7. Vogelfrei
Am Brocken.
Und es will Abend werden.
Ich sitze an einem schönen Herbsttage im Jahre des Heils
1893 vor dem offenen Fenster im westlichen Flügel eines
stattlichen langgedehnten Holzbaues. Balsamische Lüfte strömen
in mein Zimmer hinein. Das melodische Geläute zurückkehrenden
Viehes unterbricht allein die heilige Stille, die in[393] der
ganzen Umgebung des Gebäudes herrscht. Die Sonne neigt sich zu
Rüste und vergoldet mit ihren flammenden Strahlen die Kronen
dunkelgrüner Fichten und Tannen, die hinter dem Hause, vom
Rande einer Wiese aus, wie ein Wald über dem Walde bis zu dem
Gipfel des »Wurmberges« emporsteigen. Linker Hand thronen über
dem Waldgebirge die Felskegel der beiden »Schnarcher«,
Goetheschen Angedenkens, während ihnen gegenüber, nach Norden
zu, die Bergstraße am Fuße der steinigen Lichtung hinter dem
Dorfe Schierke, an der kleinen Kirche vorüber, ihre
Schlangenlinie bis zum Brocken hinauf windet.
Das Brockenhaus und der neue Aussichtsturm zeigen sich von
hier aus in vollster Klarheit den Blicken des vorüberziehenden
Wanderers, während zu seinen Füßen, am Anfang der Thalmulde,
das hölzerne Bauwerk im einfachen aber geschmackvollen Stile
und in anmutiger Gestalt sich von dem grünen Hintergrunde
abhebt. Das ist die Villa Hermann Grusons, die mir ihre
Pforten, mit der sinnvollen Überschrift: »Grüß Gott, tritt
ein, bring' Glück herein!« auf immer gastlich geöffnet hat.
Mein edler Freund, dessen Namen ich eben erwähnt habe,
entbehrt leicht der Ruhmesmeldung aus meiner Feder. In der
Heimat wie im Auslande wird der Erfinder des Hartstahlgusses,
der zum Schutz und Trutz des deutschen Vaterlandes das starre
Eisen seinem Willen unterthan gemacht hat, in verdientem Maße
gefeiert. Zurückgezogen von dem lärmenden Treiben der großen
Welt und an der Seite einer geliebten Frau, – beide großmütige
Wohlthäter der duldenden und leidenden Menschheit da draußen,
– sucht Gruson in der idyllischen Waldeinsamkeit die
erforderliche Zeit zur stillen Arbeit des Gedankens zu
gewinnen. Begeistert für die bunten Kinder der mütterlichen
Erde, denen er in Buckau neben der arbeitsamen Stätte des
Grusonwerkes eine Reihe stolzer Glashäuser errichtet hat,
durchstreift er sein grünes Revier am Fuße des Brockens mit
der Lust und Freude des pflanzenkundigen Jägersmannes, das
Auge gleichzeitig nach dem Himmel gerichtet, dessen
Lichtwunder zu enträtseln schon lange eine Hauptaufgabe seines
Daseins geworden ist. Die glühend flüssigen Eisenmassen in den
Pfannen seiner Werkstätten hoben ihn wie mit Zaubermacht zur
Sonne empor, dem Urquell aller Wärme und alles Lichtes.
Im Februar des Jahres 1892 begegneten wir uns beide auf
ägyptischer Erde wieder, als habe das Schicksal es also
beschlossen gehabt, nach 53jähriger Trennungszeit. Längst
Vergangenes und beinahe schon Vergessenes gewann frische
Gestalt und neues Leben. Der Jüngling Gruson – ich habe ihn in
den Anfangskapiteln geschildert – sah den Knaben Heinrich
wieder vor sich stehen, und wie der Dichter singt, so geschah
es in Wirklichkeit:
»In den Armen lagen sich beide
Und weinten vor Lust und vor Freude.«
Hatte auch Neigung und Beruf unsere Lebenswege nach
entgegengesetzten Richtungen hin getrennt, unser Streben war
auf dasselbe Ziel gerichtet: auf Wahrheit und Klarheit, auf
das Gute in seiner vollkommensten Gestalt, trotz Typhon und
seiner Gesellen.
Als Zweiundsiebziger voller Jugendkraft und Jugendfeuer
hatte Gruson die Reise nach Ägypten unternommen, um die
wunderbaren Erscheinungen der Dreiecksform des
Tierkreislichtes an dem reinen Himmel über dem Nilthale einer
näheren Prüfung zu unterziehen. Nach seiner mehr als nur
wahrscheinlichen Auffassung entsteht das merkwürdige
Lichtgebilde durch die Spiegelung der ersten Strahlen der
Morgensonne im Osten und im Westen durch die letzten Strahlen
der Abendsonne auf der irdischen Atmosphäre je nach ihrem von
der Anziehung der Sonne und des Mondes abhängigen Höhenstande.
Seine Vermutung von dem abbildlichen Vorkommen dieses
Lichtdreiecks auf den altägyptischen Denkmälern ward
vollinhaltlich durch meine eigenen Untersuchungen bestätigt,
nachdem ich denselben das vergangene letzte Jahr meiner
Lebenszeit gewidmet hatte. Grusons jüngst erschienenes Werk:
»Im Reiche des Lichtes«, in einer klaren, edlen, jedem Laien
verständlichen Sprache niedergeschrieben, enthält zugleich
meine ersten bescheidenen Beiträge darüber und damit den Dank
des einstigen Schülers an seinen großen Meister.
Die Gemeinsamkeit der Untersuchungen über das rätselhafte
Lichtgebilde, die Uraltes mit dem Neuesten verknüpften und auf
verschiedene Wege zu denselben Ergebnissen führten, wurde zum
festen Kitt eines unauflöslichen Bundes.
Ich ward fortan zu einem lieben Mitgliede seines Hauses,
über dessen Pforte mein Auge die unsichtbaren Worte liest:
»Hier wohnt das Glück!«
Ja, es will Abend werden, aber die dunkelen Wolken im
Westen vergoldet das glühende Rot einer Freundschaft, die beim
Morgenschimmer der Jugend ihre ersten Wurzeln schlug.
Der Glanz der Abendsonne am Harz versöhnt mich mit allem,
was ich Schweres im Leben erduldet habe. Sie giebt mir den
verlorenen Mut zurück, die fast gebrochene Kraft aufs neue für
Licht und Wahrheit einzusetzen, so lange es eben Gott gefällt.