L13 - Das grenzenlose Wissen Gottes
Ein Schöpfer, der nicht durch einen Ort beschreibbar ist,
für dessen Essenz es keine vorstellbare Grenze gibt, von
dessen Sein kein einziges Stück des Himmel und der Erde
ausgenommen ist, solch ein Schöpfer ist sich natürlich aller
Dinge bewusst. Es gibt nichts in diesem ganzen Programm des
Seins, über das sich nicht die leuchtenden Strahlen Seines
Wissens erstrecken würden.
Die Ereignisse, die in den entferntesten Teilen des
Universums auftreten, Ereignisse, die Billionen von Jahre
zurückliegen oder die erst in Billionen von Jahren geschehen
werden, alle sind in den Sphären Seines Wissens enthalten. Die
ausführlichsten Versuche, Sein Wissen zu interpretieren, sind
daher dazu verurteilt zu scheitern.
Um den weitreichenden Umfang seines Wissens zu verstehen,
dehnen wir die Grenzen unserer Gedankenwelt, wenden wir unsere
Intelligenz auf Überlegungen an, doch unserem mentalen Apparat
mangelt es an den erforderlichen Fertigkeiten, um solch ein
Ziel zu erreichen.
Würden wir in der gleichen Weise existieren, d. h. wären
wir an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, so dass kein
Raum frei von unserer Präsenz wäre, nichts würde uns verborgen
bleiben, und uns wäre alles bewusst.
Für uns ist die Welt in zwei Sektoren aufgeteilt: Die
Manifestierte und die Verborgene. Die Dinge sind in dem Sinne
verborgen, als dass gewisse Wahrheiten, die unendlich und
nichtmaterieller Natur sind, von unseren Sinnen nicht
wahrnehmbar sind. Es ist wichtig, zu wissen, dass die
Gesamtheit des Seins nicht aus Materie besteht, die innerhalb
der Reichweite der Naturwissenschaften liegt.
Um die Geheimnisse und Mysterien der Schöpfung zu
verstehen, brauchen wir eine Startplattform. Die Höhe, die wir
zu erreichen fähig sind, hängt von unserer intellektuellen
Kraft, die uns zur Verfügung steht, sowie von der Tiefe
unseres Verständnisses ab, welche unseren Anstieg antreibt.
Haben wir erst einmal eine geeignete Plattform gefunden, viele
Realitäten werden uns bewusst werden.
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Durch den Gebrauch des Wortes „ghayb“ (das arabische Wort
für „verborgen“), zeigt der noble Koran dem Menschen eine
deutliche Sicht der Realität auf. Die Boten Gottes haben
ebenfalls danach gestrebt, das Bewusstsein des Menschen über
das geschaffene Universum auf eine Ebene anzuheben, welches
das Unendliche ebenso wie das Endliche umfasst und die Grenzen
des Ungesehenen ebenso wie die Dimensionen der Manifestierten
Dinge einschließt.
Denn für Gott existiert das „Verborgene“ nicht, für Ihn ist
das Universum völlig „manifestiert“. Der Koran sagt: „Er ist
Gott, außer Ihm gibt es keinen Gott, der Wisser des
Ungesehenen und des Sichtbaren. Er ist der Gnädige, der
Barmherzige.“ (Vgl. Koran: Sure 59, Vers 22)
Was immer der Mensch erschafft, wird durch die Fertigkeit,
der Intelligenz und dem Wissen des jeweiligen Machers
hervorgerufen. Je subtiler und verfeinerter das Produkt, umso
klarer wird dadurch das tiefgründige und umfangreiche Wissen
seines Machers präsentiert und umso deutlicher wird dadurch
seine Fähigkeit zu Planen und zu kreieren bewiesen.
Das menschliche Wirken ist in keiner Weise mit den
Mysterien und der Pracht der Schöpfung vergleichbar. Dennoch
legt es uns nahe, dass das harmonisch geordnete Programm des
Universums und die manifestierte Intelligenz in diesen weiten,
schönen und erstaunlichen Mustern der Schöpfung
notwendigerweise ein Indikator dafür ist, dass derjenige, der
all dies plante und es mit Ordnung belegte, grenzenloses und
umfassendes Wissen besitzen muss. Die Ordnung des Universums
ist der stärkste Beweis für die Existenz eines Seins, das vor
lauter Wissen, Willenskraft, Bewusstsein und Weisheit
überläuft und welches die Wunder der Schöpfung nach einem
präzisen, wohl kalkulierten Plan entworfen hat. Die Zeichen
Seines unendlichen Wissens sieht man in jedem Partikel eines
jeden Phänomens.
Die Experimente und die Theorien der Wissenschaftler
stellen von dem grenzenlosen Wissen Gottes und Seinen
unzähligen Manifestationen bei Insekten, Tieren und im
Pflanzenreich Beweise bereit.
Gott weiß von den Bahnen, welche die Sterne im Raum nehmen,
von der Tumult erfüllten Welt der Nebel und Rotationen der
Galaxien, von allen Dingen, begonnen bei der Vor-Ewigkeit bis
hin zur Post-Ewigkeit, von der Gesamtheit der Atome in allen
himmlischen Körpern, von den Bewegungen der Billionen von
Lebewesen, ob klein oder groß, die auf der Erde leben und in
den Tiefen der Ozeane schwimmen, von den Normen und Gesetzen,
die, ohne zu versagen, die Natur regulieren, und Er weiß von
den verborgenen und manifestierten Aspekten aller Dinge. Er
weiß sogar mehr von der Perplexität des Verzweifelten als
dieser selbst es je erkennen kann.
Dazu sagt der Koran: „Kennt denn der nicht, der erschaffen
hat? Er ist scharfsinnig, allwissend.“ (Vgl. Koran: Sure 67,
Vers 14) und „Nichts ist verborgen vor Gott, weder auf Erden
noch im Himmel.“ (Vgl. Koran: Sure 3, Vers 5)
Naturwissenschaftler sind besser als andere mit den
subtilen und präzisen Mysterien bewandert, die in jedem
Partikel der Schöpfung implantiert sind. Dies ist so, aufgrund
ihrer Studien und ihrer Forschung der zahlreichen
Kalkulationen, die in den Dingen eingebaut sind, seien sie nun
leblos oder lebendig, in Zellen wie in Tropfen, der vielen
Formen, der Aktionen und Reaktionen, die innerlich und
äußerlich geschehen und der Wirkungen von zahlreichen
Materialien und Substanzen. So werden sie Zeuge der Zeichen,
die von Gottes erstaunlicher Weisheit und unendlichem Wissen
in der Natur oder wie der Koran es sagt, „(…) überall auf
Erden (…).“ (Vgl. Koran: Sure 41, Vers 53) hinweisen. Mehr als
andere sind die Wissenschaftler den Manifestationen der
Attribute und der Perfektion Gottes ausgesetzt, sein
grenzenloses Wissen eingeschlossen. Und wenn sie den Ruf ihres
Bewusstseins nicht zurückweisen, werden sie ebenso die
Existenz eines Schöpfers klar wahrnehmen.
Ein bestimmter Denker sagte einmal: „Unsere Welt ähnelt
eher einer großen Idee als einer großen Maschine. Theoretisch
oder als wissenschaftliche Definition kann man sagen, dass die
Welt ein Produkt einer großen Idee ist, die Manifestation
eines Gedankens und ein Einfall, der uns überlegen ist.
Wissenschaftliches Gedankengut scheint sich in diese Richtung
zu bewegen.“
Gottes Wissen ist nicht auf Dinge der Vergangenheit oder
auf Ereignisse und Objekte der Gegenwart beschränkt.
Gottes Wissen ist sozusagen „unmittelbar“ im umfassendsten
Sinne des Wortes. Das Vorhandensein eines Objektes des Wissens
ist gar nicht erst erforderlich, mit welchem sich Sein Wissen
verbinden müsste. Alle Dinge sind vor Ihm unverschleiert, denn
zeitgleich mit dem Umstand, dass Seine heilige Essenz völlig
verschieden ist von allen anderen Kreaturen und Phänomenen,
ist sie dennoch nicht von ihnen getrennt: Alle Dinge, seien
sie vergangen, gegenwärtig oder zukünftig sind vor Ihm
unmittelbar präsent.
Ali (Friede sei mit ihm), der Führer der Gläubigen, sagte:
„Er weiß alle Dinge, aber nicht durch Mittel und Werkzeuge,
denn ihre Abwesenheit würde einen Wegfall mit sich bringen. Es
gibt keine hinzuaddierte Entität, die „Wissen“ heißt, die
zwischen Ihm und den Objekten, von denen Er weiß, eingreift.
Da ist nichts außer Seiner Essenz allein.“[35]
Hier spricht Ali (Friede sei mit ihm) das theologische
Prinzip von Gottes Bewusstsein an, welches direkt und
unmittelbar ist. Für Sein Wissen von den Phänomenen braucht
Gott die mentalen Begrifflichkeiten nicht, welche die Basis
für das erworbene Wissen bilden. Würde Er auf diese Weise zu
Seinem Wissen gelangen, es würde ein Bedarf in Ihm entstehen,
wo Er doch völlig frei von jeglichem Bedarf ist.
Ist es vorstellbar, dass der Eine selbst gefangen sein
könnte in irgendeiner Form der Bedürftigkeit, wo doch durch
Ihn die Existenz der Welt und der Dinge hervorkommt, der in
der Lage ist, jeglichem Bedürfnis zu entsprechen, der alle
Perfektion und Gaben verteilt?
Abstrakte Begrifflichkeiten bleiben nur solange in unserem
Kopf, wie wir es wünschen, sie verschwinden, sobald wir unsere
Aufmerksamkeit von ihnen abwenden, denn sie sind von uns
gestaltet und erschaffen. Diese Art des Wissens ist nicht
direkt und unmittelbar und sie werden daher auch als
„erworbenes Wissen“ bezeichnet, im Gegensatz zum
„unmittelbaren Wissen“, das keines Mittels bedarf.
Der Unterschied zwischen uns, die wir unsere eigenen
mentalen Formen haben und dem Schöpfer, der alles Sein
hervorbrachte, liegt darin, dass wir Ihm unsere eigene
Existenz verdanken und Ihn daher brauchen, Er dagegen, der
wirkliche Entwerfer und Erwecker aller Dinge, ist frei von
jeglichem Bedarf und braucht nicht das Erkennen zu üben, um zu
Wissen zu gelangen.
Die Skizzierung von vergangenen und zukünftigen
Ereignissen, die am Horizont unseres Seins und unserer
Gedanken stattfinden, ist unvermeidlich limitiert, da wir
einen gegebenen Raum zu einer gegebenen Zeit beanspruchen,
ohne den wir nicht existieren können. Wir sind materielle
Phänomene und Materie braucht nach den Gesetzen der Physik und
der Relativität Zeit und Raum, in denen sie sich graduell und
kontinuierlich verändert und entwickelt. Vergangenheit und
Zukunft haben für eine Existenz keine Bedeutung, wenn sie von
der Vor-Ewigkeit bis zur Post-Ewigkeit - an allen Orten und zu
jeder Zeit, frei von der Gefangenschaft der Materie und ihren
Konsequenzen - besteht.
Da jedes Phänomen in seinem Ursprung und in seinem Sein von
der unendlichen Existenz des Schöpfers abhängt, kann kein
Schleier bzw. keine Barriere zwischen dem Schöpfer und dem
Phänomen angenommen werden. Gott umfasst die inneren und
äußeren Dimensionen und ist darüber völlig omnipotent.
Jemand fragte einmal Ali (Friede sei mit ihm), den Führer
der Gläubigen: „Wo ist Gott?“
Ali antwortete: „Es ist nicht korrekt zu fragen, wo Gott
ist, denn es ist Gott, der den Raum schuf. Noch ist es korrekt
zu fragen, wie Gott ist, von welcher Natur Er ist, denn Er ist
derjenige, der alle Natur erschuf. Desweiteren ist es nicht
korrekt zu fragen, was Gott ist, denn es ist Gott der
jegliches Wesen erschuf.
Glorifiziert möge Gott, der Allmächtige, sein, in dessen
Wogen der Pracht, die Weisen nicht zu schwimmen vermögen. Das
Gedenken an Seine Ewigkeit hält jeden Gedanken in seiner Bahn
an und in dessen weiten Himmeln der Heiligkeit verliert der
Intellekt seinen Weg!“[36]
Der Koran sagt: „(…) Und Er weiß, was auf dem Lande ist und
was im Meer. Und nicht ein Blatt fällt nieder, ohne dass Er es
weiß; und kein Körnchen ist in der Erde Dunkel und nichts
Grünes und nichts Dürres, das nicht in einem deutlichen Buch
wäre.“ (Vgl. Koran: Sure 6, Vers 59)
Lasst uns vorstellen, wir wären in einem Raum, aus dessen
Fenster wir auf einen Teil einer Straße schauen könnten, in
der viele Autos langsam vorbei fahren. Natürlich können wir
nicht alle Autos auf einmal sehen, wir sehen, wie sie an dem
Fenster nacheinander vorbeifahren und dann verschwinden sie
auch schon wieder aus unserem Blickfeld. Wenn wir nichts über
Autos wüssten, könnten wir annehmen, dass sie langsam auf der
einen Seite des Fensters entstehen und auf der anderen Seite
wieder aufhören zu existieren.
Dieses beschränkte Blickfeld korrespondiert genau zu
unserem Bereich des Sehvermögens. Es bestimmt eine
Vergangenheit und eine Zukunft für die Autos. Jene, die auf
dem Bürgersteig stehen, sehen wie alle Autos hintereinander
weiterfahren.
Unsere Situation über die Vergangenheit und der Zukunft der
Welt gleicht der Person, welche die Autos durch das Fenster
betrachtet.
Wenn wir erst einmal realisieren, dass Gott über Zeit und
Raum steht, verstehen wir, dass alle vergangenen und
zukünftigen Ereignisse vor Gott immer präsent und existent
sind, gleich einem Bild.
Wir sollten daher, um ein Verständnis der Verantwortung,
die wir Gott gegenüber haben, der sich der geringfügigsten
Handlung Seiner Schöpfung bewusst ist – der Koran sagt: „(…)
und Gott weiß wohl, was ihr tut.“ (Vgl. Koran: Sure 2,
Vers283) – Sünden und Fehler vermeiden, die verursachen, dass
wir uns von Ihm entfernen. Wir sollten Gott anbeten, Ihn, den
Besitzer von absolutem Wissen, der es verursachte, dass wir
die verschiedenen Stadien durchqueren und nun die Fähigkeiten
besitzen, die wir jetzt haben. Wir sollten Seinen Geboten
gegenüber keinen Ungehorsam zeigen, da sie uns den Pfad zu
wirklichem Glück und zum ultimativen Zweck des Menschen
öffnen. Und wir sollten kein anderes Ziel akzeptieren als Ihn.
Um Gott zu erreichen, müssen wir uns mit göttlichen
Attributen schmücken und uns bei unserem kurzen Aufenthalt in
dieser Welt darauf vorbereiten, dass wir Ihn treffen werden.
Denn wir werden zu Ihm zurückkehren, die Quelle, der Ursprung
und der Beginn unserer Existenz. Dies verlangt von uns
Handlungen und Anstrengungen, die darauf zielen, uns zu
veredeln. In diesem Sinne, der Verantwortung gemäß zu handeln,
denn sie wurde uns mit göttlichem Vertrauen auf unsere
Schulter gelegt.
[35] Saduq, „Tauhid“
[36] „Bihar Al-Anwar“, Band III