Kritik an der Ta’til-Theorie
Im großen und ganzen lässt sich die
Kritik folgendermaßen umschreiben: Wenn der Mensch, soweit
dessen Gotterkenntnis anbelangt, von Ihm nur soviel weiß, dass
es Ihn gibt und er Ihn lediglich mit dem Pronomen “Er“ das
heißt absoluter Unbestimmtheit umschreiben kann, fragt es
sich, auf welche Weise er zur Einsicht gelangt sein will, dass
Er eine Wirklichkeit ist?
Es scheint, als wenn jene großen
Gelehrten, die die Ta’til-Theorie vertraten, einer gewissen
“Unentschlossenheit in der Auslegung“ verfallen waren. Jene
haben die Kenntnis über das Wesen mit der über die Akzidenzien
verwechselt.
Es ist möglich, dass ein bestimmtes Wesen
viele nur ihm eigene Besonderheiten aufweist, wobei, wenn wir
auch nur eine bzw. einige davon kennen, in die Lage versetzt
werden, jenes Wesen von anderen zu unterscheiden, ohne
erwarten zu wollen, alle Züge jenes Wesens, die ihn von
anderen ausmachen, erst kennenlernen zu müssen. Nicht nur in
Bezug auf Gott, auch im Falle anderer Wesen ergeht es uns
ähnlich: Zwei Kinder sind ohne Mühe voneinander zu
unterscheiden, wenn einem auch nicht alle ihre körperlichen
und seelischen Merkmale bekannt sind.
Wenn also in der Gottesfrage die Rede von
einer ganzheitlichen Kenntnis von Gott ist, muss eingewandt
werden, dass der Mensch in der Tat dazu nicht in der Lage ist;
des Menschen Wesen ist begrenzt und für solche Kenntnisse
unfähig: „Die Vernunft wird Sein Wesen so tiefgründig
erfassen, wie ein Strohhalm den Meeresgrund zu tasten vermag“.
Wenn aber von einer Kenntnis Gottes über
ein oder mehrere Wesensmerkmale die Rede ist, die zwischen uns
und Ihm eine Unterscheidung ermöglichen, ist eine derartige
Kenntnis erforderlich, um “Sein“ Wesen überhaupt erfassen zu
können. Denn ohne geringste Kenntnis über “Sein“ Wesen kann
nicht über “Gott“ gesprochen werden. Die Unfähigkeit, Gott in
allen Seinen Merkmalen wahrzunehmen, sollte kein Grund zur
Annahme sein, in keiner Hinsicht zu Kenntnissen über Seine
Wirklichkeit gelangen zu können. Zwischen absoluter und
ganzheitlicher Kenntnis und absoluter und ganzheitlicher
Unkenntnis gibt es einen Mittelweg bzw. Mittelwege, Gott
relativ und über ein oder mehrere Merkmale zu erfahren.
Kenntnisse, die wir Menschen über unsere
Welt im Allgemeinen haben, sind ebenso keine absoluten, auf
die Grundwesenheiten bezogenen. Naturwissenschaften zum
Beispiel widmen sich hauptsächlich der Kenntnis von
Phänomenen, nicht der Kenntnis über Wesen und Essenzen. In der
Gottesfrage verhält es sich ähnlich, mit dem Unterschied, dass
wir im ersten Fall davon ausgehen, dass jedes zu erforschende
einzelne Ding in der Natur ein Grundwesen hat, das der Träger
und die Lokalität dieser Phänomene ist, aber was die Beziehung
Gottes zu den Phänomenen betrifft, sind wir zur Kenntnis
gelangt, dass Er Urheber und Schöpfer ist, nicht deren Träger
und Lokalität. Daher würde ein bewusster und erfahrener Mensch
– über das Wesen Gottes nachsinnend – zur Überzeugung
gelangen: „Ich weiß nicht, was Du bist, aber alles, was
wirklich existiert, das bist Du.“
Aber derselbe Mensch wird, wenn er in den
Spiegel der phänomenalen Welt, die von Gott ausgestrahlt wird,
schaut, zu einem gewissen Maß an Kenntnissen gelangen, die von
der absoluten Unkenntnis einen merklichen Abstand hat und dem
Menschen ermöglicht, mit Bestimmtheit über “Ihn“ Aussagen zu
machen. Wer Gottes Existenz als wahr betrachtet, kennt Ihn in
jedem Fall über jegliche Merkmale Gottes, die ihn zur
Erkenntnis geführt haben. Darunter fallen die Begriffe wie
Urheber, Schöpfer, Erhalter und Lenker.