Rechtschaffene

Auszüge aus

Geschichten der Rechtschaffenen

für Jung und Alt

Ayatollah Morteza Motahhari

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Ghazali und die Räuber

Der bekannte islamische Gelehrte Ghazali stammte aus Tus, einem Dorf in der Nähe von Maschhad. Zu seinen Lebzeiten im elften Jahrhundert war Nischabur die Hauptstadt jener Gegend und das Zentrum der Wissenschaften. Die Studienanwärter aus allen umliegenden Ortschaften gingen zu Studienzwecken nach Nischabur. Ghazali ging auch dort hin und nach Gorgan und studierte jahrelang mit großer Hingabe bei Gelehrten. Um seine erworbenen Kenntnisse nicht zu vergessen und die Früchte seiner Mühen später zu ernten, schrieb er alles auf und heftete seine Schriften zusammen. Diese Hefte, die das Ergebnis seines jahrelangen Fleißes waren, liebte er wie das Leben. Als er nach vielen Jahren in seinen Heimatort zurückkehren konnte, ordnete er seine Hefte, steckte sie in einen Sack und machte sich mit einer Karawane auf den Weg.

Die Karawane kam, wie es der Zufall wollte, an einigen Räubern und Wegelagerern vorbei. Diese versperrten der Karawane den Weg und sammelten alles Stück für Stück ein, was sie an Hab und Gut finden konnten. Als Ghazali mit seinen Habseligkeiten an der Reihe war und sich die Räuber an dem Sack zu schaffen machten, flehte er sie an: “Nehmt alles, was ich habe, aber laßt mir diesen Sack.“ Die Räuber dachten, daß sich in dem Sack etwas Kostbares befinden müsse. Sie machten ihn auf, fanden darin aber nur beschriebenes Papier. “Was ist das? Wozu ist das gut?“, fragten sie. “Was sie auch sind, euch nützen sie nichts. Aber ich kann sie gut gebrauchen,“ sagte Ghazali. “Wozu brauchst du sie?“, fragen die Räuber. “Das sind die Früchte meines jahrelangen Studiums. Wenn ihr sie mir weg nehmt, verliere ich alles, was ich an Kenntnissen erworben habe. Dann sind alle meine Mühen umsonst gewesen.“, sagte Ghazali. “Sind das die Kenntnisse, die du erworben hast?“, fragten die Räuber erstaunt. “Ja“, war die Antwort. “Eine Wissenschaft, die in den Sack gesteckt wird und zudem noch gestohlen werden kann, ist keine Wissenschaft. Gehe, und mach dir Gedanken über deinen Zustand“, sagten die Räuber.

Diese einfachen und volkstümlichen Worte rüttelten das empfängliche Gewissen Ghazalis wach. Bis dahin hatte er sich damit begnügt, seinem Meister wie ein Papagei zuzuhören und das Gehörte in ein Buch einzutragen. Nach diesem Ereignis nahm er sich vor, seinen Geist durch Denken zu trainieren, mehr zu überlegen und zu forschen und sich die nützlichen Dinge einzuprägen.

Ghazali hat einmal gesagt: “Den besten Ratschlag, der mein Geistesleben wesentlich beeinflußte, bekam ich von einem Räuber.“12

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