L18 – Eine generelle Betrachtung des Problems
Was Denker immer beschäftigt hat, die sich mit der Natur
des menschlichen Lebens auseinander gesetzt haben, und was
immer ein kontroverses Thema war, ist die Frage, ob der Mensch
seine Ziele frei wählen kann und seine Wünsche in all seinen
Taten und Aktivitäten implementieren kann – in allen Bereichen
seines Lebens, seien sie nun materiell oder anders geartet:
Sind seine Wünsche, Inklinationen und sein Wille der einzige
Faktor, der seine Entscheidungen beschließt oder sind ihm
seine Taten und sein Verhalten auferlegt?
Ist er gezwungen hilflos bestimmte Handlungen zu machen und
bestimmte Entscheidungen zu treffen? Ist er ein unfreiwilliges
Werkzeug in den Händen von Faktoren, die außerhalb seiner
selbst liegen?
Um die Wichtigkeit dieser Frage zu verstehen, muss man im
Hinterkopf behalten, dass von der Lösung unsere Fähigkeit zu
profitieren abhängen - in Bereichen wie der Wirtschaft, den
Gesetzen, der Religion, aber auch der Psychologie und alle
anderen Gebiete des Wissens, die den Menschen zum Thema haben.
Bis wir mit wissenschaftlicher Genauigkeit herausgefunden
haben, ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht,
welches Gesetz auch immer auf das Dasein des Menschen eine
Anwendung findet, bleibt uns vieles unbekannt. Es ist evident,
dass so kein wünschenswertes Ergebnis erzielt werden kann.
Die Frage des freien Willens versus Determinismus ist nicht
nur allein ein akademisches oder philosophisches Problem. Es
ist auch für all jene relevant, welche Pflichten für den
Menschen postulieren, die er verantwortlich erfüllen soll und
zu denen er ermutigt wird. Denn wenn sie nicht im Geringsten
an den freien Willen glauben, gibt es keine Basis für das
Belohnen von Leuten, die ihre Pflicht erfüllen und der
Bestrafung jener, die es nicht tun.
Nach der Verbreitung des Islams haben sich auch Muslime
sehr eingehend mit dieser Frage beschäftigt, weil die
Weltanschauung des Islams bewirkt hat, dass man diese Frage
umfassender und genauer untersucht als es bis dahin gemacht
worden war, auf diese Weise alle dazugehörigen Unklarheiten
klärend. Denn auf der einen Seite war die Frage mit der
Einheit Gottes verbunden und auf der anderen mit Seinen
Attributen der Gerechtigkeit und Macht.
Denker der Vergangenheit sowie der Gegenwart können in der
Frage des freien Willens versus Determinismus in zwei
Kategorien aufgeteilt werden. Die erste lehnt die Freiheit des
Menschen in seinen Taten resolut ab und wenn seine Handlungen
die Merkmale von freier Wahl haben, so meinen sie, ist diese
nur auf die verfälschte und mangelhafte menschliche
Wahrnehmung zurück zu führen.
Die zweite Kategorie glaubt an den freien Willen und sagt,
dass der Mensch auf der Ebene des Willens völlige
Handlungsfreiheit genießt. Seine Fähigkeit zu denken und zu
entscheiden hat weitreichende Wirkungen und ist unabhängig von
allen externen Faktoren um ihn herum.
Natürlich erfährt der Mensch die Wirkung des Zwangs zum
Zeitpunkt seiner Geburt, als auch durch zahlreiche andere
Faktoren, die ihn umgeben und bei Ereignissen, die er in
seinem Leben erlebt. Das Ergebnis könnte sein, dass er am Ende
anfängt zu glauben, es gäbe so etwas wie einen freien Willen
nicht. Er betritt die Welt unfreiwillig und scheint danach
völlig vom Schicksal kontrolliert zu werden, herumgewirbelt
wie ein Stück Papier bis er letztlich diese Welt verlässt.
Gleichzeitig erkennt der Mensch auch ganz klar, dass er
frei und in vielerlei Hinsicht unabhängig ist, ohne jegliche
Form des Zwanges. Er hat die Fähigkeit und die Kapazität,
effektiv gegen Hindernisse zu kämpfen und seine Kontrolle über
die Natur zu erweitern, indem er sich auf vorausgegangene
Erfahrungen und vorhandenes Wissen verlässt. Eine nicht zu
verneinende praktische Realität ist, dass es einen
tiefgründigen und prinzipiellen Unterschied zwischen den
gewollten Bewegungen seiner Hände und Füße und dem
Funktionieren seines Herzens, seiner Leber und seiner Lunge
gibt.
Aufgrund seines Willens, seines Bewusstseins und seiner
Fähigkeit zu wählen, die ein Kennzeichen seiner Menschlichkeit
sind und die Quelle seiner Verantwortlichkeit, weiß der
Mensch, was er tut. Er hat bei einer Serie von Dingen die
Freiheit zu entscheiden, wo keine Barrieren ihn daran hindern,
seinen Willen zu implementieren oder seine Ansichten zu
formen. Aber in anderer Hinsicht sind seine Hände gebunden und
er hat keine Macht zu wählen: Angelegenheiten, die von
materiellen oder instinktiven Zwängen bestimmt werden, die
einen beträchtlichen Teil in seinem Leben ausmachen und andere
Faktoren, die ihm extern auferlegt werden.
Determinismus
Die Befürworter des Determinismus glauben nicht, dass der
Mensch in den Handlungen, die er in dieser Welt tut, frei ist.
Theologische Deterministen wie die muslimisch theologische
Schule der Ash´ariten beziehen sich auf die äußere Bedeutung
mancher Verse des Koran und halten nicht an, um tiefergehend
darüber nachzudenken, was denn die wirkliche Bedeutung all der
relevanten Verse sein könnte, noch reflektieren sie über die
Natur der Vorherbestimmung durch die Macht Gottes. Sie
schlussfolgern schlicht, dass der Mensch überhaupt keine
Freiheit hat.
Sie lehnen es ab, dass Dinge Wirkungen verursachen und
erkennen auch nicht an, dass Ursachen eine Rolle in der
Schöpfung und in der Entstehung von natürlichen Phänomenen
spielen. Sie halten alles für eine direkte und unmittelbare
Wirkung des göttlichen Willens, und sie sagen, dass der Mensch
trotz einer gewissen Willensfreiheit und geringer Macht doch
keine Wirkung auf seine Taten habe. Die Handlungen des
Menschen werden, ihrer Meinung nach, nicht durch ihren Willen
und ihrer Handlungskraft bewirkt, sondern durch den Willen
Gottes, der alle Wirkungen allein verursacht. Der Mensch kann
also seinen Taten mit einem Ziel und einer Intention nur eine
bestimmte Färbung geben, und die Färbung dieser Handlungen
resultiert in der Qualifizierung von Gut und Böse. Abgesehen
davon ist der Mensch nichts anderes als der Ort für die
Implementierung von Gottes Willen und Macht.
Sie sagen außerdem, dass der Mensch, wenn er einen freien
Willen besäße, damit die Macht und Befehlsgewalt Gottes
verengen würde. Gottes absolute Kreativität verlangt, dass
kein Mensch Ihm gegenüber als Schöpfer besteht. Ebenso verhält
es sich mit der Doktrin des einzigen, alleinigen Gottes.
Bedenkt man die absolute Souveränität, die wir Ihm
zuschreiben, so bedeutet das zwangsläufig, dass alle
geschaffenen Phänomene, die Handlungen des Menschen
eingeschlossen, in der Sphäre des göttlichen Willens enthalten
sind.
Wenn wir akzeptieren, dass der Mensch eigenmündig seine
eigenen Handlungen ausführt, leugnen wir Gottes Souveränität
über Seine gesamte Schöpfung, was sich nicht vereinbaren lässt
mit dem Attribut des schaffenden Gottes, denn dann würden wir
komplette Souveränität in unseren Handlungen genießen und für
Gott wäre kein Aufgabenbereich mehr übrig. Somit führt der
Glaube an den freien Willen, nach ihrer Ansicht, unweigerlich
zu Polytheismus und Dualismus.
Zusätzlich dazu machen manche Personen das Prinzip des
Determinismus – ob bewusst oder unbewusst – zu einer
Entschuldigung für Taten, die nicht mit ihrer Religion und
ihrer Moral vereinbar sind, damit das Tor zu allen möglichen
Abweichungen in den Sphären des Glaubens und der Handlungen
öffnend. Bestimmte hedonistische Poeten gehören zu dieser
Gruppe, Sie stellen sich vor, dass die Vorherbestimmung als
Entschuldigung für ihre Sünden und Hoffnungen ausreicht. Auf
diese Weise versuchen sie, der Last des Gewissens und des
schlechten Rufes zu entkommen.
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Diese deterministische Betrachtungsweise verhält sich
konträr zum Prinzip der Gerechtigkeit Gottes als auch zur
menschlichen Gesellschaft. Wir sehen in der gesamten Schöpfung
die göttliche Gerechtigkeit in allen Dimensionen ganz klar
manifestiert und wir preisen Sein erhabenes Wesen für dieses
Attribut. Der Koran sagt: „Gott bezeugt, in Wahrung der
Gerechtigkeit, dass es keinen Gott gibt außer Ihm - ebenso die
Engel und jene, die Wissen besitzen; es gibt keinen Gott außer
Ihm, dem Allmächtigen, dem Allweisen.“ (Vgl. Koran: Sure 3,
Vers 18)
Gott beschreibt außerdem die Etablierung von Gerechtigkeit
in der menschlichen Gesellschaft als einen der Gründe, warum
Er die Propheten gesandt hat und bekundet den Wunsch, dass
Seine Diener sich gerecht verhalten sollen: „Wahrlich, Wir
schickten Unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten mit
ihnen das Buch und das Maß herab, auf dass die Menschen
Gerechtigkeit üben möchten. (…)“ (Vgl. Koran: Sure 57, Vers
25)
Am Tag der Auferstehung wird Gott Seine Diener mit
Gerechtigkeit behandeln und niemand wird auch nur der
geringsten Ungerechtigkeit unterworfen sein. Der Koran sagt:
„Und Wir werden (genaue) Waagen der Gerechtigkeit aufstellen
für den Tag der Auferstehung, so dass keine Seele in irgend
etwas Unrecht erleiden wird. Und wäre es das Gewicht eines
Senfkorns, Wir wollen es hervorbringen. Und Wir genügen als
Rechner.“ (Vgl. Koran: Sure 21, Vers 47)
Wäre es denn gerecht, wenn man einen Menschen zwingt etwas
Schlechtes zu tut und ihn dann dafür bestraft? Würde ein
Gericht unter solchen Umständen eine Bestrafung vorsehen? Es
wäre sicherlich ungerecht.
Wenn wir das Prinzip der Freiheit leugnen und der Rolle des
Menschen nichts Positives abgewinnen können, wird kein
Unterschied mehr zwischen dem Menschen und dem Rest der
Schöpfung bestehen. Nach Meinung der Deterministen, hat das
Verhalten des Menschen Ähnlichkeit mit dem Verhalten von
anderen Kreaturen, denn ihr Verhalten ist durch verschiedene
Faktoren, die nicht in ihrer Kontrolle sind, bestimmt. Unser
Wille ist, ihrer Ansicht nach, nicht durch sich selbst in der
Lage eine Wirkung zu erzielen.
Wenn aber Gott das willentliche Handeln des Menschen
schafft, wenn Er der Schöpfer der Ungerechtigkeit und der
Sünde ist, selbst das Beigesellen eines Partners neben Gott,
wie können wir so ein Verhalten von einem derart perfekten und
erhabenen Sein, wie Er es ist, rechtfertigen?
Der Glaube an den Determinismus annulliert das Prinzip des
Prophetentums und der Offenbarung, das Konzept der göttlichen
Botschaft, welches dem Menschen als Quelle der
Bewusstseinserweiterung dient. Die Idee der Gebote und
Verbote, die religiösen Kriterien und Verordnungen, die
Gesetze und Glaubensbekenntnisse und die Doktrin für die
Vergeltung von Handlungen, die man tätigte, all dies wird
damit verworfen. Denn wenn wir erst einmal glauben, dass alle
menschlichen Handlungen mechanisch vollbracht werden, ohne den
Willen und der Wahl des Menschen, spielt die herab gesandte
Botschaft eines Propheten keine Rolle mehr, den Menschen bei
seinen Bestrebungen zu assistieren.
Wenn die Pflichten, die dem Menschen auferlegt worden sind
und die Instruktionen, die ihn ansprechen sollen nichts mit
seinem freien Willen zu tun haben und mit seiner Fähigkeit zu
gehorchen und zu erwidern, was für einen Nutzen haben sie dann
noch?
Wenn der spirituelle Stand des Menschen und seiner Taten
mechanisch determiniert ist, werden alle Bemühungen und
moralischen Belehrungen, um die menschliche Gesellschaft
gesund zu erhalten und sie in die Richtung der Kreativität und
zu höheren Werten zu leiten, völlig ineffektiv.
Ihr Bemühen würde keinen Zweck erfüllen, es ist nutzlos von
solch einer Existenz etwas zu erwarten, wo doch all ihr
Handeln durch Veränderung determiniert ist. Doch der Mensch
ist für seine Errettung oder Zerstörung, als auch für die
anderer selbst verantwortlich. Seine Entscheidungen gestalten
sein Schicksal. Und wenn er erst einmal weiß, dass jede
Handlung, die er begeht, Konsequenzen hat, wird er seine
Entscheidungen mit größerer Sorgfalt treffen. Sein Vertrauen
auf Gottes Liebe und Seiner Gunst bewirken, dass sich ihm
Fenster der Macht öffnen werden.
Man mag beanstanden, dass der Glaube an das allumfassende
Wissen Gottes bedingt, dass Gott notwendigerweise auch von all
den Verfehlungen, schrecklichen Taten und Sünden, die der
Mensch begeht, im voraus Kenntnis besitzen muss. Da sie
dennoch geschehen, ist der Mensch ganz eindeutig nicht in der
Lage, sich von solchem Handeln fernzuhalten.
Wir können darauf antworten, indem wir sagen, dass es wahr
ist, dass Gott alle Phänomene kennt, die kleineren als auch
die großen, aber dieses Wissen bedeutet nicht, dass der Mensch
in allem, was er tut, gezwungen ist. Gottes Wissen basiert auf
dem Prinzip der Kausalität, es gilt nicht für Phänomene oder
menschliche Handlungen, die außerhalb dieses Rahmens liegen,
denn ein Wissen, dass durch Ursache und Wirkung operiert,
involviert keinen Zwang.
Gott war sich der Ereignisse der Zukunft in der Welt
bewusst, und Er wusste, dass der Mensch bestimmte Handlungen
aufgrund seines freien Willens tun würde. Das Ausüben des
freien Willens ist Teil der Kausalitätskette, die zu
bestimmten Taten führt. Und es sind die Menschen selber, die
entscheiden Gutes oder Schlechtes zu tun. Im letzteren Fall,
verursachen sie durch den Missbrauch des freien Willens, Ruin
und Korruption. Wenn also Übel und Unterdrückung in einer
gegebenen Gesellschaft existieren, so ist dies das Ergebnis
der Werke der Menschen. Diese Dinge sind nicht von Gott
geschaffen. Gottes Wissen darüber hat keinen Einfluss auf die
Wahl des Menschen für Gutes oder Böses.
Es ist wahr, dass innerhalb der Sphären der menschlichen
Freiheit und Macht bestimmte Faktoren existieren, die bei der
Entscheidungsfindung des Menschen eine Rolle spielen – wie
umweltbedingte Faktoren, die innere Natur des Menschen und
göttliche Führung. Doch diese Rolle ist auf das Anregen der
Inklination beschränkt, sie dient dem Willen des Menschen als
Ermutigung. Sie nötigt den Menschen nicht dazu, die Wahl in
eine bestimmte Richtung zu machen. Die Existenz dieser
Faktoren bedeutet nicht, dass der Mensch in ihnen gefangen
ist, ganz im Gegenteil, er ist vollständig in der Lage, den
durch äußere Faktoren geschaffenen Inklinationen zu gehorchen
oder ihnen zu widerstehen, in dem er sie einschränkt oder
ihren Kurs verändert. Ein Individuum kann von der Leitung, die
ihm zur Verfügung steht durch Einsicht und aufgrund klarer
Betrachtung profitieren und so seinen Inklinationen Gestalt
geben, sie modifizieren und kontrollieren. Die reichen,
instinktiven Antriebe, die der Mensch in sich trägt, können
nie völlig eliminiert werden, aber es ist wichtig, sie zu
zügeln und ihnen die Möglichkeit zu nehmen, wild umherzuirren.
_____
Nehmen wir an, ein Experte der Mechanik inspiziert unser
Auto bevor es eine große Fahrt beginnt, und sieht voraus, dass
dieses Auto nicht mehr als einige Kilometer zurück legen wird,
um dann aufgrund eines technischen Defektes stehenzubleiben.
Wenn nun das Auto nach einigen Kilometern kaputt geht, wie es
der Mechaniker bereits voraus gesagt hat, kann man ihn als
Verursacher des kaputt gegangenen Autos darstellen, nur weil
er es voraus gesehen hatte?
Natürlich nicht, denn der schlechte Zustand des Autos war
der Grund für das Stehenbleiben und nicht das Wissen des
Experten, noch seine Vorhersage. Keine rationale Person kann
das Wissen des Mechanikers als Ursache für das Kaputtgehen
annehmen.
Ein weiteres Beispiel: Ein Lehrer kennt den Fortschritt,
den seine Schüler machen und weiß, dass einer seiner Schüler
in der Abschlussprüfung aufgrund seiner Faulheit und der
Weigerung zu arbeiten durchfallen wird. Wenn die Noten des
Tests verlesen werden, wird klar, dass der nachlässige Schüler
tatsächlich durchgefallen ist. Ist jetzt die Ursache für solch
ein Ergebnis das Wissen des Lehrers oder die Faulheit des
Schülers? Natürlich ist es das Letztere.
Diese Beispiele helfen uns bis zu einem gewissen Grad zu
verstehen, warum Gottes Wissen nicht die Ursache für die Taten
Seiner Diener sein kann.
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Eine der schädlichen Wirkungen des Determinismus auf die
Gesellschaft ist, dass er es arroganten Unterdrückern leichter
macht, die Unterdrückten zu ersticken und zu unterwerfen. Den
Unterdrückten wiederum macht er es schwerer, sich zu
verteidigen.
Determinismus als Entschuldigung nehmend, leugnet der
Unterdrückende jegliche Verantwortung für sein gewaltsames und
erbarmungsloses Handeln. Er sagt sein Handeln sei das Handeln
Gottes und führt seine Verstoße auf Gott zurück – jener Gott,
der über allen Vorwurf und jeglichen Einwand erhaben ist. Die
Unterdrückten sind dann verpflichtet all das, was der
Unterdrücker mit ihnen macht, zu ertragen, denn gegen seine
Ungerechtigkeit zu kämpfen wäre umsonst und Bemühungen, eine
Veränderung herbei zu führen, würden scheitern.
Die Imperialisten und andere wichtige Kriminelle der
Geschichte haben manchmal den Determinismus benutzt, um ihre
Brutalität und Unterdrückung aufrecht zu erhalten.
Als die Familie des Märtyrers Husayn, Sohn Alis (Friede sei
mit ihnen) in die Gegenwart Ibn Ziyads kam, sagte dieser
furchtbare Kriminelle zu Zaynab-i-Kubra, der Schwester Husayns
(Friede sei mit ihnen), „hast du gesehen, was Gott deinem
Bruder und eurer Familie angetan hat?“
Sie antwortete: „Von Gott habe ich nichts als Güte und
Gutes gesehen. Sie (Zaynabs Familie) haben getan, was Gott von
ihnen wollte, um ihren Stand zu erhöhen. Und sie haben ihre
Pflicht erfüllt, die ihnen anvertraut wurde. Bald werdet ihr
allein vor der Gegenwart eures Herrn versammelt werden und ihr
werdet verantwortlich gemacht werden. Dann erst wirst du
verstehen, wer triumphierte und wer errettet wurde.“[39]
Bezüglich der Frage des freien Willens und des
Determinismus, sind die Materialisten im Widerspruch gefangen.
Sie sehen im Menschen eine materielle Existenz. Wie der Rest
der Welt ist sie der dialektischen Veränderung unterworfen und
unfähig selbst eine Wirkung hervorzurufen. Konfrontiert mit
umweltbedingten Faktoren, historischer Unvermeidlichkeit und
vorherbestimmten Umständen, fehlt es ihr an freien Willen.
Indem der Mensch seinen Weg der Entwicklung wählt, sind seine
Ideen und seine Handlungen ganz der Gnade der Natur
unterworfen. Jede Revolution oder soziale Entwicklung ist
allein das materielle Ergebnis von bestimmten Umständen und
der Mensch hat dabei keine Rolle zu spielen.
Nach der entscheidenden Beziehung zwischen Ursache und
Wirkung, geschieht nichts ohne eine vorausgegangene Ursache
und der Wille des Menschen ist auch – wenn er mit materiellen
und wirtschaftlichen Umständen seiner Umwelt und mentalen
Faktoren konfrontiert wird – unflexiblen Gesetzen unterworfen,
dabei ist er faktisch selbst etwas mehr als die
„Wirkung“, die er produziert. Der Mensch ist durch die
Anforderungen seiner Umgebung und ihrer intellektuellen
Inhalte genötigt, den Weg zu wählen, der ihm auferlegt wurde.
Es gibt hier keinen Platz für den unabhängigen Willen und der
Entscheidungsfreiheit des Menschen, um sich auszudrücken und
keine Rolle für einen Sinn, für moralische Verantwortung und
Diskriminierung.
Aber zur gleichen Zeit erachten die Materialisten den
Menschen für fähig die Gesellschaft und die Welt zu
beeinflussen und sie legen mehr als andere Denkschulen Wert
auf die Propagierung und die ideologische Disziplin innerhalb
einer organisierten Partei. Sie rufen die Massen auf, die vom
Imperialismus schikaniert wurden, sich zur gewaltsamen
Revolution zu erheben und zu versuchen, dass der Mensch seine
Ansichten ändert und andere Rollen in der Gesellschaft
übernimmt, als er es bisher getan hat – all dies hängt von der
Macht der freien Wahl ab. Diese Beschreibung der Rolle des
Menschen widerspricht dem ganzen Programm von dialektischem
Materialismus, da es erklärt, dass der freie Wille doch
existiert.
Wenn die Materialisten die Aufrüttelung der unterdrückten
Massen und die Stärkung der revolutionären Bewegung für sich
beanspruchen, so beschleunigt dies die Geburt einer neuen
Ordnung aus dem Schoß der alten. Das wäre unlogisch, denn
keine Revolution oder qualitative Veränderung kann
stattfinden, wenn die Zeit nicht reif dafür ist. Nach der
dialektischen Methode vollbringt die Natur ihre eigene Aufgabe
besser als alle anderen. Sich für Propaganda einzusetzen und
die Meinung der Massen versuchen zu mobilisieren, ist eine
ungerechtfertigte Einmischung in das Werk der Natur.
Es muss von den Materialisten ebenfalls erkannt werden,
dass die Freiheit aus der Kenntnis der Gesetze der Natur
besteht, um in der Lage zu sein, sie zu benutzen, damit
bestimmte Ziele verfolgt werden können. Sie besteht nicht aus
etwas Unabhängigen gegenüber den Gesetzen der Natur. Aber auch
hier scheitert die Problemlösung: Selbst wenn man sich nach
dem Erlernen der Gesetze prinzipiell dazu entschließt, sie für
bestimmte Zwecke zu gebrauchen, bleibt die Frage bestehen, ob
es die Natur und die Materie ist, welche diese Dinge
determiniert und sie dem Menschen auferlegt oder ob der Mensch
sie selbst frei wählt.
Wenn der Mensch in der Lage ist zu wählen, sind seine
Reflektionen die Wünsche und Konditionen der Natur oder können
seine Überlegungen gegen die Natur verlaufen?
Die Materialisten halten den Menschen für ein
monodimensionales Geschöpf, so dass sogar seine Überzeugungen
und Ideen als Ergebnis von ökonomischen und materiellen
Entwicklungen gesehen werden und dem Klassendenken und
Produktionsbeziehungen innerhalb einer Gesellschaft
unterworfen sind – kurz, sie spiegeln die besonderen Umstände
wider, die sich aus den materiellen Bedürfnissen der Menschen
ergeben.
Es ist natürlich wahr, dass der Mensch eine materielle
Existenz besitzt und dass die materiellen Beziehungen der
Gesellschaft und der physikalischen und geografischen
Konditionen alle eine Wirkung auf ihn haben. Aber andere
Faktoren, die aus seiner essenziellen Natur und seinem inneren
Selbst entstehen, haben ebenfalls das Schicksal in der
Geschichte des Menschen beeinflusst. Und es ist nicht möglich,
das intellektuelle Leben des Menschen allein auf die
Inspirationen durch die Materie und den Beziehungen der
Herstellung zurückzuführen. Man kann nie die wichtige Rolle
übersehen, die religiöse Faktoren und Ideale gespielt haben,
noch die spirituellen Impulse vergessen, die dem Menschen, bei
der Wahl bestimmte Pfade zu beschreiten, halfen. Der Wille des
Menschen ist sicherlich ein Verbindungsstück in der kausalen
Kette, die dazu führt, dass er gewisse Handlungen durchführt
und andere nicht.
Niemand bezweifelt, dass der Mensch dem Einfluss von
natürlichen Aktionen und Reaktionen unterworfen ist und dass
die Kraft der Geschichte und die ökonomische Faktoren die
Wegbereiter für das Auftauchen bestimmter Ereignisse sind.
Aber sie sind nicht die einzigen ausschlaggebenden Faktoren
und sie spielen nicht die fundamentale Rolle, die das
Schicksal des Menschen entscheidet. Sie können dem Menschen
seine Freiheit und Macht zu entscheiden nicht nehmen, weil er
zu einem Punkt vorangeschritten ist, dass er einen wert hat,
der über die Natur hinausgeht und ihn in die Lage versetzt,
Bewusstsein zu erlangen und einen Sinn für Verantwortung
aufrechtzuerhalten.
Der Mensch ist nicht nur kein Gefangener der Materie und
den Beziehungen der Erzeugung, er hat Macht und verfügt über
Souveränität über die Natur und er hat die Fähigkeit, die
Beziehungen der Materie zu verändern.
So wie Veränderungen der materiellen Phänomene externen
Ursachen und Faktoren unterworfen sind, existieren in der
menschlichen Gesellschaft bestimmte Gesetze und Normen, die
den Grad des Wohlstands und der Stärke einer Nation oder aber
ihren Fall und ihren Rückstand bestimmen. Historische
Ereignisse sind weder blindem Determinismus unterworfen noch
zufällig. Sie korrespondieren mit den Normen und Entwürfen der
Schöpfung, in welcher der Wille des Menschen einen wichtigen
Platz einnimmt.
In zahlreichen Versen des glorreichen Korans sind es
Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Sünde und Korruption, die den
Lauf der Geschichte eines Volkes verändern. Dies ist eine
observierbare Norm in allen menschlichen Gesellschaften. „Wenn
Wir eine Stadt zu zerstören beabsichtigen, lassen Wir Unser
Gebot an ihre Reichen ergehen; sie freveln darin, so wird der
Richtspruch fällig gegen sie, und Wir zerstören sie bis auf
den Grund.“ (Vgl. Koran: Sure 17, Vers 16)
„Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den Ad verfuhr,
Dem Volk von Iram, Besitzer von hohen Burgen, Dergleichen
nicht erschaffen ward in (anderen) Städten, Und den Thamud,
die die Felsen aushieben im Tal, Und Pharao, dem Herrn von
gewaltigen Zelten? Die frevelten in den Städten, Und viel
Verderbnis darin stifteten. Drum ließ dein Herr die Peitsche
der Strafe auf sie fallen. Wahrlich, dein Herr ist auf der
Wacht.“ (Vgl. Koran: Sure 89, Vers 6-14)
Der Koran erinnert uns auch daran, dass die Menschen, die
ihre Wünsche anbeten und ihren abschweifenden Inklinationen
gehorchen, viel Leid in der Geschichte verursachen: „Siehe,
Pharao betrug sich hoffärtig im Land und teilte das Volk darin
in Gruppen: Einen Teil von ihnen versuchte er zu schwächen,
indem er ihre Söhne erschlug und ihre Frauen leben ließ.
Fürwahr, er war einer der Unheilstifter!“ (Vgl. Koran: Sure
28, Vers 4), „So verleitete er (Pharao) sein Volk zur
Narrheit, und sie gehorchten ihm. Sie waren ein sündiges
Volk.“ (Vgl. Koran: Sure 43, Vers 54)
Wie viel Blutvergießen, Krieg, Ruin und Unordnung wurde
durch die Anbetung der leidenschaftlichen Wünsche verursacht
und durch den Hunger nach Macht! Menschen, welche das
Bauelement der Gesellschaft sind, besitzen Intelligenz und den
inneren Willen in ihrem Selbst, noch bevor sie ein Teil der
Gesellschaft werden. Der individuelle Geist ist nicht machtlos
gegenüber dem Geist der Gesamtheit.
Jene, die beanspruchen, dass das Individuum in seinen
Handlungen durch seine soziale Umgebung völlig determiniert
sei, stellen sich vor, dass alle wirklichen Zusammenschlüsse
notwendigerweise die Auflösung der Teile des Ganzen
involvieren, damit eine neue Realität hervorkommen kann. Die
einzige Alternative dazu wäre, so glauben sie, entweder das
Leugnen der objektiven Realität der Gesellschaft, die aus
Zusammenschlüssen von Individuen besteht, und das Anerkennen
der Unabhängigkeit und der Freiheit eines Individuums oder die
Realität der Gesellschaft als Zusammengesetztes zu akzeptieren
und die Unabhängigkeit und die Freiheit aufzugeben. Es ist
nicht möglich, dass beide Möglichkeiten kombiniert aufrecht
erhalten bleiben können.
Obwohl die Gesellschaft heute mehr Macht als das Individuum
besitzt, bedeutet das nicht, dass das Individuum zu allen
sozialen Aktivitäten und Unternehmungen gezwungen ist. Der
Vorrang der essenziellen Natur im Menschen – das Ergebnis
seiner Entwicklung auf der natürlichen Ebene – gibt ihm die
Möglichkeit, frei zu handeln und gegen die Zumutungen der
Gesellschaft zu rebellieren.
Obwohl der Islam Persönlichkeit und Macht für die
Gesellschaft postuliert, und das Geben und nehmen von Leben
als Gottessache betrachtet, hält er doch den Menschen für
fähig, sich bei existierender Korruption zu wehren und gegen
sie anzukämpfen. Der Koran sieht nicht in den hierarchischen
Bedingungen determinierende Faktoren, die zum Auftauchen von
gleichförmigen Ansichten führen, denen dann die Menschen
unterworfen sind.
Die Pflicht das Gute zu gebieten und das Üble zu verwehren,
ist an sich schon ein Befehl, welcher gegen die Ordnung einer
sozialen Umgebung rebelliert, wenn diese Sünde und Korruption
involviert. Der Koran sagt: „So ist es wahrscheinlicher, dass
sie wahres Zeugnis ablegen oder dass sie fürchten, es möchten
andere Eide gefordert werden nach ihren Eiden. Und fürchtet
Gott und höret! Denn Gott weist nicht dem ungehorsamen Volk
den Weg.“ (Vgl. Koran: Sure 5, Vers 108), „Zu jenen, die -
Unrecht gegen sich selbst tuend - von Engeln dahingerafft
werden, werden diese sprechen: Wonach strebtet ihr? Sie werden
antworten: Wir wurden als Schwache im Lande behandelt. Da
sprechen jene: War Gottes Erde nicht weit genug für euch, dass
ihr darin hättet auswandern können? (…)“ (Vgl. Koran: Sure 4,
Vers 97)
In diesem Vers werden jene, die sich genötigt sehen konform
mit der Gesellschaft zu sein, dafür streng verurteilt und ihre
Entschuldigungen für ihr Scheitern Verantwortung zu
übernehmen, wird abgelehnt.
Um moralisch und spirituell voran zu kommen, ist die
Existenz eines freien Willens unentbehrlich. Der Mensch ist
wertvoll und Werte werden von ihm erwartet, allerdings nur,
wenn er frei ist. Wir erwerben Unabhängigkeit und Wert allein,
indem wir einen Weg wählen, der mit der Wahrheit konform ist
und der die schlechten Tendenzen in uns und in unserer Umwelt
durch Bemühung widersteht. Wenn wir nur unserer natürlichen
Entwicklung nach Handeln oder unserer dialektischen
Determinierung folgten, würden wir all unsere Persönlichkeit
und unseren Wert verlieren.
Kein Faktor zwingt daher den Menschen einen bestimmten Weg
zu gehen, noch ist er eine Kraft, die ihn bindend dazu bringen
könnte, etwas zu unterlassen. Der Mensch mag in Anspruch
nehmen sich selbst zu schaffen, jedoch nur wenn er selbst
wählt, sich entscheidet und in seine eigenen Bemühungen
investiert, nicht aber, wenn er sich nach zufälligen Gesetzen
und Zielen, die in einer Gesellschaft vorherrschen, formt.
[39] „Muntaha Al-Amal”