Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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1. Meine Kindheit und meine Schuljahre

Alexander von Humboldt wird mein Beschützer.

Passalacqua begab sich zu dem Nestor der Wissenschaft, dem großen Alexander von Humboldt, der sich mit Recht eines Weltrufs erfreute und als Freund und Ratgeber Königs Friedrich Wilhelm IV., seines großmütigen und edelherzigen Herrn, des denkbar höchsten Ansehens nicht bloß in Berlin, sondern im ganzen Lande und in der gesamten gebildeten Welt erfreute. Wenn der ehrwürdige Greis, damals ein angehender Achtziger, im schwarzen Leibrocke und weißer Binde durch die Straßen der Stadt in langsamem Schritte wandelte, so blieb jung und alt, hoch und niedrig stehen, um beim Nahen der würdigen Gestalt in herzlichster Ehrfurcht den Hut zu lüften. Seine Person wie sein Name war allen bekannt, und man schätzte sich glücklich, ihn gesehen zu haben und nun gar erst von ihm angesprochen zu sein.

Seine Wohnung lag in der Oranienburger Straße, ganz in der Nähe der vortrefflichen Mätznerschen Töchterschule und gegenüber einer Apotheke. Eine Gedenktafel an demselben befindet sich heutzutage unterhalb des ersten Stockwerkes, das er allein bewohnte und in welchem er seine letzten arbeitsreichen Jahre bis zu seinem Tode verlebte. Sein schmuckloses Arbeitszimmer, ein kleines, einfenstriges Zimmer, lag nach dem Hofe hinaus, an dessen Hinterseite sich ein Gärtchen befand, dessen Mauer an die Johannisstraße stieß. Ein später Spaziergänger konnte von hier aus noch um drei Uhr nachts das erleuchtete Fenster erkennen, hinter welchem der unsterbliche Gelehrte vor einem Tische saß, um seinen Kosmos niederzuschreiben. Erst gegen vier Uhr pflegte er sein Bett in einem winzig kleinen Alkoven aufzusuchen, in welchem er auch seinen Geist aufgab.

Passalacqua war dem großen Alexander von Humboldt wohl bekannt, denn er hatte mit ihm die Unterhandlungen in Paris wegen der Erwerbung seines ägyptischen Museums für Berlin geführt und war auch nach seiner Ansiedelung in Berlin mit dem Nestor der Wissenschaft in steter Berührung geblieben.

In aller Ruhe setzte er ihm den Gegenstand seiner bitteren Klage auseinander, zugleich die offizielle Erwiderung auf sein ehrfurchtsvolles Bittgesuch an den König im Original vorlegend.

A. von Humboldt hörte ihn aufmerksam an, bewegte unwillig das Haupt, ein schmerzlicher Zug spielte um seine Lippen, und nach einigem Nachdenken erwiderte er dem erregten Manne, der nach Gerechtigkeit schrie: »Ich beklage auch meinerseits das Geschehene und zweifle durchaus nicht an der Richtigkeit Ihrer Behauptung in Bezug auf das Talent Ihres Schützlings. Aber die Vorsicht gebietet, daß wir ein unparteiisches Urteil auch von anderer, gelehrter Seite vernehmen. Das kann nur möglich sein, wenn der junge Mann seine demotische Grammatik und zwar auf meine Kosten veröffentlicht. Die nicht fehlende Kritik über den Wert oder Unwert seiner Entdeckungen wird für meine weiteren Entschließungen maßgebend sein.«

Schon am nächsten Tage erhielt ich die Einladung, mich zwischen 12 und 1 Uhr mittags, es war die übliche Empfangszeit, in der Behausung des großen Mannes einzufinden. Mein Herz klopfte fast hörbar, als ich den Klingelzug neben der großen Glasthür im ersten Stocke anzog und bald darauf einem kräftigen Fünfziger von herkulischer Gestalt gegenüberstand, der mir den Eingang öffnete und nach meinem Begehren fragte. Es war »der alte Seiffert«, der treue Kammerdiener und ehemalige Begleiter A. v. Humboldts auf dessen letzten Reisen nach dem Ural und Sibirien. Ich nannte ihm meinen Namen und der unbekannte schüchterne Primaner wurde sofort zu dem großen Manne geführt.

Der ehrwürdige Greis saß wie immer im schwarzen Leibrock und in weißer Binde vor seinem Tische am Fenster, umgeben von Büchern und von offenen Pappkasten, die seine wohlgeordneten Kollektaneen zum »Kosmos« enthielten. Seine Feder schrieb in schräger Zeilenrichtung auf das Papier. Bei meinem Eintritt erhob er sich, bat mich, auf dem einfachen, mit grünem Wollenstoff überzogenen Sofa meinen Platz einzunehmen, und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl neben dem von Schriften und Büchern überladenen Sofatisch. Ich war befangen wie einer, dem es an Kopf und Kragen gehen soll, stammelte Worte der Entschuldigung, aber bald schmolz das Eis meiner innersten Furcht und Angst vor den milden, freundlich lächelnden Zügen des Greises, die jedem unvergeßlich blieben, dem auch nur einmal das Glück beschieden war, sich in seiner Nähe zu befinden.

Was er mir sagte, waren Worte des Erstaunens über meine frühe wissenschaftliche Thätigkeit, Fragen nach meinen Eltern und meinem Direktor, »der ihm als gründlicher Physiker auf das beste bekannt sei«, und endlich der Vorschlag, meine Arbeiten auf seine Kosten drucken zu lassen. Ich kann mir noch heute das eigene Zeugnis ausstellen, daß ich die an mich gerichteten Fragen wissenschaftlicher Art, insoweit sie Ägyptens Schriftsprachen und Geschichte berührten, auf das verständigste und augenscheinlich zur Zufriedenheit des Hörenden beantwortete. Er drückte mir beim Abschied die Hand und forderte mich auf, so oft es meine Zeit erlaubte, ihn zu besuchen und seinen guten Ratschlägen zu folgen.

Glücklich wie ein König verließ ich die gesegnete Stätte in begeisterter Stimmung, um meinen Eltern von meinem Empfange und meinen Eindrücken im Hause des Unvergleichlichen zu berichten. Mein gesunkener Mut fühlte sich gehoben, meine Kraft gestählt, mein ganzes Wesen war wie durch Zauber umgewandelt.

Bereits am nächsten Tage ging ich ans Werk, um meine niedergeschriebene Grammatik der demotischen Schriftsprache dem Drucke zu übergeben. An einen Typensatz war natürlich nicht zu denken, da die einzelnen Züge dieser Schrift aus einer ungemein reichen Zahl, außerdem aber aus vielen miteinander verbundenen Charakteren oder Ligaturen bestehen, deren Schnitt und Guß ebenso zeitraubend als kostspielig gewesen sein würde. Ich zog es deshalb vor, das ganze Buch, in lateinischer Sprache abgefaßt, mit Hilfe des Umdrucks zu veröffentlichen, und schrieb mit einer besonders präparierten, aber sehr zähen Fetttinte meinen Text auf Papier nieder, das mit Eiweiß überzogen war und dem Schreibenden neue Schwierigkeiten bereitete.

Meine Handschrift wurde schließlich auf Zinkplatten übertragen und von diesen der Abzug jedes einzelnen Bogens genommen. Die Arbeit ging munter von statten und nach vierzehntägigem anstrengendem Schreiben im steten Kampfe mit den angedeuteten mechanischen Hindernissen sah ich mein erstes Opus vollendet. Von einer eigenhändig niedergeschriebenen Vorrede meines hochverehrten Direktors August mit schmeichelhaften Worten für den jungen Verfasser in die Welt eingeführt, sah mein Buch im Januar des Jahres 1848 das Licht der litterarischen Öffentlichkeits1. Unmittelbar vor dem Abiturienten-Examen stehend, hatte ich es fertig gebracht und meinerseits das Verlangen Alexanders v. Humboldt in kürzester Frist erfüllt. Mit Spannung sah ich den gelehrten Urteilen über mein Buch in Deutschland und im Auslande entgegen, doch ohne die geringste Unruhe über sein Schicksal zu empfinden, denn ich hatte das tröstende Gefühl, meiner Sache sicher zu sein.

In England war es zuletzt Dr. Hinks gewesen, der gelegentlich der demotischen Schrift seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, in Frankreich hatte sie dagegen der Pariser Akademiker und Artillerie-Oberst de Saulcy gerade in den letzten Jahren zum Gegenstande seiner eifrigsten Forschungen gemacht, und kurze Zeit vor dem Erscheinen meines eigenen Werkchens eine demotische Inschrift nach seiner Weise entziffert und seine Arbeit darüber in die Öffentlichkeit geschickt. Nachdem ich durch Humboldts Güte in den Besitz seines Werkes gekommen war, konnte ich mich nach kurzer Zeit davon überzeugen, daß seine Entzifferungen auf vollständig irrtümlicher Grundlage beruhten. Ich sprach meine gegenteilige Meinung an einer Stelle meiner Grammatik aus, doch nicht ohne meinem berühmten Beschützer die Fassung meines Urteiles vorher zu unterbreiten. »Um Himmels willen!« rief er lächelnd aus, »Begehen Sie keine Thorheit, als Primaner einem französischen Akademiker die, wenn auch verdiente, Wahrheit zu sagen. Benutzen Sie im Gegenteil die günstige Gelegenheit, ihm trotz Ihrer abweichenden Meinung einige schmeichelhafte Worte zu widmen, etwa in dem Sinne, daß, wenn Sie sich auch nicht mit seiner Leistung einverstanden zu erklären vermöchten, Sie dennoch zu Ihren eigenen Ergebnissen nur durch die Anwendung seiner méthode raisonnée gelangt wären. Sie werden dadurch nichts verlieren und in de Saulcy einen warmen Freund und Beschützer gewinnen, der Ihnen in Paris sehr nützlich sein kann.« Ich folgte Humboldts weisem Rate und ersetzte die bezügliche Stelle durch eine geschickte Wendung, die mit den Worten schloß, daß die Entzifferung der demotischen Schrift ihrer auffallenden Ähnlichkeit der verschiedensten Zeichen halber so schwer sei, daß unter allen Gelehrten, die sich bisher mit demotischen Studien befaßt hätten, die Palme zweifellos dem scharfsinnigen de Saulcy gebühre.

Wie gut ich daran gethan hatte, diesen Ausweg zu nehmen, das bewies mir der erste Empfang schon, den mir wenige Monate später der gelehrte Artillerie-Oberst nach meiner Ankunft in Paris bereitete. Mit einer schriftlichen Empfehlung Humboldts in der Hand stellte ich mich damals dem französischen Demotiker vor. Er saß in militärischer Uniform auf einem Stuhle vor dem geschnitzten Kamin, umgeben von mehreren jungen französischen Offizieren, die mit ihm an den Feldzügen in Algier teilgenommen hatten. Ich stand aufrecht vor ihm. Kaum hatte er die ersten Worte des Briefes gelesen, als er plötzlich aufsprang, mich stürmisch küßte und umarmte, meine Rechte ergriff und mich seinen Offizieren mit den Worten vorstellte: »Regardez bien ce jeune homme là! On ne m'a jamais battu sur les champs de bataille en Afrique, mais ce gamin m'a joliment vaincu dans ma campagne démotique.« Seinen eifrigen Empfehlungen verdankte ich in der Folge die wärmste Aufnahme in den Kreisen der Pariser Gelehrtenwelt, und seine freundschaftlichen Gesinnungen gegen mich dauerten lebelang.

Das Erscheinen meines bescheidenen Buches wurde vor allem im Auslande mit aufrichtiger Freude begrüßt und zahlreiche Zuschriften berühmter Gelehrten gelangten an mich, um mir zu meinen Erfolgen Glück zu wünschen. Den größten Triumph bereitete mir indessen eine kritische Besprechung meines Buches aus der Feder des französischen Akademikers und Staatsrates Vicomte Emmanuel de Rougé, der wenige Jahre vorher dem Studium des Altägyptischen und der Denkmälerwelt seine ganze Aufmerksamkeit zugewendet hatte. Schon seine ersten Arbeiten auf dem Gebiete der hieroglyphischen und hieratischen Schriftentzifferung bewiesen den außerordentlichen Scharfsinn des späteren Meisters, der dazu berufen war, eine neue fruchtbringende Epoche der Ägyptologie in Frankreich zu begründen. Denn nach dem Tode Champollions des Jüngern stand diese Wissenschaft verlassen und verwaist da.

Freilich nahm Ch. Lenormant den frei gewordenen Lehrstuhl des Entdeckers der Hieroglyphen-Entzifferung ein, doch ohne die Erforschung des noch Unbekannten auch nur um einen Schritt weiter zu bringen.

Vicomte E. de Rougés Abhandlung, die meine eben erschienene demotische Grammatik beleuchtete, war in der Revue archéologie zum Abdruck gelangt und ihr Inhalt von Humboldt mit dem größten Vergnügen gelesen worden. Noch an demselben Tage legte er sie seinem königlichen Herrn und Freunde vor, und man kann sich die Wirkung des Eindrucks leicht vorstellen. Von der Gnade des Königs erhielt ich die rührendsten thatsächlichen Beweise, denn aus seiner Schatulle sollten mir die Kosten während meiner dreijährigen Studien auf der Berliner Universität ausgezahlt werden, um mich der schweren Sorge für mein Fortkommen zu entheben und dadurch meine demotischen Forschungen auf alle Weise zu erleichtern.

Infolge meiner soldatisch strengen Erziehung im Hause haftete meinem ganzen Wesen eine ängstliche Schüchternheit. an, die ich mein Leben hindurch im Umgang mit höher gestellten Personen nur schwer zu unterdrücken vermochte. Ich merkte es nicht erst in meinen späteren Jahren, daß ein Unterschied in der Welt zwischen den Großen und den Kleinen besteht und daß die Abstammung von vornehmen und durch ihre Stellung oder ihren Reichtum hervorragenden Eltern die beste Empfehlung für das Schicksal der Söhne und Töchter des Hauses abgiebt. Die Erblichkeit in der Kaste hat noch heute ihre vollste Giltigkeit, und ich kann aus eigener Lebenserfahrung Humboldts gelegentliche Äußerung nur bestätigen, daß der eiserne Ring des Mandarinentums von einem homo novus nicht ungestraft durchbrochen werden kann.

Nichtsdestoweniger hatte ich in der großen Öffentlichkeit eine Menge von Freunden gewonnen, die redlich gerade für den homo novus eintraten und ihm die Thüre ihres Hauses und Herzens aufthaten. Der damalige Bürgermeister von Berlin Dr. Naunyn, der Polizeipräsident von Minutoli, mit dem ich später nach Persien zog, der würdige und gelehrte Dr. Parthey, Besitzer der Nicolaischen Buchhandlung in der Brüderstraße und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, General von Alvensleben, unter dessen Kommando mein Vater die Leibgendarmerie führte, und andere bekannte Persönlichkeiten boten dem jungen Primaner ihren Schutz und Beistand an, und ich ward durch Einladungen geehrt, als ob ich ein Etwas für Berlin und Umgegend geworden wäre. Ich suchte so viel wie möglich mein schüchternes Wesen zu überwinden, und ging, von der Mutter wohl ausstaffiert, in die glänzendsten Gesellschaften.

Der Monat März des Jahres 1848 war hereingebrochen und das Abiturienten-Examen nahm seinen Anfang. Die schriftlichen Arbeiten waren unter üblicher Klausur erledigt und die Woche für die mündliche Prüfung hatte ihren Anfang genommen. Leider war die öffentliche Ruhe in den angrenzenden Straßen nicht dazu angethan, die Aufmerksamkeit und die weihevolle Stimmung der jungen Abiturienten in gebührendem Maße zu fesseln, denn die Plätze und Gassen in der Umgebung des königlichen Schlosses bis zu den Linden hin waren mit zahlreichen Menschengruppen angefüllt, die sich auf das lebhafteste miteinander unterhielten und ihrem Mißmute mit lauten Worten Ausdruck verliehen. Berlin war politisch aufgeregt, seitdem die letzten Nachrichten aus Paris den Sturz des Königs der Franzosen Louis Philipp infolge eines revolutionären Aufstandes und die Umwandlung der Monarchie in eine Republik gemeldet hatten. Die guten Berliner, welche die Ruhe als die erste Bürgerpflicht zu preisen pflegten, waren von der stürmischen Bewegung, die wie ein böses Gespenst durch ganz Europa zog, in unheimlichem Maße mit fortgerissen, und sie fanden in der damaligen teueren Zeit und der allgemeinen Not die nächste Veranlassung, ihrem Mißbehagen einen nichts weniger als beruhigenden Ausdruck zu geben. Kavalleriepatrouillen ritten durch die Straßen, verjagten durch ihren Anblick allein die sich zusammendrängenden Bürger und Bassermannschen Gestalten, die nach allen Seiten unter lautem Gejohle und Gepfeife auseinanderstoben. Bei meinen täglichen Wanderungen nach dem Gymnasium in der Prüfungswoche war ich genötigt, den Weg durch die Breite oder Brüderstraße einzuschlagen, und war bei meinen Gängen unfreiwilliger Zeuge der aufregendsten Scenen. Durch ganz Berlin herrschte eine gedrückte Stimmung und jeder Unbeteiligte an der öffentlichen Bewegung ahnte im voraus, daß sich etwas Außergewöhnliches ereignen würde.

Fußnoten

1 Es erschien unter dem Titel Scriptura Aegyptiorum demotica ex papyris et inscriptionibus explanata scripsit Henricus Brugsch, discipulus primae classis Gymnasii realis, quod Berolini floret in der Amelangschen Buchhandlung (damals in der Brüderstraße gelegen) in dem oben angeführten Jahre.

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