Segen und Sinn des Leids
Nur durch Leid und mancherlei Not kann der Mensch wahres
Glück und Wohlergehen erlangen. Der Heilige Qur'an sagt:
"... Drum siehe: Mit dem Schweren kommt das Leichte. Und
wenn du Zeit hast, dann mühe dich weiter, und trachte nach
deinem Herrn." (94:5-8)
Hegel sagt: "Kämpfe und Widrigkeiten ('Leid', um genau zu
sein) sind keine bloße Einbildung: Sie sind sehr real, und mit
offenen Augen angenommen, sind sie Stufen der Entwicklung hin
zum Guten. Kampf ist das Gesetz des Fortschritts. Die
menschlichen Eigenschaften entwickeln sich nach und nach und
bilden sich erst auf dem Schlachtfeld und im Getümmel dieser
Welt, und nur durch Not, Verantwortung und Kummer kann man zu
hoher Vollkommenheit gelangen. Das Leben dient nicht der
Befriedigung, sondern der Entwicklung (Evolution)."
Ali Ibn Abi Talib (a.s.) schrieb in einem seiner Briefe an
Osman ibn Hanif, seinen Statthalter in Basra, daß ein Leben in
Bequemlichkeit und Luxus, in dem alle Schwierigkeiten aus dem
Wege geräumt sind, in Schwäche und Kraftlosigkeit endet,
während ein Leben unter harten Bedingungen einen Mann
kraftvoll und wendig macht und sein Wesen zu immer größerer
Vollkommenheit wandelt. Er macht ihm - Osman - in dem Brief
auch Vorwürfe, weil er mit den Reichen gegessen habe, die
keinem Armen erlaubten, an jenem Abend dabei zu sein. Dann
nennt er das Beispiel der Bäume in Wäldern und Gärten. Obwohl
die Bäume im Garten regelmäßig und mit großer Sorgfalt
gepflegt werden, hat doch der Baum im Wald, auf den man kaum
achtet, die bessere Qualität.
Und darum gilt: Wenn Gott voll Güte ist zu einem Menschen,
dann schickt Er ihm Not und Leid. (Genau das Gegenteil von
dem, was die meisten Menschen annehmen). Imam Muhammad Baqir (a.s.)
hat gesagt: "Allah hilft, dem, der an Ihn glaubt, und schickt
ihm Not und Leid wie Geschenke, die ein Mann seiner Familie
schick." Imam Ja'far as-Sadiq hat gesagt: "Wenn Allah Seinen
Knecht liebt, ertränkt Er ihn im Meer des Leids. "
Wie ein Schwimmlehrer, der seinen neuen Schüler ins Wasser
wirft, damit er kämpft und schwimmen lernt, ebenso macht es
Allah mit denen, die Er liebt. Wenn jemand ein Leben lang
alles über das Schwimmen liest, wird er doch nicht lernen, wie
man schwimmt. "Das schwerste Leben hatten zuerst Propheten,
dann die, die ihnen in der Vollkommenheit (Tugend) gefolgt
sind." Sa'di aus Shiraz sagt: "Sa'di hat sein ganzes Leben in
Bitterkeit verbracht, damit euch sein Name süß und voll
Wohlklang ist, wenn ihr ihn hört."
Den erzieherischen Aspekt des Leids sehen wir bei Rumi, dem
großen moslemischen Philosophen und Dichter des 13.
Jahrhunderts, der das mit diesem Gleichnis eindringlich
erklärt: "Sie streuten Samen in die Erde; dann kamen Halme
heraus. Darauf wurde es in der Mühle gemahlen; in Brotform
wurde es größer und nützlicher. Dann haben die Zähne das Brot
zerkaut und, nach der Verdauung wurde es Geist und sinnvoller
Gedanke. Und wiederum: Als dann Liebe den Geist verwirrte und
bestürzte - was war das für eine überraschende Entwicklung und
Veredelung!"
Ein weiterer allgemeiner Standpunkt, den wir hier erwähnen
sollten, ist: Gegensätze erzeugen Gegensätze. Sein und
Nichtsein, Leben und Tod, Fortdauer und Unbeständigkeit,
Jugend und Alter sind miteinander verbunden. Diese Dialektik
ist das Naturgesetz dieser Welt. Sa'di hat gesagt: "Schatz und
Schlange und Blume und Dorn und Sorge und Glück kommen
zusammen." Rumi kann diesen Punkt wieder ganz und klar machen,
wenn er sagt: "Not kann den Schatz bringen und Glück liegt in
der Not. Wenn man die Schale abschält, liegt der Kern frisch
und rein frei. O Bruder! Dunkle und kalte Orte, mit der Sorge
kämpfen, sich wehren gegen Trägheit und Schmerz - das ist
Quelle das Lebens und (geistiger) Trunkenheit; denn alles
Große liegt im Geringen." Wenn wir also wahre Glückseligkeit
erlangen wollen, müssen wir durch alle schweren Phasen
hindurch. In der Tat, große Männer haben Folter, Armut,
Gefangenschaft, Entbehrung und selbst den Tod erlitten, und
gerade darum sind sie groß geworden.
Wir wollen diesen Abschnitt beschließen mit einem Ausspruch
von Mulla Sadra: "Gäbe es nicht den Widerspruch im Leben (des
Universums), so wären die fortdauernden Segnungen
(Gnadengaben) des barmherzigen Gottes nicht möglich gewesen."