegend und das Zentrum der Wissenschaften.
Die Studienanwärter aus allen umliegenden Ortschaften gingen
zu Studienzwecken nach Nischabur. Ghazali ging auch dort hin
und nach Gorgan und studierte jahrelang mit großer Hingabe bei
Gelehrten. Um seine erworbenen Kenntnisse nicht zu vergessen
und die Früchte seiner Mühen später zu ernten, schrieb er
alles auf und heftete seine Schriften zusammen. Diese Hefte,
die das Ergebnis seines jahrelangen Fleißes waren, liebte er
wie das Leben. Als er nach vielen Jahren in seinen Heimatort
zurückkehren konnte, ordnete er seine Hefte, steckte sie in
einen Sack und machte sich mit einer Karawane auf den Weg.
Die Karawane kam, wie es der Zufall
wollte, an einigen Räubern und Wegelagerern vorbei. Diese
versperrten der Karawane den Weg und sammelten alles Stück für
Stück ein, was sie an Hab und Gut finden konnten. Als Ghazali
mit seinen Habseligkeiten an der Reihe war und sich die Räuber
an dem Sack zu schaffen machten, flehte er sie an: “Nehmt
alles, was ich habe, aber laßt mir diesen Sack.“ Die
Räuber dachten, daß sich in dem Sack etwas Kostbares befinden
müsse. Sie machten ihn auf, fanden darin aber nur
beschriebenes Papier. “Was ist das? Wozu ist das gut?“,
fragten sie. “Was sie auch sind, euch nützen sie nichts.
Aber ich kann sie gut gebrauchen,“ sagte Ghazali. “Wozu
brauchst du sie?“, fragen die Räuber. “Das sind die
Früchte meines jahrelangen Studiums. Wenn ihr sie mir weg
nehmt, verliere ich alles, was ich an Kenntnissen erworben
habe. Dann sind alle meine Mühen umsonst gewesen.“, sagte
Ghazali. “Sind das die Kenntnisse, die du erworben hast?“,
fragten die Räuber erstaunt. “Ja“, war die Antwort.
“Eine Wissenschaft, die in den Sack gesteckt wird und zudem
noch gestohlen werden kann, ist keine Wissenschaft. Gehe, und
mach dir Gedanken über deinen Zustand“, sagten die Räuber.
Diese einfachen und volkstümlichen Worte
rüttelten das empfängliche Gewissen Ghazalis wach. Bis dahin
hatte er sich damit begnügt, seinem Meister wie ein Papagei
zuzuhören und das Gehörte in ein Buch einzutragen. Nach diesem
Ereignis nahm er sich vor, seinen Geist durch Denken zu
trainieren, mehr zu überlegen und zu forschen und sich die
nützlichen Dinge einzuprägen.
Ghazali hat einmal gesagt: “Den besten
Ratschlag, der mein Geistesleben wesentlich beeinflußte, bekam
ich von einem Räuber.“12