Zuschauer und Teilnehmer
Menschen, die mit Mensch und Natur aus nächster Nähe in
Kontakt gekommen sind und dabei nicht bloße Zuschauer
geblieben sind, haben nie an Gottes Gerechtigkeit gezweifelt.
Sokrates nahm, als man ihn unter Anklage stellte, den
Giftbecher aus der Hand seines Wärters und trank ihn. Er trank
das Gift ohne Angst, denn er hatte eine große Botschaft für
die Menschen aller Zeiten.
Betrachten wir das Leben von 'Ali ibn Abi Talib (a.s.), dem
Wunder3 des Propheten Muhammad (s.a.s.) und sein am meisten
geliebter Gefährte, so finden wir es voller Leiden und Not. In
seiner Gemeinschaft war er der Beste in seinen Kenntnissen und
in seinem Tun, und das ist nur einer von vielen Vorzügen. Aber
er schwieg fünfundzwanzig Jahre lang um der ideologischen
Einheit seines Volkes willen in jener Zeit. Obwohl er die
Kraft und Möglichkeit zum Aufstand hatte, um die Macht zu
ergreifen, tat er es nicht und sah andere herrschen.
Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er dies seelische Leid an.
Später, als das Volk begriff, wer er war, als sie zu ihm kamen
und ihn zu ihrem Führer wählten, leitete er die Gemeinschaft
mit großer Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit, die einen
östlichen Materialisten Slibli Shumayyil, zu den Worten
veranlasste: "Der Führer Ali ibn Abi Talib (a.s.), ist der
Mensch, der weder im Westen noch im Osten, weder gestern noch
heute, seinesgleichen gefunden hat." 4 Imam Ali (a.s.) selbst
hat gesagt: "Wenn ihr mir die Welt geben würdet mit allem, was
darin ist, unter der Bedingung, dass ich einer Ameise auch nur
die leere Schale eines Gerstenkorns, nehme, ich würde es nicht
tun."5
Für den Gerechten ist diese Welt voller Leid, Imam Ali (a.s.)
hat aber trotzdem nie gesagt, diese Welt ist böse. Immer sagte
er, dass es die Welt der Leiden sei, seid also bereit, seid
auf der Hut. Er sagte auch: "Diese Welt ist der Beste Ort für
den, der sie richtig versteht." 6
Dazu könnte man jetzt sagen: Das ist sehr gut, aber daraus
folgt noch nicht, dass das Problem des Bösen an sich nicht
existiert, weil Männer wie Imam Ali (a.s.) so gesprochen und
gehandelt haben. Gut, aber woher kam das Problem des Bösen
denn überhaupt? Aus den Köpfen einiger anderer Menschen, deren
Leben weit leichter war als das von Imam Ali (a.s.), wie
Epikur, Hume oder Mill oder sogar ich und du. Betrachtet man
ihre Biographien, so hat keiner von ihnen so sehr gelitten wie
der Erstgenannte. Die Letzteren sind, verglichen mit dem
Ersten, weit eher Zuschauer als echte Teilnehmer, woraus zu
sehen ist, wie subjektiv und relativ das Problem des Bösen
(des Leids) ist.
Da wir also jetzt wissen, dass das Leid und die Not für den
Einzelnen zum Segen dienen können, wollen wir sehen, was
dieser Segen, oder Nutzen im einzelnen sein kann. Aber, genau
an diesem Punkt könnte man sich fragen: Selbst, wenn ich
zugebe, dass im Leiden Sinn und Segen liegt, warum konnte Gott
nicht zu dem gleichen Ergebnis kommen - ohne das Leid? Wenn Er
allmächtig und weise ist, warum hat Er uns aufgegeben, durch
all diese Not und all dieses Leid hindurchzugehen, um zu einer
höheren Daseinsstufe zu gelangen?
Auf diese Frage lassen sich viele Antworten finden. Aber es
gibt eine grundsätzliche Antwort, die das Problem an der
Wurzel faßt und uns zeigt, wie kleinmütig und ungerechtfertigt
unsere Antworten sind.
Gerechtigkeit heißt: Man hat eine Methode und allgemeine
Ausführungsbestimmungen, gemäß eines Gesetzes (oder einer
Reihe von Gesetzen) zu verfahren. Wir können also
Gerechtigkeit gar nicht denken oder begreiflich machen, wenn
nicht für den, der diesem Gesetz entsprechend handeln soll,
schon ein Gesetz existiert - außerhalb seiner selbst. Ein
Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten und sein Handeln nach
einem Gesetz (oder einer Reihe von Gesetzen) ausgerichtet
sind, das ihm nicht zur Verfügung steht und von ihm nicht
geändert werden kann. In der Gesellschaft besteht z.B. ein
Gesetz, wonach Arbeiter bezahlt werden müssen. Dieses Gesetz
ist eine Realität, außerhalb der Entscheidungsfreiheit
Einzelner. Mit anderen Worten, sie können dieses Gesetz nicht
beliebig ändern. Wenn jemand den Arbeiter bezahlt, so handelt
er gerecht, tut er es nicht, so handelt er ungerecht.
Dieses Prinzip der Gerechtigkeit ist auf Gott keinesfalls
anwendbar, da es kein Gesetz gibt, das außerhalb des
göttlichen Machtbereiches läge oder Ihm nicht zur Wahl stände,
und kein Gesetz kann Ihn hindern. Deshalb sagen wir, daß
Gottes Handeln dem göttlichen Ziel oder Zweck (‘hikmah’) folgt
und nicht den Gesetzen, die wir mit unserem Wissen und unseren
Wünschen schaffen und dann fälschlich mit Seiner Gerechtigkeit
vergleichen. Mit anderen Worten, der Ton in den Händen des
Töpfers kann für den Töpfer keine Gesetze machen und kann die
Gerechtigkeit des Töpfers nicht mit eben den Gesetzen
vergleichen.
Dies war die erste Antwort, welche die Frage völlig
aufhebt. Es gibt auch noch eine andere Antwort auf die Frage.
Aber bevor wir uns damit näher befassen, wollen wir die Frage
noch einmal wiederholen: "Warum müssen wir durch all dies von
Gott geschaffene Leid, um eine höhere Stufe (der
Vollkommenheit) zu erreichen?" Um die zweite Antwort zu
verstehen, müssen wir die Ordnungen des Daseins - die Stufen
des Lebens - näher untersuchen.