1. Meine Kindheit und meine Schuljahre
Meine Geburt und meine ersten Kinderjahre.
Wenn ich heutzutage auf der Berliner Stadtbahn die kurze
Strecke zwischen der Friedrichstraße und der Börse befahre, so
wende ich jedesmal den Kopf nach links, sobald der Zug die
kleine Universitätsstraße hinter sich gelassen hat. Nach
wenigen Sekunden rasselt er an einem unansehnlichen, aber
langgestreckten zweistöckigen Gebäude vorüber, das die
Südseite einer umfangreichen und im Viereck angelegten Kaserne
bildet, deren nördlicher Flügel sich nach dem Spreeufer am
entgegengesetzten Ende ausreckt.
Meine Augen bleiben jedesmal an dem ersten Stockwerk
hängen, und ich zähle das fünfte Fenster von der Ecke richtig
ab. In dem einfachen und schmucklosen Zimmer, das zu dem
Fenster gehört, erblickte ich nämlich am 18. Februar 1827 zum
ersten Male das Licht der Welt und eine Soldatenfamilie
begrüßte die Ankunft des Erstgeborenen mit den heißesten
Wünschen für sein Leben und seine Zukunft.
Die Kaserne war damals, wie noch gegenwärtig, für den
Aufenthalt von Truppen bestimmt, denn die Fußartillerie und
das zweite Garde-Ulanen-Regiment hatten sich darin seßhaft
gemacht. Auch die Offiziere des sogenannten Feldjägerkorps
besaßen einen kleinen Flügel an der südlichen Seite neben den
Ulanen, ganz in der Nähe meiner Geburtsstätte. Ein breites,
durchsichtiges Holzgitter bildete die Grenze der Flurgänge
zwischen den Jägern und den Ulanen.
Den erwähnten südlichen Teil des ganzen Baues bezeich neten
die Berliner als»weiße Ulanen-Kaserne«, den nördlichen als
Artillerie-Kaserne.
Auf dem nördlichen Teile des weiten inneren Hofraumes, um
den sich das Viereck herumlegte, standen blau angestrichene
Kanonen mit ihren blitzenden Messingrohren, während den ganzen
westlichen Teil des Hofes lange Ställe für die Pferde der
beiden Truppenteile begrenzten.
Der Hof mit seiner ganzen Länge und Breite bot mir in
meinen ersten Jahren der Kindheit einen herrlichen Tummelplatz
für meine Spiele, zu gleicher Zeit gewährte er mir den
täglichen Anblick militärischer Schauspiele durch die Übungen
und Parademärsche der Soldaten, an denen ich die höchste
Befriedigung fand.
Selbstverständlich war dabei meine ganze Zuneigung den
weißen Ulauen zugewandt, bei denen mein Vater, ein
stattlicher, schöner Mann, zur Zeit meiner Geburt die Stellung
eines Quartiermeisters bekleidete. Vor der Artillerie empfand
ich eine gewisse Bangigkeit, da ich der Meinung war, die
Kanonen könnten geladen sein und bei den Übungen einmal
abgeschossen werden. Das hinderte mich jedoch nicht, den
ausgestellten Geschützen in ihren dienstfreien Stunden meinen
Besuch abzustatten, an ihren Rädern hinauf zu klettern und auf
den blanken Rohren hin und her zu rutschen und mich im Reiten
zu versuchen.
Zu meiner Taufe waren drei Offiziere des Regimentes als
Zeugen eingeladen. Obgleich mein Vater seinem Glauben nach der
katholischen Kirche angehörte, so zog er es dennoch vor, mich
der Gemeinschaft der evangelischen Christen zu übergeben und
damit die Bitte meiner evangelischen Mutter Dorothea zu
erfüllen. Sie war aus Domersleben in der Nähe von Magdeburg
gebürtig und die Tochter des Haushofmeisters Schramm, der dem
Prinzen Louis von Preußen bis zu dessen in der Schlacht bei
Saalfeld erfolgtem Tode seine treuen Dienste geleistet hatte.
Meinem aus Schlesien gebürtigen und strengkatholischen
Großvater Johann Karl Brugsch, einem alten ausgedienten
Soldaten, der unter Friedrich dem Großen in die Armee
eingetreten war und später an sämtlichen Feldzügen der
Preußen, den unglücklichen und glücklichen, gegen Napoleon I.
teilgenommen hatte, erschien meine beabsichtigte evangelische
Taufe als durchaus ungehörig, und er that, wenn auch
vergeblich, sein Möglichstes, um meinen Vater von seinem
Vorhaben abzubringen. Gegen meine Mutter hegte er einen
besonderen Groll, da er sie allein als die Urheberin des
Religionswechsels in der Wiege vor Gott und den Menschen
verantwortlich machte. Bis zu seinem Tode hin, der in seinem
86. Lebensjahre eintrat, hatte er es nicht über sich gewinnen
können, seinen früheren Standpunkt zu ändern und seine
gereizte Stimmung abzuschwächen. Sie legte den Grund zu
manchen späteren Mißhelligkeiten im stillen Familienleben.
So wurde denn der Täufling in der evangelischen
Garnisonkirche in Berlin angemeldet, damit an ihm die heilige
Handlung vollzogen werden sollte, als ein unerwartetes
Ereignis eintrat, das meine evangelische Gemeinschaft
vollständig in den Hintergrund drängte, und zwar aus
Rücksichten der Höflichkeit gegen eine fürstliche Person.
Während des letzten Feldzuges gegen Napoleon I. hatte der
Fürst Heinrich von Carolath aus Schlesien eine Schwadron der
damaligen Vossischen Dragoner geführt, in der mein Großvater
als Wachtmeister, mein eigener Vater und seine sechs Brüder
als Freiwillige dienten. Zwischen dem Fürsten und seinem
Wachtmeister war im Laufe der Feldzüge, an denen sie beide
gemeinschaftlich teilgenommen hatten, ein überaus
freundschaftliches Verhältnis entstanden, das um so tiefer
wurzelte, als auf dem Schlachtfelde von Leipzig die sechs
Brüder meines Vaters ihre Treue für König und Vaterland mit
ihrem Tode besiegelten, so daß mein überlebender Vater der
letzte seines Stammes blieb. Beim Abschied vom Regimente, nach
eingetretenem Frieden, nahm der streng religiöse Fürst meinem
Vater das Versprechen ab, ihn bei der Geburt seines ersten
Kindes als Taufzeugen einzuladen. Er würde auf alle Fälle
erscheinen und selbst eine lange Reise nicht scheuen.
Damals gab es noch keine bequemen Eisenbahnen, und die
bestehende Postverbindung zwischen Berlin und Carolath
erforderte, besonders bei schlechter Jahreszeit, eine längere
Zeitdauer. Zwölf Jahre waren außerdem seit der Schlacht von
Leipzig dahingeflossen, und es war nicht anzunehmen, daß der
Fürst sich um der Taufe eines Soldatenkindes halber den
Beschwerden einer weitläuftigen Reise in der Postkutsche
aussetzen würde. Nichtsdestoweniger ließ mein Vater den
Patenbrief vierzehn Tage vor dem Taufdatum abgehen, und in der
Frühe eines Donnerstags erfolgte die Antwort, daß der Fürst
sich pünktlich in der katholischen St. Hedwigskirche zu Berlin
am nächsten Sonntage einfinden werde, um auf seinen Armen den
Täufling zu tragen.
Das traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mein armer
Vater hatte nichts Eiligeres zu thun, als mich in der
evangelischen Garnisonkirche abzumelden und bei der
katholischen St. Hedwigskirche anzumelden und alle
Vorbereitungen für den würdigen Empfang des Fürsten zu
treffen. Ich habe nur die Vermutung, daß ein besonderes
Schreiben meines Großvaters an seinen fürstlichen Freund den
Grund des plötzlichen Wechsels abgegeben haben möge.
Beim Verlassen des Gotteshauses steckte der Fürst der
Hebamme, die mich hinaustrug, ein Etui in die Hand mit der
Weisung, seinen Inhalt – es war sein Porträt in
Miniaturmalerei, an einer goldenen Kette – an meinem kleinen
Halse zu befestigen und mich, so geschmückt, in die
mütterlichen Arme zu legen. Erst vier Jahre später führte der
Zufall zu der Entdeckung, daß die ungetreue Hebamme das
Kleinod diebischer Weise für sich behalten hatte. Ich weiß
nicht zu sagen, ob ich nicht auch das als ein verhängnisvolles
Omen auf meinem langen künftigen Lebenswege hätte betrachten
können. Die Gründe zu einem solchen Glauben boten mir manche
Veranlassungen, über die ich vorläufig mit Stillschweigen
hinweggehe.
Meine ersten Kinderjahre verbrachte ich, wie gesagt, unter
den weißen Ulanen. Ein strammer Soldat, der brave Mann hieß
Streich, der später als ehrsamer Gastwirt in der Stadt Düben
die Zeitlichkeit segnete, vertrat die Stelle der Kinderfrau
bei mir, und da er mich herzlich lieb gewonnen hatte, so war
ich ihm nicht weniger gut und pflegte seine zufällige
Abwesenheit jedesmal mit lautem Geschrei zu beklagen. Sobald
ich das Laufen erlernt hatte, wurde er aus seiner Stellung
verabschiedet. Der große Kasernenhof verwandelte sich zu
meinem engeren Heimatslande, soweit mich eben meine Beinchen
im Umkreise desselben tragen konnten.
Allmählich drängte auch mein Thatendurst nach der Außenwelt
hinaus, zunächst nach dem »Katzenstege«, wie im alten Berlin
die heutige Georgenstraße bezeichnet wurde. An der Südseite
des Ulanenreviers war eine lange mit Pechanstrich geschwärzte
Holzwand aufgebaut, in deren Mitte sich ein Thor mit einem
militärischen Posten davor befand. Sie schloß den Katzensteg
nach dieser Seite hin ab. Gegenüber standen kleine,
unscheinbare Wohnhäuser, hier eins, dort eins, – auch eine
Schnapsbude fehlte nicht der Nähe der Kaserne halber, – und in
Lücken dazwischen waren kleine Gärten angelegt, in denen
grünes Gemüse die Beete ausfüllte und gelbe Sonnenblumen mit
ihren langen Stengeln den Hauptschmuck dazwischen bildeten.
Nach dem nahen Spreeufer zu fiel das Auge auf eine kleine,
offene Schmiede. In dichter Nähe des Wassers angelegt, erregte
sie meine höchste Bewunderung. Ein lederner Blasebalg pustete
in das Kohlenfeuer auf dem Herde, daß die Funken sprühten, auf
dem Amboß fiel der Hammer des Schmieds auf rotglühende
Hufeisen, und die Pferde, die beschlagen werden sollten,
standen mitten auf dem Bürgersteig. Da die rußigen Gesellen,
die in der Werkstatt hantierten, meinen Freunden, den weißen
Ulanen, angehörten, so heimelte mich das Bild doppelt an.
Feierte man eine Viertelstunde, so stand ich vor dem eisernen
Geländer am Spreeufer neben der Schmiede und bewunderte die
langen Reihen von »Zillen«, die mit Torf, Ziegelsteinen oder
Heu und Stroh beladen waren und auf dem tintenschwarzen Wasser
ihre nasse Straße langsam dahinzogen. Von den neuen
Museumsbauten am gegenüber liegenden Ufer war damals noch
keine Rede, und das Artem non odit nisi ignarus oder wie ein
berühmter, aber seiner Spottsucht halber bekannter Berliner
das letzte Wort damals las: Ignatius prangte noch nicht mit
seinen vergoldeten Lettern unter dem Giebel des späteren
Musentempels.
Der »Katzensteg« besaß, wie ganz Berlin in der damaligen
Zeit, ein holperiges Pflaster mit den verrufenen offenen
Rinnsteinen zu beiden Seiten des Dammes. Eine übelriechende
Jauche, nicht selten wie Zuspeise in der Suppe mit toten
Katzen- und Rattenleibern vermengt, dampfte zum Himmel auf,
und das grüne Gras, vereint mit zarten Gänseblümchen und
lieben Butterblumen wuchs in Hülle und Fülle zwischen den
Pflastersteinen hervor.
Unter den Häusern auf der Straßenzeile im Angesicht der
weißen Ulanen und meiner eigenen Geburtsstätte war mir eines
ganz besonders verhaßt und ich vermied seine Nähe aus sehr
triftigen Gründen. Es diente als Lazareth für das Regiment der
Garde du Corps und besaß nur wenige Zimmer, in denen die
Kranken lagen und mehrere Heilgehilfen die Befehle des
Stabsarztes ausführten. Ich litt eines Tages an heftigem
Zahnweh; mein Vater führte mich ohne viel Federlesens nach dem
kleinen Gebäude, das in der Mitte eines traurigen Gärtchens
stand. Ein stämmiger Garde du Corps pflanzte mich auf einen
Holzschemel, packte mich mit seinem gewaltigen linken Arme
fest und eine mit der rechten Hand in meinen Mund eingeführte
Zange riß den leidenden Zahn aus seiner Behausung. Ich habe
als Kind seitdem nie mehr über Zahnschmerzen gejammert, denn
die kräftige Methode der Heilung blieb mir im steten
Gedächtnis zurück.
Die Verlängerung des Katzensteges über die heutige
Universitäts- und Stallstraße hinaus zeigte auf beiden Seiten
der Gasse den traurigen Anblick von Holzzäunen, die nur
vereinzelt von niedrigen Häusern von schmucklosem Aussehen
unterbrochen wurden. An der Ecke linker Hand befand sich das
Diorama von Gropius, ein Anziehungspunkt erster Größe für die
schaulustige Bevölkerung des alten Berlin in der winterlichen
Jahreszeit. Besonders in der Weihnachtswoche war der Besuch
ein ganz außerordentlicher. Landschaftliche Panoramen mit
beweglichen Figuren im Vordergrund, das ganze Manöver von
Kalisch der vereinten russischen und preußischen Truppen,
lustige Szenen aus dem Volksleben mit Hilfe von Wachspuppen
zur Erheiterung der Menge zur Darstellung gebracht,
musizierende Kapellen mit lebensgroßen Musikanten aus bemalten
und bekleideten Holzpuppen bestehend und ähnliche meist sehr
harmlose Schöpfungen bildeten neben einem kleinen Volkstheater
die bemerkenswertesten Objekte, die das geehrte Publikum voll
Entzücken betrachtete. Später wurde das Diorama nach der
gegenüberliegenden Ecke verlegt und der ältere Bau in ein
Atelier zur Herstellung von Dekorationsstücken für die
königlichen Theater umgewandelt. Eine große Uhr am Giebel
diente den Umwohnern und den Straßengängern als unzweifelhaft
richtiger Messer der Zeit. Beide Gebäude gingen ein. Das
ältere ward durch Feuer verzehrt, sein Nachfolger dagegen
heruntergerissen und der freie Platz zum Bau von königlichen
Ställen verwertet. Übrigens war, »der alte Gropius«, der
Stifter des Dioramas, wie er im Volksmunde hieß, in meinen
Kindesjahren eine gefeierte Person in den Augen der Berliner.
Ich erinnere mich noch heute seiner gedrungenen Gestalt mit
dem graugelockten Goethekopf. Neben dem Diorama zog sich ein
Zaun entlang, hinter welchem die Seegersche Reitbahn gelegen
war. Die vornehme Sportswelt Berlins, an ihrer Spitze die
Herren Offiziere, gab sich hier ein beliebtes Stelldichein,
und selbst der Hof verschmähte es nicht, die zeitweise
stattfindenden Tourniere und Kostümreiten durch seine
Anwesenheit zu verherrlichen. Gegenüber streckte sich eine
lange Holzwand mit schwarzem Pechanstrich wie ein
ausgespanntes schmutziges Handtuch aus, um einen mächtig
großen, mit Gras bewachsenen Platz von der Straßenseite
abzuschließen. Die Frauen trockneten auf demselben ihre Wäsche
und die liebe Jugend häufte Berge von Sand auf oder schuf
Fallgruben von geeigneter Tiefe. Nach links hin, gleich hinter
dem breiten Thorwege, erhob sich eine alte Baracke mit dem
Kontor des damaligen Berliner Leichenfuhrwesens. Die
Schreibstuben lagen zu ebener Erde und die unheimlichen Wagen
zur Bestattung der Toten standen unter einem freien Schuppen
mit einem hohen, aus Holzplanken zusammengenagelten
Satteldache. Die Gefährte hatten die Gestalt gewöhnlicher
Holzwagen, über die eine schwarze Trauerdecke ausgebreitet
wurde. Bei jedem Begängnis erlitt die Leiche mit ihrem Sarge
die schauderhaftesten Erschütterungen, aber niemand kümmerte
sich darum und man sah die Sache als etwas Unvermeidliches
oder Unschädliches an.
Von diesen Erschütterungen kann ich ein Wörtchen
mitsprechen, denn ich und meine Gespielen männlichen und
weiblichen Geschlechtes benutzten bei der Ausfahrt irgend
eines der Leichenwagen die günstige Gelegenheit, von hinten in
das Vehikel hineinzuschlüpfen und eine kostenfreie
Spazierfahrt auf dem holperigen Straßenpflaster zu
unternehmen. Unsere kindlichen Gebeine wurden dabei gründlich
durchrüttelt, aber der Zweck war erreicht und wir fühlten uns
überglücklich.
Soweit die Erinnerungen meiner Kindheit reichen, ist mir
noch heute die Bewunderung in lebhaftem Gedächtnis geblieben,
mit der ich drei häufige Gestalten des alten Straßenlebens zu
betrachten pflegte: den Laternenanstecker, den Plundermatz und
den Eckensteher.
Der Laternenanstecker fuhr, wenn ich frühmorgens in die
Schule ging, mit seiner von Öl triefenden Karre durch den
Katzensteg. Die schmierige blecherne Ölkanne nahm den
hintersten Teil des rollenden Kastens ein, ein Ölschöpfer hing
an ihrem Henkel, eine Lampenscheere, ein Ölmaß, Dochte und
schmutzige Lappen ruhten in einem mit verschließbarem Deckel
versehenen Holzkästchen am Vorderteile. Eine Holzleiter ruhte
außen an der rechten Seite der Karre. Eine Straßenlampe
baumelte an einem formlosen Balken, der in den Erdboden
eingepflanzt war, und wankte bei starkem Winde hin und her. Im
Innern ruhte auf dem Boden die Lampe, mit deren Reinigung und
Füllung sich der Lampenmann zu beschäftigen hatte. Die Arbeit
nahm eine geraume Zeit in Anspruch und die Phasen der
vorschreitenden Vollendung gaben mir Stoff zu tiefen
Betrachtungen über die Pflege der Straßenlampen der Großstadt
Berlin.
Wenn kein Mondschein im Kalender stand, erschien dieselbe
Person in abendlicher Zeit, um ihrem Berufe als Lampenanzünder
obzuliegen. Die Leiter ruhte dann auf seiner linken Schulter.
Er kletterte auf ihr zur Lampenhöhe empor, tupfte den
Schwefelkopf eines Zündholzes in ein rot angestrichenes
Fläschchen, dessen Füllung aus Asbest und Vitrioltropfen
bestand. Im Nu fing das Hölzchen Feuer, mit dem der Docht
angesteckt wurde, wenn nicht sonst erschwerende Umstände in
Folge von Wind und Regenwetter eintraten.
Besondere Freude rief in uns Kindern das Erscheinen des
Lumpenmatzes hervor. Wenn seine Pfeife auf der Straße ertönte,
so stürzte das kleine Volk in das Haus, um schleunigst von der
geliebten Mutter leinene Lumpen und Lappen zu erbitten. Der
gute Mann, der auf seiner Karre einen Sack und einen
länglichen Holzkasten vor sich her schob, kannte genau seine
Leute und erwartete mit Ruhe die Rückkehr der Knaben und
Mädchen. Das Tauschgeschäft wurde mit allem Ernste
durchgeführt und für die gelieferten Stoffe erhielt das junge
Volk je nach Wunsch einen buntbedruckten Bilderbogen, zinnerne
Ringe mit farbigen Glassteinen, Stecknadeln und dergleichen
Dinge als Gegenwert eingehändigt.
Die dritte Straßenerscheinung, die meinen Kinderaugen wie
ein Wundertier erschien, war der damalige Eckensteher. Wie
sein Name besagt, hatte er seinen Stand an den Ecken der
belebtesten Straßen; mit besonderer Vorliebe wählte der
dienstbare Geist seinen Platz in unmittelbarer Nähe einer
»Destillation« oder »Destille« im Jargon von Neu-Berlin, und
seine gerötete Nase bewies die lebendige Teilnahme, die er von
Pause zu Pause dem Aufschwung des Geschäfts widmete. Ein
blankes Messingschild mit einer weithin sichtbaren Nummer
darauf war an einem breiten Band von hellrotem Kattun an
seinem linken Arm befestigt und ein derber lederner Tragriemen
ruhte auf seinen Schultern. Er bildete in seiner
philosophischen Ruhe ein Gegenstück des orientalischen
Derwisches und vermochte wie dieser den lieben langen Tag, mit
Ausnahme der Kunstpausen in dem benachbarten Fuselladen, im
warmen Sonnenschein auszuharren, um seine Kunden zu erwarten.
Zu den berühmtesten Exemplaren der damaligen Eckensteher
gehörte Nante mit der Nummer 22, der Unter den Linden an dem
Eckhause der Großen Friedrichstraße, gegenüber der
Kranzlerschen Konditorei, jahrelang seine Stellung behauptete
und in einer beliebten Posse: »Der Eckensteher Nante im
Verhör« eine Hauptrolle spielte. Wenn der alte Beckmann, der
bekannte Komiker, in diesem Stücke im Königstädtischen Theater
am Alexanderplatz auftrat, so waren die Plätze bis zum Olymp
hinauf mit fröhlichen Zuschauern besetzt. Es war in der Zeit,
in welcher der Bierwirt Drucker den tollen Einfall hatte,
seine Gäste durch Ponies reitende Kellner bedienen zu lassen,
die vornehmere Welt sich »bei Kranzler« oder in den
Konditoreien von Stehely, Josty, Spargnapani oder Meier, am
Gendarmenmarkt, ein Stelldichein gab und im Kolosseum in der
Alten Jakobstraße in winterlicher Jahreszeit lustige
Maskenbälle gefeiert wurden, an denen selbst der Hof
teilzunehmen sich nicht scheute. Die höchsten Herrschaften
erschienen mitten unter den Bürgern Berlins, ohne zu fürchten,
am nächsten Tage in den Zeitungen kritisch beleuchtet zu
werden. Damals schrieb man freilich vor 1848.
Auch beim Feuer fehlte ich niemals. Eine plötzliche
Feuersbrunst, besonders in nächtlicher Zeit, verschaffte der
gesamten Jugend Berlins, von der ich mich keineswegs ausschloß,
den Genuß eines schauerlichen Vergnügens. Die Nachtwächter
tuteten in ihr Kuhhorn, sobald ein roter Schein am Himmel
aufflammte, langsam öffneten sich die Hausthüren und Gevatter
Schneider, Schuster und sonstige seßhafte Mitglieder der
Zünfte erschienen im Kostüm von Feuerleuten. Ein sonderbarer
dunkler Blechhelm mit einer aufwärts strebenden Krümmung am
Hinterkopf bedeckte ihr Haupt und ein schlotternder Rock von
festem grünschwarzem Drillich legte sich um ihre Glieder. Die
einen zogen nach dem nächsten Spritzenhause, um die rollenden
Löschapparate zum Auszuge vorzubereiten, die andern begaben
sich nach den Droschkenställen, um deren Besitzer an ihre
Pflicht zu gemahnen, d.h. die abgetrabten Gäule an die Spritze
zu spannen; wieder andere besetzten die Brunnen »Plumpen«
genannt, um die mit faulendem Wasser gefüllten »Tienen«, die
auf einem Holzschlitten ruhten, von andern Droschkenpferden
durch die Straßen bis zur Brandstätte schleifen zu lassen. Was
nur gehen konnte, war auf den Beinen, und natürlich die Jugend
nicht die letzte, die sich besonders bei Nacht an dem roten
Scheine der sinkenden Pechfackeln erfreute und munter neben
den Spritzen und Feuertienen einhertrabte.
Die eigentliche Löscharbeit war bei großen Bränden eine
vergebliche Mühe, wenn auch die nächststehenden Zuschauer, die
Maulaffen feilboten, von dem Spritzenvolke ohne Unterschied
der Person gepreßt wurden, um die Pumpen in Bewegung zu
setzen. Ich habe den entsetzlichen Brand des alten
Mühlendammes, bei dem nahe an 30 Menschen den Feuertod
erlitten, mit eigenen Augen gesehen und später den großen
Brand des Opernhauses miterlebt, bei dem zum erstenmale eine
Dampfspritze ihre nur schwachen Dienste leistete, denn es
fehlte am besten, am Wasser, und brauche auch meinerseits
nicht zu versichern, daß damals das Löschwesen mit den
unzureichendsten Mitteln betrieben wurde.
Berlin mit seinen 150000 Einwohnern war trotz seines Rufes
als Residenz und als Mittelpunkt eines ungemein regen
geistigen Lebens eine Kleinstadt geblieben, die sich am
allerwenigsten mit den Weltstädten Paris und London hätte
messen können. Der alte Mauerring, von dem noch Reste in der
Nähe des Charitee-Gebäudes bis auf den heutigen Tag übrig
geblieben sind, beengte ihre Ausdehnung. Es war ein Ereignis,
als die Droschke mit der Nummer 100 sich in den Straßen zum
erstenmale sehen ließ.
Außerhalb des häßlichen backsteinernen Gürtels mit seinem
abfallenden Abputz fing die freie Natur an, wenn auch mit
einziger Ausnahme des Tiergartens in wenig reizvollem
Zustande. Die staubigen und sandigen Wege, meist von Hagedorn
eingefaßt, oder von Disteln und Brennesseln eingesäumt,
führten nach den nächstgelegenen Dörfern in der Umgegend.
Einspännige Kremser, die an einzelnen Thoren hielten und deren
Führer jeden neu einsteigenden Fahrgast als den letzten vor
der im Augenblick bevorstehenden Abfahrt begrüßten,
vermittelten die Verbindung mit Charlottenburg und sonstigen
ferner liegenden Vergnügungsorten, in welchen »die Weiße« und
sogenanntes »Bayersches« in höchst einfachen Gärten kredenzt
wurde. Die Gegend des Galgens blieb von den Ausflüglern
verschont; nur an den Tagen einer Hinrichtung strömte die
neugierige Menge bereits um Mitternacht nach der schauerlichen
Stätte, um einen guten Platz für das bevorstehende Schauspiel
zu gewinnen. Männer, Frauen und Kinder zogen mit Eßkörben
beladen zum Rosenthaler Thore hinaus, und man vergaß alle
Müdigkeit in Erwartung der kommenden Dinge. Es war ein Stück
mittelalterlichen Lebens, das sich bei solchen Gelegenheiten
in und außerhalb Berlins abspiegelte.
Für die öffentliche Ruhe und Ordnung sorgte der Gendarm und
der Polizeikommissar, vor welchen beiden ich einen gewaltigen
Respekt besaß. Der letztere vertrat die Stelle des heutigen
Polizeilieutenants und war in seinem Viertel eine wohlbekannte
Erscheinung, der man mit gebührender Höflichkeit und Achtung
gegenübertrat. Der Gendarm waltete seines Amtes in den Straßen
und richtete sein strenges Auge auf alles Ungesetzliche und
Ungehörige. Auch das Rauchen von Pfeifen und Zigarren in der
Öffentlichkeit war einem Verbot unterworfen. Ich erinnere mich
noch des Aufsehens, welches die berüchtigte Lola Montez
während ihres damaligen kurzen Aufenthaltes in Berlin erregte.
Von einer englischen Dogge begleitet, promenierte die stolze
Spanierin mit einer brennenden Zigarette im Munde und einer
Reitgerte in der Hand Unter den Linden einher. Dem Gendarm,
der sie zur Rede stellte, hieb sie einfach mit der Gerte über
das bärtige Gesicht. Sie wurde verhaftet und sofort aus Berlin
verwiesen. Ihre Thaten und ihr Leben haben ihr bekanntlich in
der Folge einen bösen Leumund verschafft. Als ich als
General-Kommissar der aegyptischen Regierung in Amerika
weilte, kam die Nachricht von ihrem Tode zu meinen Ohren. Sie
war in bitterstem Elend in einem Dorfe, das in der Nähe von
Philadelphia liegt, aus dem Leben geschieden.
Ich könnte ein Buch vom alten Berlin schreiben, wie es
damals war, so treu haben sich meine Erinnerungen an die
damalige Stadt und ihre witzigen Einwohner, meine lieben
Landsleute, erhalten, wenn nicht schon andere mir
zuvorgekommen wären und mit gewandterer Feder, als es die
meinige ist, diese Aufgabe gelöst hätten. Außerdem liegt es ja
nicht in meiner Absicht, dem Leser von der guten alten Zeit zu
erzählen, sondern mich selber in den biographischen
Vordergrund zu stellen, obgleich ich die Schwierigkeit
empfinde, auch dieser Aufgabe in dem Maße gerecht zu werden,
um nicht bloß bei meinen Freunden, sondern auch bei den ferner
Stehenden die vielleicht unverdiente Teilnahme für meinen
Lebenslauf zu erwecken. Meine Schuljahre darf ich dabei nicht
übergehen, denn sie liefern den Schlüssel zu manchen
Erscheinungen in der Entwicklung meiner Gemütsart, für die ich
sonst keine Erklärung zu finden wüßte.