Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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2. Meine Studentenjahre

Ich werde ein Doctor philosophiae.

Die Zeit war allmählich herangerückt, um mich für die Prüfung zum Doktor der Philosophie an der Universität zu Berlin vorzubereiten, und deshalb sah ich mich genötigt, meine ägyptischen Arbeiten während mehrerer Monate bei Seite zu legen und der Weltweisheit und den freien Künsten als zukünftiger magister liberalium artium meine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich beneidete fast A. von Humboldt, der mich versicherte, niemals in seinem Leben eine Prüfung bestanden und dennoch sein Fortkommen gefunden zu haben. Es war ein schweres Stück Arbeit, mich in den einzelnen Fächern zurechtzufinden, für welche ich die Prüfung zu bestehen hatte, aber ich war im allgemeinen gut beschlagen, wie man zu sagen pflegt, und nur die Philosophie gab mir vieles zu schaffen, da ich den Verdacht nicht los werden konnte, daß, mit Ausnahme der Logik, vor deren Kategorien ich einen besonderen Respekt besaß, ein jedes System nur mehr oder weniger geschickt angelegte Probestücke des Denkens nach der besonderen Qualität seines Stifters enthalte. Die Hegelsche Philosophie, welche ich versucht hatte unter Professors Michelet Leitung zu erfassen, bereitete mir besondere Schwierigkeiten, wenn auch ihr Geist mich unwillkürlich anzog. Ich verstand es, daß alles ist und im nächsten Augenblick nicht ist, mit andern Worten gesagt, daß alles wird oder der steten Veränderung unterworfen ist, daß ferner das Werden der Bewegung im Raume entspricht, daß die Zeit nur der gemessene Raum, daher für sich allein undenkbar ist, aber es wirbelte mir in meinem Kopfe, als ich die obersten Stufen auf der Leiter der Erkenntnis bestieg und von schwindelnder Höhe aus in eine ungeheure Tiefe hinabschaute. Ich wäre mein ganzes Leben lang kein Philosoph geworden, und wenn ich auf Grund meines Diploms dennoch zum Doctor philosophiae ernannt worden bin, so habe ich eigentlich eine solche Auszeichnung wenig oder gar nicht verdient, was ich an der Neige meines Daseins offen zu beichten keine Scheu empfinde.

Und doch ist der Mensch ein recht eitles Wesen, das sich gern mit falschen Federn schmückt. Als die schweren Stunden der Prüfung hinter mir lagen und die Gesamtheit der Herren Professoren, die als Examinatoren und Beisitzer mich bis auf die Nieren erforscht hatten, mich für würdig des Titels eines Doktors der Philosophie erklärte, da jubelte es in mir hell auf, ich verneigte mich aufs tiefste und verließ die Halle der Weisheit, um nach Hause zu eilen, meinen lieben Eltern das ungeheure Ereignis mitzuteilen und spornstreichs von dannen zu stürzen und bei einem Porzellanmaler in der Nähe ein Thürschild mit der Aufschrift Dr. phil. H. Brugsch zur baldmöglichsten Anfertigung zu bestellen. Ich war der Meinung, daß die Welt nicht früh genug erfahren könne, daß hinter der Flurthüre unserer Wohnung ein wirklicher Doktor der Philosophie seine Werkstatt des Geistes aufgeschlagen habe.

Meine feierliche Promotion fand nach herkömmlicher Weise in der Aula der Berliner Universität statt, ohne besonderen Zudrang einer schaulustigen und wissensdurstigen Corona. Die unvermeidliche öffentliche Disputation ließ an Beweiskraft der von mir vorgeschlagenen Thesen nichts zu wünschen übrig, und ich ging als Sieger im Streite glanzvoll hervor. Der Vorsicht halber hatte ich es dennoch für gut befunden, mich einen Tag früher mit meinen Gegnern zu verständigen und, ich bekenne es ganz ehrlich, die Rollen waren ganz hübsch einstudiert und verteilt worden. Ich erhielt meinen Doktorhut, leistete den vorgeschriebenen Eid und gab in einem Restaurant, das damals unmittelbar über der Kranzlerschen Konditorei gelegen war, meinen Opponenten eine leckere Mahlzeit. Mein Freund Dr. Theodor Stamm, der vor kurzem erst von einer Reise nach dem Orient zurückgekehrt war, um die Lebenskraft des Wassers und die Religion der That an ihrer ältesten Wiege genauer kennen zu lernen, war von seinen Erfahrungen nichts weniger als befriedigt und äußerte sich bitter in der Unterhaltung bei Tische über den zunehmenden Verfall der Menschheit, die nur von Selbstsucht und Verfolgungsgier beseelt sei. Das zweite Thema, das er anschlug, paßte zwar wenig zu den mit Wein gefüllten Gläsern neben unseren Tellern, aber es war dennoch für uns lehrreich, weil der junge Redner den Beweis führte, daß Pindar, der griechische Dichter, ganz recht hatte, das Wasser als das Beste in der Welt zu preisen. Seitdem man im Morgenlande es versäumt habe, vielleicht Ägypten teilweise ausgenommen, sich um das Wasser zu kümmern, sei alles in Verfall geraten und das Elend an die Stelle des Reichtums getreten. Wir konnten ihm von ganzem Herzen nur Beifall zu seiner Behauptung spenden, und so schieden schließlich meine Freunde von mir mit ihren besten Wünschen für mein Wohlergehen in der Zukunft.

Was nun? Das war die große Frage, die an mich nach absolviertem Doctor herantrat. Das königliche Stipendium, das bis dahin mich über dem Wasser gehalten hatte, war nach dem vollendeten dritten Jahre abgelaufen und ich somit genötigt, für mich in Zukunft selber zu sorgen. Meine wissenschaftlichen Arbeiten, die ich von Zeit zu Zeit veröffentlichte, brachten wenig ein, und es wäre mir peinlich gewesen, von meinen Eltern das liebe Brot empfangen zu müssen. Da fügte es Schicksal und Zufall, daß sich mir plötzlich eine Gelegenheit darbot, die allen Bekümmernissen ein Ende bereitete, wenn ich nur zugreifen wollte. Mehrere vornehme moldauische Familien, deren Namen: Ghika, Dobreann, Skelitti u.a. mir noch heute geläufig sind, suchten für ihre im Alter von 12 bis 14 Jahren stehenden Söhne eine Pension, in der die französische Sprache als Umgangssprache diente und die Wissenschaften nach deutscher Methode gelehrt wurden. Als Hauptbedingung setzten die Eltern voraus, daß der Pensionsvater ein verheirateter Mann wäre. Im übrigen stellten sich die Gegenleistungen an barem Gelde so günstig heraus, daß sie auf mehrere Jahre hinaus den Betreffenden nicht nur jeder Sorge um das materielle Dasein enthoben, sondern ihm gestatteten, sogar ein vornehmes Leben im eigenen Heim zu führen. Nach reiflicher Überlegung übernahm ich die Verpflichtung, die Söhne der Moldavia in Pension und Unterricht bei mir aufzunehmen, freilich wilde, urkräftige Knaben, die sich jedoch später zu tüchtigen, kenntnisreichen Jünglingen und Männern entwickelten und sämtlich ihrem Vaterlande die besten Dienste leisteten.

Die Hauptbedingung blieb aber meinerseits zu erfüllen übrig: ich mußte mich verheiraten, und gerade das erschien mir als das geringste unter den zu überwindenden Hindernissen. Noch in meinen Studentenjahren hatte ich während eines Besuches auf dem Gute eines reichen Grundbesitzers in der Nähe von Berlin die Bekanntschaft einer jungen Waise gemacht, sie war damals 17 Jahre alt, deren liebes, natürliches Wesen und blühende Gesundheitsfrische mein Herz und meine Sinne nicht bloß vorübergehend fesselten. Es kam sehr bald zu einer Erklärung, die zu meinen Gunsten ausfiel, und Pauline war in gleicher Weise entzückt, daß sie so unerwartet schnell die Meinige für das Leben werden und als ehrsame Hausfrau an meiner Seite walten sollte. Sie war die jüngste von drei Schwestern, die nach dem frühen Tode der Eltern in der Steinstraße ein Haus ihr eigen nannten. Die älteste war bereits die Gattin eines Kaufmanns geworden, der gegenwärtig die Stelle eines würdigen Bezirksvorstehers in Berlin bekleidet, nachdem er sich von seinem früheren Geschäfte zurückgezogen hatte. Er ist der Vater des talentvollen Bildhauers und Malers Richard Neumann, allen schaulustigen Berlinern als erfindungsreicher Dirigent des Panopticums Unter den Linden wohl bekannt. Die zweite Schwester verwaltete als Wirtin das Haus und leitete die Erziehung meiner späteren Frau. Sie starb als würdige Matrone, ohne unsere Verheiratung zu erleben, die im Jahre 1851 in der Dorotheenstädtischen Kirche vom Prediger Vater eingesegnet wurde. Alexander von Humboldt hatte es nicht abgelehnt, uns die Ehre seiner Gegenwart als Trauzeuge zu erweisen, und unter den sonstigen eingeladenen Gästen hatte ich die Freude, den Direktor Passalacqua und meinen berühmten Freund, den Landschaftsmaler Eduard Hildebrandt, begrüßen zu dürfen.

Meine junge Frau, eine geborene Berlinerin und Bürgerstochter, die mir leider später durch den Tod entrissen wurde, beglückte mich durch die Reinheit ihrer Gesinnungen und die liebenswürdigste Heiterkeit in ihrer ganzen Erscheinung. Sie hob mir den oft sinkenden Mut und flößte mir die Begeisterung für meine ausdauernden und schwierigen Arbeiten auf dem Gebiete der ägyptischen Schriftentzifferung ein, wobei sie an meiner eigenen Freude über irgend eine glückliche Entdeckung den lebhaftesten Anteil nahm, obgleich sie blutwenig davon verstand. Daneben besaß sie die vorzügliche Eigenschaft, nicht vergnügungssüchtig zu sein und die Bescheidenheit des Daseins eines jungen angehenden Gelehrten mit wahrer Genugthuung zu empfinden.

Wir hatten eine Wohnung in der Friedrichstraße 99 gemietet, gegenüber dem großen Zirkus von Renz und Dejazet, dessen ehemalige Lage der heutige Zentralbahnhof bezeichnet. Unser erstes Heim war geräumig und für damalige Verhältnisse sogar glänzend zu nennen, denn meine reichen Moldauer rückten ein und es durfte nicht an Platz fehlen, um den geforderten Ansprüchen zu genügen. Meine junge Frau war freilich entsetzt, als die verschiedenen Mütter mit brennender Cigarette zwischen den zarten Lippen erschienen, um die hoffnungsvollen Söhne dem jungen Ehepaar zur Pflege und Erziehung zu überliefern. Aber ihre Heimat lag ja nicht weit von der Türkei und die Haremssitte des Rauchens hatte die trennende Grenze überschritten und unter den Damen der Moldau und Wallachei willigen Eingang gefunden.

Eine große Verantwortlichkeit hatte ich durch die Verpflichtung übernommen, einer Fünfzahl von ausländischen Knaben, die außer ihrer Muttersprache nur das Französische parlierten, eine gründliche deutsche Erziehung und deutsche Bildung angedeihen zu lassen. Meine Zeit war vollauf dadurch in Anspruch genommen, und nur die Nacht, bisher meine treueste Freundin, blieb auch für die Zukunft mir für meine stillen, friedlichen Arbeiten übrig.

Ein ganzes Jahr lang hatte ich die schwere Bürde eines jungen Pensionsvaters getragen, dem die ihm anvertraute Jugend mit ihren verwöhnten Sitten so manche saure Stunde bereitete, als ich dessen überdrüssig wurde und nach kurzer Überlegung zu dem Entschlusse gelangte, das mühselige Geschäft aufzugeben und meine ganze Zeit der Wissenschaft allein zu widmen. Der Klang der moldauischen güldenen Dukaten besaß la viel Verführerisches, aber er entschädigte mich keineswegs für die geistige Unruhe, von der ich mich bei Tage und bei Nacht bedrängt fühlte. Denn selbst aus dem Schlafe rüttelte sie mich wach, nachdem mir ein Zufall die wenig erbauliche Entdeckung verschafft hatte, daß die ältere Generation meiner Pflegesöhne, mit Thür- und Hausschlüssel versehen, regelmäßig noch um ein Uhr nachts die Wohnung verließ, um mit der französischen Kunstreitergesellschaft des Zirkus Dejazet ein paar lustige Stunden zu verleben. Ohne daß ich eine Ahnung davon besessen hatte, war die gesamte Dienerschaft meines Hauses von den jungen Bären durch Geldspenden bestochen worden und ein jedes Mitglied derselben gewissenlos genug gewesen, die heimlichen Ausbrüche der goldenen Jugend kräftigst zu unterstützen.

Mein ferneres Leben in Berlin wurde mit Bezug auf die gewählte Wohnstätte zu einem wahren Nomadendasein. Die vereinigte Familie wechselte sie, sobald die Einnahmen zunahmen und sich eine passende Gelegenheit zu einem besseren Heim darbot. Im allgemeinen blieben wir am Südwesten hängen, wo damals der Mietspreis im Durchschnitt fünfzig Thaler für einen jeden bewohnbaren Zimmerraum betrug. Nachdem ich die stattliche Wohnung in der Großen Friedrichstraße seelenvergnügt aufgegeben hatte, bezog ich mein neues Quartier in der Johannistraße 3a, freilich ein drei Treppen hoch gelegener Bau, aber mir angenehm durch di Nähe meines Gönners Alexander von Humboldt, in dessen Garten ich von meinem Fenster aus hinein sehen konnte. Daneben erhob sich eine soeben vollendete jüdische Synagoge, deren Besucher an den jüdischen Fest- und Feiertagen der sonst stillen Gegend ein gewisses Leben und ein sonntagsähnliches Aussehen verliehen.

An meine damalige Wohnung knüpfen sich viele liebe Erinnernugen, die ich später Gelegenheit haben werde aufzufrischen. Es war nicht der bloße Zufall, der mich hier mit berühmten Zeitgenossen auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft zusammenführte, die jedoch in der Mehrzahl dem Auslande angehörten, denn Berlin war als die Residenz des für alles Schöne und Gute begeisterten Königs Friedrich Wilhelm IV. zu einem Stelldichein erleuchteter Geister geworden, die aus allen Teilen der Welt herbeiströmten, um an der Stätte, an der die Musen und Minerva ihren Lieblingssitz aufgeschlagen hatten, für längere oder kürzere Zeit zu weilen. Die Liebenswürdigkeit des königlichen Schutzherrn, der in allen Zweigen des Wissens und Könnens wohl bewandert war und in seinem »großen Alexandros« einen bewährten Freund und Ratgeber besaß, bezauberte alle Besucher, welche die Ehre hatten, dem hohen Herrn vorgestellt zu werden und seine geistvollen Unterhaltungen zu bewundern. Besonders waren es französische Gelehrte, die es sich nicht nehmen ließen, dem Könige ihre Huldigungen darzubringen und in den Museen wie in den Kreisen der Gesellschaft Berlins ihre höchste Befriedigung auszusprechen. Selbst meiner drei Treppen hoch gelegenen Klause in der Johannisstraße ward die Auszeichnung zu teil, von den berühmtesten Leuten betreten zu werden. Die französischen Akademiker Renan, E. de Rougé, Maurice, Vognë, der französische Afrikareisende Marquis d'Escayrac de Lauture u.a. gehörten zu ihrer Zahl, und ich empfand mit ganzer Seele den Stolz, meinen königlichen Herrn in allen Zungen und Tonarten von ihnen gepriesen zu hören.

Mit dem Namen des vorher genannten französischen Marquis, welcher im Jahre 1856 auf Befehl des Vizekönigs von Ägypten eine Reise in das Herz des Sudan zur Entdeckung der Nilquellen unternahm, ist eine seltsame Erinnerung in meinem Leben aus jener Zeit verbunden. Der Marquis hatte die Reise nach Berlin unternommen, um mich zu bewegen, an der Expedition teilzunehmen. Ich war drauf und dran, auf seinen Vorschlag einzugehen und den vorgelegten Kontrakt zu unterzeichnen, wenn nicht Alexander von Humboldt in letzter Stunde sein entscheidendes Veto ausgesprochen hätte.

In Berlin selbst fand ich damals in der gelehrten Welt nur eine geringe Beachtung und Anerkennung. Meine Studien und Entdeckungen lagen abseits von der großen Straße, welche von der Mehrzahl der Sprachforscher eingeschlagen wurde, so daß niemand in der Lage war, ein richtiges und unparteiisches Urteil zu fällen. Kann es Wunder nehmen, daß damals die absprechenden Äußerungen des offiziellen Ägyptologen mir die gelehrte Teilnahme im eigenen Vaterlande verschloß? Diejenigen, welche für mich eintraten, waren keine Ägyptologen, aber noch heute danke ich ihnen die Ermutigung, welche ihr Vertrauen zu meinen bezweifelten Leistungen mir zur Fortsetzung meiner Arbeiten einflößte. Dankbar erkenne ich noch heute die liebenswürdige Aufnahme an, die mir im Hause meines damaligen Gönners, des Geheimrat Dieterici, Direktors des Statistischen Amtes in der Lindenstraße, zu teil wurde. Die Bekanntschaft mit seinem vortrefflichen Sohn, dem Arabisten Fritz Dieterici, hat mir bis zur Stunde die Erinnerung an eine Zeit bewahrt, in welcher nur der Zuspruch und die Teilnahme wirklich guter Menschen unter meinen eigenen Landsleuten meinen sinkenden Mut zu heben imstande waren.

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