L19 - Der freie Wille
Die Befürworter dieser Schule sagen, dass der Mensch sich
automatisch bewusst ist, dass er die Handlungsfreiheit
besitzt. Er kann entscheiden, was er will und sein eigenes
Schicksal entwerfen, wie er möchte und wie es zu seinen
Inklinationen passt. Die Existenz, die dem Menschen
Verantwortung auferlegt, das Bedauern, welches der Mensch
empfindet, nachdem er bestimmte Dinge getan hat, die
Bestrafung, die das Gesetz für Kriminelle vorsieht, die Werke,
die der Mensch vollbringt, um den Lauf der Geschichte zu
ändern, die Grundlagen für Wissenschaft und Technologie – all
dies beweist, dass der Mensch in seinem Handeln frei ist.
Ebenso verhält es sich mit der Frage der religiösen
Verantwortlichkeit des Menschen, das Senden von Propheten, die
Proklamation der göttlichen Botschaft und das Prinzip der
Wiederauferstehung und das Gericht – all dies beruht auf den
freien Willen des Menschen, seiner Fähigkeit, seine Handlungen
zu wählen.
Es wäre völlig bedeutungslos, wenn Gott auf der einen Seite
den Menschen zwingen würde, bestimmte Dinge zu tun, und ihn
auf der anderen Seite dafür bestrafen oder belohnen wollte. Es
wäre sicherlich ungerecht, wenn Gott, der Schöpfer der Welt,
uns auf Wege setzt, die Er, aufgrund Seiner Macht und Seines
Willens, wählt, und uns dann für diese Handlungen bestraft,
die wir begangen haben, ohne dass wir eine Wahl gehabt hätten.
Wenn die Taten des Menschen eigentlich die Werke Gottes
sind, alle Korruption, alles Üble, jegliche Grausamkeit müsste
als Seine Arbeit angesehen werden, wo doch Seine göttliche
Existenz frei von Korruption und Ungerechtigkeit ist.
Hätte der Mensch keine freie Wahl, das ganze Konzept der
religiösen Verantwortung des Menschen wäre ungerecht. Den
unterdrückenden Tyrannen träfe keine Schuld und die Gerechten
verdienten kein Lob, denn die Verantwortung hat nur innerhalb
der Sphäre des Möglichen Bedeutung und im Rahmen dessen, was
der Mensch erreichen kann.
Der Mensch verdient schuldig gesprochen zu werden oder
gelobt zu werden, wenn er in der Lage ist, selbst zu
entscheiden und frei zu handeln, ansonsten gibt es keine Frage
von Schuld oder Lob.
Jene, die an der eben beschriebenen Position festhalten,
gehen in ihrer Behauptung von menschlicher Freiheit soweit,
dass sie im Menschen den Besitzer des absolut freien Willens
sehen und zwar in all seinen willensmäßigen Handlungen. Sie
stellen sich vor, dass Gott nicht über den Willen und den
Wünschen des Menschen herrschen kann und dass die gewollten
Taten des Menschen von Seinem Machtbereich ausgenommen sind.
Das ist kurzgesagt, die Position der Befürworter des absolut
freien Willens.
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Jene, die sagen, dass es die natürlichen Normen und der
Wille des Menschen ist, der die Welt der Phänomene kreiert und
dass weder die Rotation der Welt noch die Handlungen des
Menschen irgendeine Verbindung zu Gott aufweisen, schreiben
alle Wirkungen dem Pol zu, der sich Gott entgegenstellt.
Letztendlich machen sie geschaffene Dinge zu Partner Gottes in
Seiner Schöpfung oder sie zu Gott, dem Schöpfer schaffen einen
weiteren Schöpfer. Sie halten unbewusst die Essenz der
geschaffenen Dinge für unabhängig von der göttlichen Essenz.
Die Unabhängigkeit eines Lebewesens – sei dieses nun
menschlich oder nicht – bringt den Glauben mit sich, dass
dieses Lebewesen zum Partner Gottes in seinen Handlungen und
seiner Unabhängigkeit wird, dabei ganz klar in einer Form des
Dualismus resultierend. Der Mensch wird so von dem hohen
Prinzip der göttlichen Einheit hinweg geführt und in die
gefährliche Falle des Polytheismus geworfen. Die Idee der
absoluten menschlichen Freiheit würde bedeuten, in bestimmten
Bereichen von der Souveränität Gottes Abstand zu nehmen, wo Er
doch alles Sein umfasst. Wir würden so dem Menschen
uneingeschränkte und unumstrittene Souveränität auf der Eben
seiner gewollten Handlungen geben. Kein wirklicher Gläubiger,
der an die Einheit Gottes glaubt, kann die Existenz einer
Kreativität getrennt von Gott akzeptieren, nicht einmal in dem
limitierten Bereich der menschlichen Taten.
Während wir die Validität der natürlichen Ursachen und
Faktoren anerkennen, müssen wir Gott als wahre Ursache für
alle Ereignisse und Phänomene betrachten und erkennen, dass
Gott, wenn Er es wollte, selbst in limitierten Sphären die
Ursachen und Faktoren neutralisieren und sie damit unwirksam
machen könnte.
So wie es allen Geschöpfen dieser Welt in ihrer Essenz an
Unabhängigkeit mangelt, so sind alle Existenzformen von Gott
abhängig. Es fehlt ihnen auch an der Verursachung und der
Erzeugung von Wirkungen. Daher haben wir die Doktrin der
Einheit der Handlungen, die bedeutet, dass die Wahrnehmung der
Fakten des gesamten System des Seins mit seinen Ursachen und
Wirkungen, seinen Gesetzen und Normen, das Werk Gottes sind,
dass sie durch Seinen Willen in die Existenz gelangen. Auf
diese Weise schuldet jeder Faktor und jede Ursache Ihm nicht
nur die Essenz seiner Existenz, sondern auch die Fähigkeit zu
handeln und Wirkungen zu erzeugen.
Die Einheit der Handlungen fordert von uns nicht, das
Prinzip der Ursachen und Wirkungen zu leugnen und der Rolle,
die sie in der Welt spielen oder alles als direktes und
unmittelbares Produkt des göttlichen Willens zu betrachten.
Dies, weil die Existenz oder Nicht-Existenz der verursachenden
Faktoren keinen Unterschied darstellen. Aber wir sollten
diesen Faktoren keine unabhängige Verursachung zuschreiben
oder glauben, dass die Beziehung Gottes zu der Welt dem
Künstler und seinem Werk gleiche – wie zum Beispiel die des
Malers zu seinem Gemälde. Das Kunstwerk ist in seiner
Entstehung vom Künstler abhängig. Doch wenn der Künstler seine
Arbeit erst einmal getan hat, bestehen der Charme und die
Attraktivität des Bildes auch ohne den Künstler weiter. Wenn
der Künstler von dieser Welt geht, bleibt sein brillantes Werk
erhalten.
Zu glauben, die Beziehung Gottes mit der Welt sei von der
gleichen Art, ist eine Form des Polytheismus. Wer immer Gottes
Rolle in den Phänomenen und in den Handlungen des Menschen
leugnet, nimmt dabei an, dass Gottes Macht kurz vor den
Grenzen der Natur und dem freien Willen stoppt. So eine
Sichtweise ist rational nicht akzeptierbar, da es beides
impliziert, eine Absage an die Allmacht Gottes und eine
Einschränkung Seiner uneingeschränkten und grenzenlosen
Essenz.
Wer solch eine Meinung vertritt, wird sich selbst
freisprechen, Gott in irgendeiner Weise zu brauchen, was
bewirken wird, dass er gegen Ihn rebelliert und sich mit
moralischer Korruption beschäftigt. Dagegen haben das Gefühl
der Abhängigkeit von Gott, das Gottvertrauen und die
Gotteshingabe eine positive Wirkung auf die Persönlichkeit,
den Charakter und das Verhalten des Menschen. Keine
Befehlsgewalt als die Gottes anzuerkennen, seien sie von
innerer oder äußerer Natur, heißt leidenschaftliche Wünsche
und Inklinationen werden unfähig den Menschen diesen oder
jenen Weg entlang zu ziehen und so wird kein anderer Mensch in
der Lage sein, den Menschen zu versklaven.
Der noble Koran spricht dem Menschen jegliche
Teilhaberschaft in den Angelegenheiten Gottes in dieser Welt
ab: „Sprich: Aller Preis gebührt Gott, Der Sich keinen Sohn
zugesellt hat und niemanden neben Sich hat in der Herrschaft
noch sonst einen Gehilfen aus Schwäche. Und preise Seine
Herrlichkeit mit aller Verherrlichung.“ (Vgl. Koran: Sure 17,
Vers 111)
Zahlreiche Verse proklamieren eindeutig die absolute Macht
Gottes. Zum Beispiel: „Gottes ist das Königreich der Himmel
und der Erde und was zwischen ihnen ist; und Er hat die Macht
über all Dinge.“ (Vgl. Koran: Sure 5, Vers 120), „(…) Und
nichts vermöchte Gott in den Himmeln oder auf Erden zu hemmen,
denn Er ist allwissend, allmächtig.“ (Vgl. Koran: Sure 35,
Vers 44)
Die Existenzformen dieser Welt brauchen Gott für ihr
Überleben und ihr Bestehen genauso sehr wie sie ihn für ihre
Entstehung brauchen. Die gesamte Schöpfung bekommt das
Geschenk der Existenz jeden Augenblick aufs Neue, wäre dem
nicht so, das ganze Universum würde zusammenfallen. Die
Kreativität aller Kräfte der Welt ist identisch mit der
Kreativität Gottes und ist eine Erweiterung Seiner Aktivität.
Ein Sein, welches in seiner Essenz vom göttlichen Willen
abhängig ist, kann nicht allein bestehen.
So wie eine elektrische Lampe ihre Energie vom Kraftwerk
bekommt, sobald man sie anschaltet, genauso müssen sie ständig
ihre Kraft von der Quelle beziehen, um zu brennen.
Der glorreiche Koran erklärt klar und emphatisch: „O ihr
Menschen, ihr seid Gottes bedürftig, Gottes aber ist der Sich
Selbst Genügende, der Preiswürdige.“ (Vgl. Koran: Sure 35,
Vers 15)
Alle Essenzen bekommen von Seinem Willen und sind von Ihm
abhängig, alle Phänomene dauern kontinuierlich durch Ihn an.
Die mächtige und ausgezeichnete Ordnung des Universums ist auf
einem Pol orientiert und dreht sich um eine Achse.
Imam Jaafar as-Sadiq (Friede sei mit ihm) sagte: „Die Kraft
und Macht Gottes sind so erhaben, als das etwas im Universum
auftreten könnte, was gegen Seinen Willen wäre.“[40]
Hätte Gott uns nicht das Prinzip des freien Willens
erwiesen und würde Er uns nicht jedem Moment Leben, Ressourcen
und Energie gewähren, wir wären nie in der Lage, irgendetwas
zu tun. Denn es ist Sein unabänderlicher Wille, der festgelegt
hat, dass wir gewollte Handlungen vollbringen, dabei die Rolle
erfüllend, die Er uns zugedacht hat. Er hat gewollt, dass der
Mensch seine eigene Zukunft gestaltet, sei sie nun gut oder
schlecht, leuchtend oder dunkel, ganz nach seinem eigenen
kritischen Gespür und Wünschen.
Unsere gewollten Handlungen sind mit uns selbst und mit
Gott verbunden. Wir können die Ressourcen, die Gott uns zur
Verfügung gestellt hat mit vollem Bewusstsein benutzen, um uns
zu verbessern in Übereinstimmung mit einer korrekten Wahl oder
wir können in Korruption, Sünde und Genusssucht eintauchen. Es
ist natürlich wahr, dass die Reichweite unserer gewollten
Handlungen innerhalb eines festgelegten Rahmens bleibt. Die
Kraft ist Gottes und doch sind wir es, die sie benutzen.
Nehmen wir an, jemand hätte ein künstliches Herz, dass mit
einer Batterie betrieben wird, welche man in einem
Kontrollraum an- und ausschalten kann. Wann immer wir wollten,
könnten wir dieses Herz ausschalten und seine Funktion zum
Erliegen bringen. Das, was in unserer Macht steht ist Strom,
der von der Batterie zum Herzen führt, jeden Moment können wir
diesen stoppen. Aber solange wir der Batterie erlauben zu
funktionieren, kann die Person, in deren Körper das Herz
implantiert ist, sich frei bewegen und handeln, wie sie es
möchte. Wenn sie etwas Gutes oder Schlechtes tut, handelt sie
im Einvernehmen mit sich selbst. Die Art wie sie ihre Macht
gebraucht, die wir ihr zur Verfügung gestellt haben, hängt
völlig von ihr ab und hat nichts mit uns zu tun.
So ähnlich ist es auch mit der Macht, die uns Gott gegeben
hat und die Er jeden Moment wieder zurück ziehen kann. Die Art
und Weise, wie wir die gegebene Macht nutzen, hat Er uns
völlig selbst überlassen.
Die mittlere Schule
Alle Dinge der Welt genießen eine Form der Führung, die dem
Entwicklungszustand, den sie erreicht haben, entspricht. Ihre
spezifische Form der Führung korrespondiert mit ihren
verschiedenen Graden der Existenz.
Es ist uns möglich, unsere eigene Position zu klären und
diese von den anderen Existenzformen dieser Welt zu
unterscheiden. Wir wissen, dass Pflanzen Gefangene in den
Händen der determinierenden Kräfte der Natur sind, obwohl sie
gleichzeitig bestimmte leichte entwicklungsbedingte Reaktionen
gegenüber den Veränderungen ihrer Umwelt aufweisen.
Wenn wir die Eigenschaften der Tiere analysieren, fühlen
wir, dass sie Attribute besitzen, die sich von Pflanzen
unterscheiden. Um ihre Nahrung zu erhalten, müssen sich Tiere
mit diversen Aktivitäten beschäftigen, da die Natur sie nicht
zu einem Festessen einlädt, wo ihnen ihre Nahrung serviert
wird. Tiere brauchen bei ihren Bemühungen bestimmte Werkzeuge
und Instrumente, um an Futter zu kommen und diese werden von
der Natur mitgeliefert.
Wissenschaftler sind der Meinung, dass Tiere, die in bezug
auf ihren Körperbau und ihre Organe schwächer sind sich
bezüglich ihrer Instinkte stärker hervortun und genießen dabei
umso mehr die direkte Hilfe und den Schutz der Natur.
Andersherum aber, wenn sie sensorisch sehr gut ausgestattet
und über konzeptioneller Kraft verfügen und je größer ihr Grad
der Unabhängigkeit, umso weniger werden sie von ihren
Instinkten gelenkt. In der ersten Zeit seines Lebens, ist das
Kind direkt durch die ausführliche Fürsorge seiner Mutter und
seines Vaters geschützt. Wenn es dann älter wird, löst er sich
graduell von ihrer allumfassenden Beaufsichtigung.
Der Mensch, der die höchste Stufe der Entwicklung erreicht
hat, da er das einzige Sein ist, welches das Vermögen besitzt,
freiheitlich zu entscheiden und wahrzunehmen, hat er ein
relativ geringes Gespür für Instinkte. Da er seine Freiheit
schrittweise erlangt, wird er in seinen sensorischen
Kapazitäten zunehmend schwächer.
Die Natur stellt in vielerlei Hinsicht die verschiedenen
Bedürfnisse, die Pflanzen haben, zufrieden. In der tierischen
Welt muss das Muttertier zwar bestimmte Bemühungen ausüben, um
ihre Jungen zu ernähren und zu beschützen, dennoch kommen bei
diesen relativ rasch Instinkte zum Vorschein und das
Muttertier muss sich nicht mehr damit beschäftigen ihre Jungen
diesbezüglich zu trainieren und zu erziehen. Beim Menschen
sehen wir aber, dass er keine mächtigen natürlichen Instinkte
besitzt und seine Fähigkeit nachteilige und feindliche
umgebungsabhängige Faktoren zu begegnen ist wesentlich weniger
ausgeprägt als bei Tieren. So bleibt seine Abhängigkeit von
seinen Eltern über Jahre bestehen bis er die Unabhängigkeit
erreicht, eine Selbstversorgung möglich wird und er endlich
auf seinen eigenen Füßen stehen kann.
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Der noble Koran spricht klar von der Schwäche des Menschen
und von seiner Ohnmacht: „Gott will eure Bürde erleichtern,
denn der Mensch ward schwach erschaffen.“ (Vgl. Koran: Sure 4,
Vers 28) Die Natur hat den Menschen viel stärker als bei den
Tieren sich selbst überlassen. Wir sehen im Menschen
einerseits eine sich entfaltende Freiheit und das Auftauchen
der Fähigkeit zu wachsen und Bewusstsein zu entwickeln und
andererseits ist bei ihm eine Zunahme an Abhängigkeit und
Bedürftigkeit zu verzeichnen. Während er relative Freiheit
genießt, wird er stärker und stärker Sklave von Bedürfnissen.
Diese veränderlichen Situationen von verschiedenen
Ordnungen der Schöpfung, bilden, nach Ansicht bestimmter
Denker, Faktoren, die Wachstum und Entwicklung erzwingen. Je
weiter eine Existenz auf der Leiter der Entwicklung
voranschreitet, umso näher kommt sie der Freiheit. Es ist
genau die Bedürftigkeit und das Fehlen des inneren
Gleichgewichts, was möglich macht, dass Wachstum und
Fortschritt stattfinden können.
Denn der freie Wille und die Wahl sich auszudrücken muss
existieren - ein Faktor, der sich dem natürlichen Instinkt
gegenüber entgegengesetzt verhält. Der Mensch ist dann in zwei
sich entgegen gesetzt wirkenden Anziehungskräften gefangen,
jede der beiden versucht seinen Gehorsam zu gewinnen, so dass
er gezwungen ist, den Weg zu gehen, den er sich wünscht, frei
und bewusst, sich auf seine eigenen Bemühungen verlassend.
Frei von allen determinierenden Faktoren und mental
vorgefassten Meinungen beginnt er auf der Basis spezifischer
Kriterien und Prinzipien die Arbeit, sich selbst zu erschaffen
und zu entwickeln.
Sobald man mit den Elementen des Widerspruchs konfrontiert
wird, kann der Mensch nicht das Gleichgewicht erlangen oder
einen korrekten Weg für sich selbst wählen, indem er wie ein
Automat agiert oder jegliche Bemühung unterlässt. Die Last des
göttlichen Vertrauens ertragend - dieses große Geschenk, für
das die Himmel und die Erde nicht geeignet waren, nur der
Mensch erkannte es als lohnenswert, sie zu akzeptieren - sieht
sich der Mensch nur mit zwei Wahlmöglichkeiten in seinem
Konflikt und Kampf konfrontiert: Entweder er wird zu einem
Gefangenen der Tyrannei des Instinktes und der ungezügelten
Wünsche, dabei sich selbst herabsetzend und sich degradierend
oder aber er greift auf die unzähligen Eigenschaften des
Willens, des Denkens und der Entscheidungskraft zurück, den
Weg des Wachstums und der Entwicklung in Angriff nehmend und
beginnt aufzusteigen.
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Wann immer ein Sein vom obligatorischen Gehorsam der
Instinkte befreit ist, die Ketten der Knechtschaft abwirft und
beginnt seine innewohnenden Fähigkeiten und seine erworbenen
Eigenschaften zu nutzen, werden seine sensorischen Bereiche
geschwächt und seine natürlichen Kapazitäten gehen zurück.
Der Grund dafür ist, dass jegliches Organ oder jegliche
Fähigkeit, die in einer Existenz ungenutzt bleibt, langsam
gelähmt wird. Umgekehrt aber, wenn ein Organ oder eine
Fähigkeit intensiv gebraucht wird, werden sie nur noch
funktionstüchtiger.
Wenn also das Licht des Bewusstseins eines Menschen und
sein kreativer Wille, inspiriert durch die Macht des
kritischen Gespürs und der Vernunft seinen Weg erleuchtet und
seine Handlungen bestimmt, werden seine Macht zur Einsicht und
sein Denkvermögen es ihm ermöglichen, neue Wahrheiten und
Realitäten zu entdecken.
Mehr noch, der Zustand der Verwirrung und der Zurückhaltung
des Menschen zwischen den zwei sich gegenüber stehenden Polen,
bringt ihn dazu nachzudenken und seine Lage einzuschätzen.
Durch rationale Anstrengung kann er dann den richtigen von dem
falschen Weg unterscheiden. Dies aktiviert seine mentalen
Fakultäten, stärkt seine vernunftbegabten Kapazitäten und
stattet ihn mit einem höheren Grad an Beweglichkeit und
Vitalität aus.
Besitztum, der Wunsch nach Freiheit, Wissenschaft und
Zivilisation – all dies sind die direkten Resultate der
Ausübung des freien, menschlichen Willens. Sobald der Mensch
die Freiheit erlangt hat und an seinen notwendigen und
positiven Bemühungen weiter arbeitet, kann er schnell im
Prozess des Wachstums voranschreiten und all die Aspekte
seiner innewohnenden, essentiellen Natur zur Entfaltung
bringen. Wenn seine Talente und Fähigkeiten reifen, wird er zu
einer Quelle des Gewinns und der Tugend für die Gesellschaft
werden.
Wir sehen die Ergebnisse des freien Willens überall und der
Kampf, der gegen ihn durch die Befürworter geführt wird, die
sich ihm widersetzen, ist in sich selbst eine Indikation, dass
die letzteren dem stillschweigend zustimmen.
Nun lasst uns sehen, welche Grenzen der Wahlfreiheit des
Menschen gesetzt werden und was für einen Umfang er beim
Ausüben dieses Bereiches genießt.
Die authentische Ansicht der Schiiten, die vom Koran und
von den Worten der Imame bezogen wird, repräsentiert eine
dritte Schule, die sich in der Mitte zwischen den
Deterministen und den Befürwortern des absolut freien Willens
positioniert. Diese Schule leidet nicht an den
Unzulänglichkeiten und Schwächen der Deterministen, die der
Vernunft, dem Bewusstsein und allen ethischen und sozialen
Kriterien widersprechen und Gottes Gerechtigkeit leugnen,
indem sie Ihm alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten
zuschreiben, die stattfinden, noch indem sie den absoluten,
freien Willen erklären, wo es doch die Universalität von
Gottes Allmacht verneint und die Einheit in Gottes Handlungen
zurückweist.
Es ist offensichtlich, dass unsere gewollten Taten sich von
der Bewegung der Sonne, des Mondes und der Erde oder auch der
Bewegung der Pflanzen und der Tiere unterscheiden.
Willenskraft kommt aus unserem selbst hervor und macht es uns
möglich, ein bestimmtes Verhalten durchzuführen oder nicht
durchzuführen, uns damit die Wahlfreiheit gebend.
Unsere Fähigkeit frei zu wählen, ob gutes oder schlechtes,
entsteht aus unserer frei ausgeübten Kapazität des kritischen
Gespürs. Wir müssen unser Geschenk der freien Wahl bewusst
benutzen. Als erstes gilt es reiflich und sorgsam zu
reflektieren, die Dinge mit Präzision abzuwägen und dann eine
kalkulierte Entscheidung zu treffen. Es ist Gottes Wille, dass
wir unsere Freiheit auf diese Weise benutzen in einer Welt,
die Er mit Bewusstsein und Wachsamkeit erschuf.
Was immer wir tun, es ist schon bestimmt in der Sphäre von
Gottes früherem Wissen und Willen. Alle Aspekte des Lebens,
alles, was das Schicksal des Menschen berührt, ist limitiert
und bedingt durch Sein Wissen. Es ist durch Grenzen definiert,
die Gott bereits bekannt sind. Mehr noch, wir sind nicht
einmal für einen Augenblick frei von dieser Essenz, mit der
wir verbunden sind und das Benutzen der Kraft, die in ins
inhärent ist, kann unmöglich ohne Gottes kontinuierliche Hilfe
in uns fort bestehen.
Er beobachtet uns unmittelbar mit Seiner obersten,
überwältigenden Macht und dies auf einer Art und Weise, die
über unsere Imagination hinausgeht. Er besitzt völliges
Bewusstsein und die Souveränität über all unsere Intentionen
und Verhaltensweisen.
Letztlich kann unser freier Wille nicht über die Ordnung,
die Gott für Seine Schöpfung etabliert hat, hinauswachsen und
daher gibt es auch bei Seinen Werken kein Problem bezüglich
der Einheit.
Während der Mensch mithilfe seines Willens Wirkungen in der
Welt schaffen kann, ist er selbst einer Serie von natürlichen
Gesetzen unterworfen.
Er betritt die Welt ohne dafür zur Wahl gestellt worden zu
sein und er tut zuweilen seinen letzten Atemzug, ohne dass er
den Wunsch hat, dies zu tun. Die Natur hat ihn mit
Bedürfnissen und Instinkten gefesselt. Trotzdem besitzt der
Mensch bestimmte Kapazitäten und Fähigkeiten. So schafft die
Freiheit in ihm Kreativität, die ihn in die Lage versetzt, die
Natur zu unterwerfen und eine Dominanz über seine Umwelt zu
etablieren.
Imam Jaafar as Sadiq (Friede sei mit ihm) sagte: „Weder der
Determinismus noch der freie Wille, die Wahrheit dieser
Angelegenheit liegt zwischen den beiden.“[41]
Es gibt also den freien Willen, nur ist dieser nicht
allumfassend, denn wenn man für den Menschen eine getrennte
Sphäre postuliert, so ist dies gleichbedeutend mit dem
Beigesellen eines Partners neben Gottes Werken. Der freie
Wille, den der Mensch genießt, ist vom Schöpfer der Natur so
gewollt und Gottes Befehl manifestiert sich in Form von
Normen, die den Menschen, die Natur, die natürlichen
Beziehungen, die Ursachen und die Faktoren regieren.
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Aus der Sicht des Islams, ist der Mensch weder ein fertiges
Geschöpf, dessen Schicksal verdammt ist, festgelegt zu sein,
noch wurde er in eine dunkle und sinnlose Umgebung gestürzt.
Er ist eine Existenzform, die vor lauter Zielen, Talenten,
Fertigkeiten, kreativem Bewusstsein und Inklinationen geradezu
überläuft, und er wird von einer Art innewohnender Führung
begleitet.
Den Fehler, den die Deterministen und die Befürworter des
unbegrenzten freien Willens machen, ist dass sie sich
vorstellen, dass dem Menschen nur zwei begehbare Wege zur
Verfügung stehen: Entweder all seine Taten werden allein auf
Gott zurückgeführt, so dass er jegliche Freiheit verliert und
in seinen Handlungen vorherbestimmt ist oder wir sind
verpflichtet zu glauben, dass die gewollten Werke des Menschen
von einer unabhängigen und ungebundenen Essenz in uns selbst
stammen, eine Ansicht, die Gottes Macht limitiert.
Dass wir einen freien Willen haben jedoch, ist ein Fakt,
der nicht die Allmacht Gottes betrifft, denn Er hat gewollt,
dass wir freiheitlich unsere eigenen Entscheidungen treffen
und zwar in Übereinstimmung mit den Normen und Gesetzen, die
Er etablierte.
Einerseits kann man die Taten des Menschen und sein
Verhalten auf den Menschen selbst zurückführen und
andererseits auf Gott. Der Mensch hat eine unmittelbare,
direkte Beziehung zu seinen eigenen Handlungen, während Gottes
Beziehung zu diesen Taten indirekt ist. Aber beide
Beziehungsformen sind real und wahr. Weder steht der Mensch
dem göttlichen Willen oppositionell gegenüber, noch steht sein
menschlicher Wille den Wünschen Gottes konträr gegenüber.
Hartnäckige Menschen intentionieren den Unglauben, sie sind
jeder Form des Predigens und der Warnung gegenüber
oppositionell eingestellt. Zu ihrer verirrten Position kommen
sie ursprünglich durch die Ausübung ihres freien Willens und
erfahren dann die Konsequenzen ihrer Blindheit und der
Verstocktheit ihrer Herzen, die von Gott gesehen wird.
Sie gehorchen den Wünschen ihres niederen Selbst. Diese
sich selbst gegenüber ungerechten Menschen verhindern das
Funktionieren ihrer Herzen, ihrer Augen und ihrer Ohren und
als Resultat ernten sie ewige Verdammnis.
Der Koran sagt: „Die nicht geglaubt haben - und denen es
gleich ist, ob du sie warnst oder nicht warnst -, sie werden
nicht glauben. Versiegelt hat Gott ihre Herzen und ihre Ohren,
und über ihren Augen liegt eine Hülle, und ihnen wird schwere
Strafe.“ (Vgl. Koran: Sure 2, Vers 6-7)
Manchmal sind die Korruption und die Sünde nicht von
solchem Ausmaß, dass sie den Weg zur Rückkehr zu Gott und der
Wahrheit blockieren. Aber zuweilen erreichen sie einen Umfang,
dass die Rückkehr zur wahren menschlichen Identität nicht mehr
möglich ist. Dann wird das Siegel des Eigensinns auf den
verunreinigten Geist des Ungläubigen gelegt. Dies ist ein
natürliches Ergebnis ihres Verhaltens, welches durch Gottes
Wille und Wunsch entschieden wird.
Die Verantwortlichkeit solcher Personen stammt von der
Ausübung ihres freien Willens und der Fakt, dass sie nicht den
Segen der Führung bekommen haben, vermindert ihre
Verantwortung nicht. Es gibt das feste, sich selbst beweisende
Prinzip zu der Wirkung: „Was immer seinen Ursprung im freien
Willen hat und in Zwang endet, widerspricht dem freien Willen
nicht.“
Es wird berichtet, dass der Imam sagte: „Gott wollte, dass
die Dinge durch Ursachen und durch Mittel stattfinden und Er
erlässt nichts, außer mittels Ursachen. Er hat daher für alles
eine Ursache kreiert.“[42]
Eine der Ursachen, die Gott in seiner Schöpfung etabliert
hat, ist der Mensch und sein Wille. Bei Einhaltung dieses
Prinzips, dass bestimmte Ursachen und Methoden von Gott für
das Erscheinen jedes Phänomens etabliert wurden: Das Ereignis
eines Phänomens macht die vorherige Existenz von jenen
Ursachen und Mitteln erforderlich und wäre es nicht so, das
Phänomen würde nicht in Erscheinung treten.
Dies ist ein universelles Prinzip, welches auch unsere
gewollten Handlungen unvermeidlich regiert. Unsere Wahl und
unser freier Wille formen das letzte Verbindungsstück in der
Kette der Ursachen und der Mittel, die in der Ausführung einer
Tat resultieren.
Bei den Versen, wo sich alle Dinge auf Gott beziehen und
die Taten als ein Hervorkommen durch Ihn beschrieben werden,
beschäftigt sich der Koran mit dem vorewigen Willen des
Schöpfers als Entwerfer der Welt, und sie erklären wie Seine
Macht alles umfasst und den gesamten Verlauf des Seins
durchdringt. Seine Macht erstreckt sich über jeden Ort des
Universums, und zwar ohne Ausnahme. Aber Gottes unangefochtene
Macht vermindert nicht die Freiheit des Menschen. Denn Gott
selbst hat für den Menschen den freien Willen geschaffen und
Er war es, der ihm diesen erwiesen hat. Er hat den Menschen
frei überlassen, welchen Weg er zu wählen gedenkt und Er macht
kein Individuum oder Leute für das Versagen Anderer
verantwortlich.
Wenn es einen Zwang in den Angelegenheiten des Menschen
gibt, dann nur in dem Sinne, dass er, aufgrund des Willens
Gottes, gezwungen ist einen freien Willen zu haben, nicht aber
in dem Sinne, dass er verdammt dazu ist, in bestimmter Weise
zu handeln.
Wenn wir also die beste Tat unternehmen, so ist die
Kapazität sie auszuführen von Gott gegeben und die
Entscheidung, diese Kapazität zu nutzen ist von uns.
Bestimmte andere Verse des Korans betonen die Rolle des
menschlichen Willens und seiner Handlungen und widerlegen
damit die Ansichten der Deterministen. Wenn der Koran die
Aufmerksamkeit des Menschen auf die Katastrophen und Qualen
dieser Welt lenkt, die der Mensch erduldet, werden diese als
das Resultat der schlechten Taten beschrieben.
Es kann in allen Versen, die sich mit Gottes Willen
beschäftigen, nicht ein einziger gefunden werden, der die
gewollten Handlungen des Menschen auf den göttlichen Willen
zurückführt. So erklärt der Koran: „Wer auch nur eines
Stäubchens Gewicht Gutes tat, der wird es dann schauen, Und
wer auch nur eines Stäubchens Gewicht Böses tat, der wird es
dann schauen.“ (Vgl. Koran: Sure 99, Vers 7-8), „(…) und ihr
werdet gewiss zur Rechenschaft gezogen werden für das, was ihr
getan.“ (Vgl. Koran: Sure 16, Vers 93), „Die Götzendiener
werden sagen: Wäre es Gottes Wille, wir - wie unsere Väter -
hätten keine Götter angebetet; auch hätten wir nichts
unerlaubt gemacht. Also leugneten schon jene, die vor ihnen
waren, bis sie Unsere Strenge zu kosten bekamen. Sprich: Habt
ihr irgendein Wissen? Dann bringt es für uns zum Vorschein.
Doch ihr folgt nur einem Wahn, und ihr vermutet bloß.“ (Vgl.
Koran: Sure 6, Vers 148)
Wäre die Errettung und Irreführung des Menschen von Gottes
Willen abhängig, keine Spur der Fehlleitung oder der
Korruption würde auf der Welt existieren, alle würden den Weg
der Errettung und der Wahrheit gehen, ob sie sich dies nun
wünschten oder nicht.
Bestimmte Bösewichte, die für sich selbst Entschuldigungen
suchen, beanspruchen für ihre sündigen Taten, dass sie von
Gott gewollt und gewünscht wären. Dazu sagt der Koran: „Und
wenn sie eine Schandtat begehen, sagen sie: Wir fanden unsere
Väter dabei, und Gott hat sie uns befohlen. Sprich: Gott
befiehlt niemals Schandtaten. Wollt ihr denn von Gott reden,
was ihr nicht wisset?“ (Vgl. Koran: Sure 7, Vers 28)
So wie Gott für gute Taten eine Belohnung verspricht, so
will Er auch die Bestrafung für Sünde und Korruption. Aber in
beiden Fällen ist das Wollen des Ergebnisses verschieden vom
Wollen der Handlung, die zu diesem Ergebnis führt.
Das menschliche Sein und die natürlichen Wirkungen seiner
Werke sind wirklich Gottes Willen unterworfen, aber seine
gewollten Taten, kommen aus seinem eigenen, freien Willen
hervor.
Nach Ansicht des schiitischen Islams, besitzt der Mensch
keinen absolut freien Willen, so dass er nicht außerhalb des
Rahmens, des göttlichen Willens und Wunsches agieren kann,
welcher das ganze Universum mit festgelegten Normen und
Gesetzen bedeckt. Denn auf diese Weise würde Gott auf eine
schwache und ohnmächtige Entität reduziert werden, sobald Er
mit dem Willen der von Ihm geschaffenen Geschöpfe konfrontiert
werden würde. Gleichzeitig ist der Mensch auch nicht der
Gefangene eines Mechanismus, der ihn davon abhalten könnte,
seinen eigenen Weg im Leben zu wählen und der ihn dazu zwingen
würde, gleich einem Tier, ein Sklave seiner Instinkte zu sein.
Der noble Koran stellt ganz klar in einigen Versen fest,
dass Gott dem Menschen den Weg der Errettung gezeigt hat, aber
er ist weder gezwungen die Führung und Errettung zu
akzeptieren, noch ist er gezwungen der Fehlleitung zu
verfallen.
„Wir haben ihm den Weg gezeigt, ob er nun dankbar oder
undankbar sei.“ (Vgl. Koran: Sure 76, Vers 3)
Die gewollten, menschlichen Handlungen auf Gott
zurückzuführen, wird daher vom Koran abgelehnt.
[40]„ Al-Kafi“
[41] „Al-Kafi“, Band I
[42] „Al-Kafi“, Band I