1. Meine Kindheit und meine Schuljahre
Auf der Schule.
Allmählich war ich zum siebenjährigen Knaben
herangewachsen. Vom Vater in strenger militärischer Zucht
gehalten, wurde ich von der Mutter in keiner Weise verwöhnt.
In zwischen war auch eine Veränderung in der Lage meiner
Eltern insofern eingetreten, als der Vater von den weißen
Ulanen nach dem langnamigen Elitekorps der Garde-Reserve-
Armee-Gendarmerie versetzt wurde, worin er als erster
Wachtmeister die Stelle des führenden Offiziers übernahm. Die
Mannschaften, 24 an der Zahl, hatten den Rang von
Wachtmeistern oder ältesten Unteroffizieren und die Brust
jedes einzelnen schmückten Kriegsauszeichnungen von den
Feldzügen gegen Napoleon I. her. Von fremdherrlichen Orden
trugen die meisten die russische St. Anna-Medaille, die sie
während der häufigen Besuche des allmächtigen Kaisers Nikolaus
I. in Berlin empfangen hatten. Ich erwähne ausdrücklich den
Namen dieses Fürsten, da ich ihm selber für die
Weiterentwicklung meiner Erziehung bis zur Stunde das Gefühl
höchster Dankbarkeit bewahrt habe.
Die Gendarmerie, der mein Vater bis zu seinem Lebensende
als Führer angehörte, war einzig und allein für den Dienst in
unmittelbarer Nähe des Königs Friedrich Wilhelm III. bestimmt.
Täglich sandte mein Vater eine Ordonnanz nach dem königlichen
Palais, das später Kaiser Friedrich noch als Kronprinz
bewohnte, nachdem das alte Gebäude von bescheiden bürgerlichem
Aussehen erweitert und architektonisch ausgeschmückt worden
war.
Sobald Kaiser Nikolaus I. in Berlin eintraf, und das
geschah fast alljährlich, stieg er im alten königlichen
Schlosse ab, und meinem Vater wurde regelmäßig die
Auszeichnung zu teil, den Dienst als Ehrenordonnanz in dem
Vorzimmer des Kaisers zu übernehmen. Er besaß eine
außerordentliche Ähnlichkeit mit der Gestalt des Beherrschers
aller Reußen, nur überragte ihn der kaiserliche Hüne um
Kopfeslänge, und seine sympathischen Züge flößten dem
Allgewaltigen ein ungewöhnliches Vertrauen zu seinem
preußischen Ehrenwächter ein. Der Kaiser liebte es sich in
deutscher Sprache mit ihm zu unterhalten und sich nach seiner
Familie zu erkundigen. Eines Tages sprach er den Wunsch aus,
Frau und Kind zu sehen, und Mutter und Sohn wurden ihm im
Vorzimmer wirklich vorgestellt. Der Kaiser hob mich mit beiden
Händen hoch und küßte mich mit den Worten: »Gott segne Dich
mein Kind!« auf die Stirn. Noch heute schwebt mir seine
Gestalt lebendig vor Augen.
Die Großmut des Zaren belohnte die wiederholten Dienste
meines Vaters in wahrhaft kaiserlicher Weise. Es regnete
förmlich wertvolle goldene Uhren und mit Brillanten besetzte
Dosen, die letzteren nicht selten mit güldenen Dukaten
angefüllt. Der kleine Schatz bildete ein festes Kapital, das
stückweise versilbert wurde, wenn ungewöhnliche Ausgaben nötig
waren, und dazu gehörten die wachsenden Kosten bei meinem
Eintritt in die Schule und was sonst für meine weitere
Erziehung und Ausbildung erforderlich war.
Ich begann meine Laufbahn in der Schule des alten Marggraff
und hatte darin die ersten Leiden und Freuden des
abgeschlossenen Daseins außerhalb des elterlichen Hauses
durchzuleben. Die Lehrer waren mit dem jugendlichen Rekruten
im ganzen zufrieden und nur selten traf der harte Kantel meine
ausgestreckten Finger oder der schlanke Rohrstock meinen
Rücken. Ich besaß zu viel Ehrgefühl, um mich öffentlich vor
dem versammelten Kriegsvolk abstrafen zu lassen, und war
ebenso aufmerksam während des Schulunterrichts als arbeitsam
im elterlichen Hause. Meine Zeugnisse schwankten zwischen I
und II, und die Mehrzahl der Lobe schwächten den Eindruck der
bösen Tadel ab.
Auf meine gute und schöne Handschrift legte mein gestrenger
Herr Vater den höchsten Wert, da er mit Recht behauptete, daß
sie die beste Empfehlung in der Welt sei und ein gut
geschriebener Brief eine weit freundlichere Aufnahme fände als
ein schnell hingeworfener, schwer lesbarer Wisch. Im alten
Heinsius, einer Art von Briefsteller, mußte ich außerdem die
Form und Anlage eines Briefstückes nach allen Regeln der Kunst
privatim erlernen und mir z.B. die Unterschiede zwischen
Wohlgeboren, Hochwohlgeboren, Hochedelgeboren u.s.w. bis zur
höchsten und allerhöchsten Steigerung zu eigen machen,
desgleichen die üblichen Anreden und Titulaturen genau
einprägen, um vorkommenden Falles keine folgenschweren
Irrtümer zu begeben.
Besuchte ich die Großeltern, die in der Markgrafenstraße 63
ihr bescheidenes Heim aufgeschlagen hatten, so ging dieselbe
Qual von neuem an, denn der alte Herr setzte mich an den
kleinen Tisch in der Ecke des linken Fensters, zog den Kasten
mit den sauber geordneten Schreibmaterialien heraus und die
Schreibübungen wurden in der gewohnten Weise fortgesetzt.
Seufzte ich, wenn der Großvater auf ein paar Minuten
verschwunden war, so steckte mir die liebe Großmutter einen
Sechser in die Tasche und ich fuhr rüstig in meiner
Sklavenarbeit fort. Den, wie ich glaubte, redlich verdienten
Obolos verwandte ich zum Ankauf nicht etwa von süßen
Näschereien, sondern von Bilderbogen, die ich austuschte, um
mir eine eigene Welt im kleinen zu schaffen.
Einen Hauptgenuß gewährte mir im großelterlichen Hause das
Lesen der Haus- und Familienbibel, die mit zahlreichen
Holzschnitten geschmückt war und vor meine entzückten Augen
das Leben und die Werke der alten Bewohner im Morgenlande
hinzauberten. Ich ward nicht müde, die Darstellungen bis in
die kleinsten Einzelheiten zu verfolgen und selbst der Geist
Gottes, den der Künstler in Gestalt eines greifen bärtigen
Mannes mit fliegendem Gewande, der über den Wassern schwebte,
dargestellt hatte, fesselte mich in ungewöhnlichem Maße.
Das ehrwürdige Buch der Bücher, in dessen Besitz ich mich
noch heutigen Tages befinde, hatte es mir angethan, und ich
schreibe ihm die erste Sehnsucht nach der Bekanntschaft mit
den Völkern und Ländern des Ostens zu, die meinem ganzen
späteren Leben eine so bestimmte Richtung gab. Dazu kam
außerdem, daß die auf Veranlassung und auf Kosten einer
evangelischen Missionsgesellschaft veröffentlichte
Reisebeschreibung aus dem Orient nach der Schilderung eines
Schneidergesellen Namens Borsum trotz oder vielleicht gerade
wegen ihres einfachen kindlichen Stiles einen kaum glaubhaften
Eindruck auf mich machte. Ich hätte die Schneiderei erlernt,
wenn man mir die Aussicht auf eine ähnliche Reise eröffnet
hätte. Von dieser Zeit an sparte ich mir alle Groschen und
Sechser der Großmutter und der Tante Ramm zusammen,
durchstöberte die in den Hausfluren einzelner Häuser in Berlin
ausgestellten antiquarischen Bücher, erstand für billiges Geld
eine deutsche Übersetzung des Herodot, die gleichfalls in das
Deutsche übertragenen älteren Reisebeschreibungen von Pococke,
Denon und Norden und las darin bis in die Nacht hinein, um die
Wunder des Morgenlandes nach den Erzählungen jener
beneidenswerten Reisenden im vollsten Umfang zu erfassen. Was
war mir Berlin und seine Wunder dagegen? Ich hätte die halbe
Stadt für eine einzige thebanische Katakombe hingegeben.
Mein Eintritt in das französische Gymnasium, das sich
damals hinter dem königlichen Palais befand, sollte
verhängnisvoll für mein jugendliches Schicksal werden. Unter
der Leitung seines damaligen ernsten, kalten Direktors, des
Konsistorialrates Fournier stehend, erfreute sich das
Gymnasium eines regen Besuches, an dem die Sprossen aus dem
Schoße der französischen Kolonie in Berlin den Löwenanteil
davon trugen. Ich wurde der letzten Klasse des Gymnasiums, der
Septima, überwiesen und einem Ordinarius unterstellt, der
sicherlich nicht schuld daran ist, daß ich heute noch im
Lichte der Sonne einherwandele. Gedachter Ordinarius, ein Herr
Kohlheim, vom Jahre 1848 her bekannt als eine der eifrigsten
Stützen des »Treubundes«, hatte gemeinschaftlich mit meinem
Vater als Soldat im Felde gedient und wieder angeknüpfte
freundschaftliche Berührungen führten zu Besprechungen über
den Gang meiner weiteren Studien. Er wußte meinen Vater davon
zu überzeugen, daß nur die Ausbildung auf dem französischen
Gymnasium mir eine gesicherte Zukunft eröffnen könnte, und so
wanderte ich als achtjähriger Knabe in die Septima.
Wenn ich in dem kindlichen Glauben lebte, gerade in dem
Freunde meines Vaters einen gütigen Ratgeber und Lehrer
gewonnen zu haben, so hatte ich die Rechnung ohne den Wirt
gemacht. In seinen harten, verkniffenen Zügen und in den
stechenden Augen thronten weder Milde noch Wohlwollen, und
sein Herz entbehrte aller jener Eigenschaften, die einen
Schüler zum Lehrer heranziehen und diesen lieb gewinnen
lassen. Mein Ordinarius war ein Schultyrann ärgster Art und
der Stock und Schläge mit der Hand in das Gesicht galten ihm
als die einzigen Mittel, dem armen Jungen Achtung einzuflößen
und zur Aufmerksamkeit und zur Arbeit zu ermuntern. Mein Vater
hatte sicherlich Unrecht gehabt, mich vollständig der Gewalt
dieses Mannes zu übergeben, und ich konnte nicht einmal zu
Hause über erlittene Mißhandlungen klagen, ohne mich einer
zweiten Auflage der Strafe auszusetzen. Des Vormittags erhielt
ich meine Tracht Prügel, die Mittagszeit über wurde ich
eingesperrt, ohne Nahrung zu erhalten, am Nachmittag drohte
mir sonstwie mein grausamer Peiniger mit grausamen Strafen.
Ohnmächtig der brutalen Behandlung gegenüber leistete ich, der
achtjährige Knabe, mir selber einen heiligen Eid, in der
Schule weder eine Zeile zu schreiben noch zu lernen und dem
Unterrichte mit tauben Ohren zu folgen. Ich habe vier Jahre
lang, auch später, nachdem ich das Gymnasium verlassen hatte,
den Schwur gehalten und infolgedessen die tadelndsten Zensuren
eingeerntet. In dem Septimaner-Ordinarius hatte ich überhaupt
jeden Lehrer auf das gründlichste hassen gelernt.
Vor dem Beginn der Weihnachtsferien 1834 erhielt ich als
der Letzte in der Klasse Septima das schlechteste
Vierteljahrszeugnis mit Nummer IV, außerdem aber vom Herrn
Ordinarius einen handgreiflichen Denkzettel so empfindlicher
Art, daß mir das Blut vom Rücken lief und ich vor Ermattung
umsank. Danach wurde die Klasse entlassen und ich zur Thür mit
dem Fuße hinausgestoßen.
Das war zu viel für mich armen Jungen. In bitterer Kälte
und bei fußhohem Schnee wanderte ich langsam durch die Straßen
Berlins, schlug den Weg nach Schöneberg ein in der Absicht,
nach Magdeburg zu entfliehen und einen dort lebenden Onkel
mütterlicherseits um Barmherzigkeit und Obdach zu bitten. Um 3
Uhr nachmittags, kurz vor dem Weihnachtsfeste, war ich von
Berlin aus aufgebrochen; als ich Schöneberg erreichte,
herrschte bereits finstere Nacht. Ich besaß kein Geld zum
Ankauf von Speisen, um den eingetretenen Hunger zu stillen und
eisige Kälte durchbebte meine zitternden Glieder. Aber weiter
zog ich durch Schnee und Kälte mitten durch eine düstere
Heide, bis ich etwa gegen 10 Uhr nachts Lichter erblickte und
meinen Weg in die Richtung nach diesen nahm. Ich stieß auf
eine Schenke, in der sich Fuhrleute und Bauern mit lautester
Stimme mit einander unterhielten. Mich fürchtend setzte ich
meine schlotternden Beine wieder in Bewegung, um meine Reise
fortzusetzen. Ich wankte die Fahrstraße entlang, sank
plötzlich wie tot um, und mein erstarrter Körper lag begraben
im Schnee.
Was weiter mit mir geschehen war, weiß ich selber nicht zu
sagen. Nur dessen erinnere ich mich, daß Bauern oder Knechte,
die des Weges kamen, mich zufällig entdeckten, aufhoben und
auf ihren Wagen legten, um mich in die Schenke zu tragen, zu
erwärmen und durch Speise und Trank zu erquicken. Ich wurde
schließlich meinen tief bekümmerten Eltern überliefert und
verfiel bald darauf in eine schwere Krankheit, die mich lange
Wochen an das Bett fesselte.
Mein Peiniger, dem die Kunde von dem Geschehenen mitgeteilt
wurde, fühlte so wenig Bedauern darüber, daß er meinem Vater
mit der Hand auf die Schulter klopfte und mit seinem
satanischen Lächeln die Worte hinzufügte »Glaube mir, Dein
Junge wird einst den Galgen zieren!«
Das war der liebenswürdige Lehrer, dem während einer Reihe
von Jahren das Schicksal der Jugend und die Bildung zarter
Seelen anvertraut war. Seine eigene Strafe sollte ihm indes
nicht fehlen. Der Vater eines Septimaners, der nach gewohnter,
von mir beschriebenen Weise von dem sauberen Ordinarius
unsäglich gemißhandelt worden war, führte an höherer und
höchster Stelle Beschwerde, und Herr K. erhielt neben einer
wohlverdienten amtlichen Rüge seine Entlassung aus dem
Lehrerstande.
Mein Vater, dem die militärische Disziplin in das Fleisch
und Blut übergegangen war, fühlte sich nicht berechtigt, eine
Klage zu führen, deren Ausgang ihm zweifelhaft erschienen
wäre. Außerdem hatte er mich meinem Peiniger bedingungslos
übergeben in dem guten Glauben, daß er als ehemaliger
Kriegskamerad das vollste Vertrauen verdiene.
Zum Glück für die Erziehung der Jugend, besonders in
unserer Gegenwart, sind derartige Beispiele barbarischer
Lehrer kaum mehr denkbar oder sie würden sofort von
behördlicher Seite ausgemerzt werden.
Der Ingrimm, den ich gegen das gesamte Lehrertum gefaßt
hatte, sollte lange nicht zur Ruhe kommen. Ich wurde aus dem
Gymnasium herausgenommen und in eine Bürgerschule in der
Jägerstraße gesteckt, wel che damals unter Leitung ihres
Dirigenten Gericke im Flor stand. Was kümmerten mich aber
Schule und Lehrer? Ich las dafür die griechischen Klassiker in
deutschen Übersetzungen, vertiefte mich in Reisebeschreibungen
und Schilderungen des Morgenlandes, ohne meine regelmäßigen
kalligraphischen Übungen unter den Augen meines Vaters und
Großvaters zu vernachlässigen. Alle Welt war über meine
meisterhafte Handschrift erstaunt und sie verschaffte mir die
Ehre, meinem Vater treue Dienste als Abschreiber seiner
militärischen Berichte zu leisten.
Es ging oft scharf her, besonders um die Zeit gegen
Neujahr; da handelte es sich um die Abfertigung der Nationale
des aus 24 Mann bestehenden Kommandos der Königsgendarmerie
und ihres Pferdebestandes, die tabellenartig angelegt werden
mußten und eine Masse von Angaben enthielten, die einen
erklecklichen Vorrat von Linien und von Worten erforderten.
Die Listen mußten in viermaliger Abschrift ausgeführt werden,
und das erste Exemplar wurde dem König vorgelegt. Es war ein
Triumph für meinen Vater, wenn selbst an höchster Stelle die
Schönheit der Handschrift gerühmt wurde, aber über das
schmeichelhafte Lob aus dem Munde meines Erzeugers konnte ich
das eingesogene Gift des Hasses gegen die gesamte Lehrerschaft
nicht los werden.