7. Vogelfrei
Mein Freund Mariette stirbt.
Meine ägyptischen Ersparnisse und eine kleine mir von der
Regierung in Kairo gezahlte Entschädigung erlaubten mir damals
die Reise nach dem Nilthale auf eigene Kosten zurückzulegen.
Sie bot mir zugleich die beste Gelegenheit dar meine
zurückgelassene Wirtschaft zu veräußern, nachdem ich in einem
bescheidenen gemieteten Hause in der Nähe des Süßwasserkanals,
der von Kairo aus über Heliopolis nach Sues geleitet ist, mich
auf kürzere Zeit häuslich eingerichtet hatte.
Bei meiner Ankunft war Mariette noch nicht eingetroffen,
aber die letzten Nachrichten meldeten seine baldige Ankunft,
enthielten aber zugleich die traurige Botschaft, daß seine
Tage gezählt seien und sein Ableben bevorstände.
Bei seiner endlichen Landung raubte ihm ein heftiger
Blutsturz seine letzten Kräfte. In Kairo saß ich täglich an
seinem Krankenbette, um seine Hand zu fassen und durch
tröstende Worte seinen vollständig gesunkenen Lebensmut zu
heben. Noch beschäftigten ihn Pläne für die nächste Zukunft
und für die wissenschaftliche Ausbeute der letzten
Nachgrabungen.
Zwei arabische Schechs, alte Leute, die uns beiden noch von
den Ausgrabungen im Serapeum her bekannt waren, hatten sich
der Aufgabe unterzogen, eine Reihe kleinerer Pyramiden in der
Nähe der früher freigelegten Ausgrabungen zu öffnen, um in den
Grabkammern nach Särgen alter Könige zu suchen. Von drei
Pyramiden wurde der Zugang mit größter Gefahr für die Arbeiter
bloßgelegt, aber ihre Mühen wurden reichlich belohnt, denn die
Seiten der langen Gänge und die Wandflächen der eigentlichen
Grabkammern fanden sich von oben bis unten mit
hieroglyphischen Inschriften in ältestem Stil bedeckt und die
aufgefundenen Särge aus nubischem Granit waren mit
eingegrabenen königlichen Texten versehen. Freilich überzeugte
man sich daneben, daß bereits im Mittelalter die Pyramiden von
beutegierigen Arabern, Bewohnern der nahe gelegenen Dörfer,
geöffnet worden waren, aber dennoch war der wissenschaftliche
Gewinn ein ungeheurer. Beschriebene Pyramiden hatte man vorher
nicht gekannt und Mariette ihr Dasein stets geleugnet.
Die Abdrücke der Inschriften aus der ersten erschlossenen
Pyramide waren Mariette bereits in Paris zugekommen. Er hielt
den darin häufig auftretenden Königsnamen Piopi (Phiops) für
den eines Privatmannes. Die Texte der beiden übrig bleibenden
Pyramiden kannte er noch nicht. Sie waren erst bei seiner
Landung in Ägypten von den Schechs geöffnet worden und die
Inschriften mußten die wichtige Frage entscheiden, ob auch
Privatpersonen oder nur wirkliche Könige in Pyramiden
bestattet worden waren. Mit schwacher Stimme bat mich mein
kranker Freund um den Dienst, mich in Begleitung meines
Bruders Emil, der als Konservator im Museum seit etwa fünfzehn
Jahren angestellt war, an Ort und Stelle zu begeben, um die
geöffneten Pyramiden zu untersuchen und ihm darüber Bericht zu
erstatten.
Auf der Eisenbahn, die auf der linken Nilseite in
einstündiger Entfernung bis zu der Ruinenstätte des alten
Memphis führt, schlugen wir am nächsten Morgen den Weg nach
Süden ein, bestiegen an der Eisenbahnstation Bedreschein
bereitstehende Esel und gelangten nach einem Ritte von zwei
Stunden nach dem Pyramidenfelde im Westen des Dorfes Sakkarah.
Gemeinschaftlich mit den ägyptischen Schechs der
Ausgrabungen gingen wir mühsam in den geöffneten Gang der
westlichen Pyramide, in steter Gefahr, von den über unsern
Leibern schwebenden Steinblöcken bei der leisesten Berührung
erdrückt und zermalmt zu werden. Endlich erhielten wir Luft in
der innersten Grabkammer, deren Wände mit den reichsten
Inschriften in vertikalen Kolumnen bedeckt waren. Ich erkannte
an vielen Stellen der Texte den Namen und die Titel Pharaos
Methesuphis aus der sechsten Dynastie altmemphitischer Könige.
An der Westseite der Kammer stand ein wohl erhaltener
Sarkophag in Kastenform aus einem dunklen rotgesprenkelten
Granit. Die Inschriften auf dem zurückgeschobenen Deckel und
am oberen Rande der steinernen Truhe trugen denselben Namen
des erwähnten Königs in Begleitung seiner Titel und
Nebenbezeichnungen. Es war kein Zweifel mehr übrig, daß die
beschriebene Pyramide, wie ihre übrigen Schwestern mit
Inschriften, thatsächlich einem Könige der ältesten Dynastie
angehörte.
Neben dem Steinsarge lag auf dem Fußboden der Grabkammer
die wohl erhaltene Mumie Pharaos Methesuphis, wie er in den
Königslisten Manethos heißt, eine ziemlich genaue Umschrift
seines echt ägyptischen Namens Mehtemsuf. Nach ihrer äußeren
Erscheinung und Körperbildung konnte die Leiche nur einer im
Jünglingsalter gestorbenen Person angehört haben.
Die sehr feinen Byssusbinden, mit welchen sie einst
umwickelt war, hatten die arabischen Schatzgräber vom Leibe
heruntergerissen, so daß die Fetzen des fast durchsichtigen
und spinngewebartigen Leinewandstoffes allenthalben zerstreut
umherlagen.
Nachdem ich die beiden übrigen geöffneten Pyramiden
durchsucht und in ihren Inschriften die Namen ihrer Erbauer
entdeckt hatte, trat ich mit meinem Bruder den Rückweg an, um
Mariette noch an dem Abend desselben Tages die Ergebnisse
meiner Untersuchungen an Ort und Stelle mitzuteilen.
Vielleicht, so sagte ich mir, wird es dem sterbenden Freunde
eine letzte Freude bereiten, die Mumie eines der ältesten
Könige Ägyptens und der Welt überhaupt noch mit eigenen Augen
sehen zu können.
Ich ließ sie in einen schmalen hölzernen Sarg legen,
welchen die Nachgrabungen im Boden der Wüste an einer Stelle
der memphitischen Totenstadt neben Dutzenden anderer zu Tage
gefördert hatten. Mein Bruder legte die seltsame Last quer vor
sich auf seinen von ihm bestiegenen Esel, und so erreichten
wir nach zweistündigem Ritte, wenige Minuten vor Abgang des
Zuges nach Kairo, die Eisenbahnstation in der Nähe des Niles.
Großes Erstaunen der Bahnbeamten über unseren toten
Begleiter, den wir als einen uralten einbalsamierten Schulzen
(Schech el-beled) des Dorfes Sakkarah bezeichneten. Da wir uns
von unserem Mitreisenden nicht zu trennen vermochten, so
fuhren wir nicht erster Klasse, sondern bestiegen mit ihm den
Gepäckwagen.
Der Zug setzte sich in Bewegung, hielt aber lange vor der
eigentlichen Endstation Dakrur im Angesicht der Kalifenstadt
Kairo an. Irgend ein Schaden an den eisernen Schienen
verhinderte jede Weiterbewegung nach dem Bahnhofe zu.
Männiglich war genötigt auszusteigen, um den weiten
halbstündigen Weg bis zum Halteplatz der Wagen zurückzulegen.
Wir Brüder packten den Holzsarg an seinen beiden Enden, um
ihn bis zur Station zu tragen. Die Sonne ging unter, der
Schweiß lief uns von der Stirn, der tote Pharao schien von
Minute zu Minute schwerer zu werden. Um die Last zu
erleichtern, ließen wir den Sarg in Stich und faßten seine
tote Majestät am Kopfende und an den Füßen. Da brach Pharao in
der Mitte durch und jeder von uns beiden nahm seine Hälfte
unter den Arm.
Nach halbstündiger Fußwanderung bestiegen wir zwei Berliner
mit dem halbierten Pharao eine Droschke. Ein neues Hindernis
trat uns am Mautgebäude unmittelbar vor der großen eisernen
Brücke von Kasr en-Nil entgegen.
»Nichts Steuerbares im Wagen?« fragte der Steuerbeamte in
arabischer Zunge.
Nein, gar nichts, mafisch!
»Aber was ist dies da?« Di-e-di und bei diesen Worten
zeigte er auf die beiden Hälften der königlichen Leiche.
– Eingepökeltes Fleisch, entgegnete ich und drückte ihm
heimlich ein Geldstück in die Hand.
»Jallah ab!« rief der Beamte dem Kutscher zu, und unser
Wagen rollte mit uns dreien über die Brücke.
Mariette schien meine Erzählung zu unterhalten, doch machte
der Anblick der Leiche des zweigeteilten Königs einen
widerlichen Eindruck auf ihn, während ihn früher eine Mumie
vollkommen gleichgiltig ließ.
»Also giebt es doch beschriebene Königs-Pyramiden! rief er
mit heiserer Stimme aus, ich hatte nie daran glauben wollen.«
Wenige Tage nach dem beschriebenen Ereignis trat der
fürchterlichste Todeskampf bei meinem armen Freunde ein, bis
er endlich am 17. Januar 1880 von dieser Welt für immer
Abschied nahm.
Geboren am 12. Februar 1821 in Boulogne-sur-mer, starb er
in seinem sechzigsten Lebensjahre infolge der Zuckerkrankheit,
welche ihn die ganze zweite Hälfte seiner irdischen
Wanderschaft unsäglich gequält hatte. Sein starker Körper
leistete bis zum letzten Augenblick den kräftigsten
Widerstand, aber die seelischen Leiden in den letzten Jahren
seines Lebens hatten sein Nervensystem erschüttert, dadurch
die Entwickelung der heimtückischen Krankheit beschleunigt und
seine Auflösung herbeigeführt. Von elf Kindern waren ihm
sieben in der Blüte ihres Daseins durch den Tod entrissen
worden, zuletzt noch, ein Jahr vor seinem Abscheiden, ein
geliebter hoffnungsreicher Sohn, der eben im Begriff stand,
sich einem ehrenvollen Berufe zu widmen.
Der Tod Mariettes war für die in Kairo anwesenden Franzosen
das Zeichen, sein am nächsten Tage stattfindendes Begräbnis in
auffälligster Weise auf das feierlichste zu begehen. Die
gesamte Bevölkerung der Stadt, Einheimische und Fremde,
sollten es erfahren, daß Frankreich entschlossen sei, die
altägyptische Erbschaft des Museums anzutreten und den leer
gewordenen Platz des Leiters der Museen und der Ausgrabungen
keinem Ausländer einzuräumen. Schon am Todestage Mariettes war
sein Nachfolger, Prof. Maspero, französischer Unterthan,
jedoch von italienischer Abkunft, in Ägypten eingetroffen, um
sich an die Spitze der Verwaltung der »Antika« zu stellen.
Die ägyptische Regierung und der Khedive ließen sich
einschüchtern, und meine eigene Person, welche nach der
Meinung und dem Ausspruche des Vizekönigs selber allein die
Anwartschaft auf die Nachfolge besaß, wurde aus dem einzigen
Grunde zurückgedrängt, weil ich die Ehre hatte ein Deutscher
zu sein und der großen Nation nur als solcher zu mißfallen.
Lesseps Meinung darüber habe ich bereits oben in ihrer
wörtlichen Fassung mitgeteilt.
Ich nahm an dem Begräbnis teil, begleitete abseits gehend
die Leiche Mariettes vom Museum aus nach der katholischen
Kirche, von allen Franzosen mit scheelen Augen angesehen,
selbst von denen, die in den Zeiten der Ausstellungen zu
meinen Beamten gehörten und von mir mit Wohlthaten
überschüttet worden waren. Ich gönnte ihnen den kleinen
nationalen Triumph und gedachte mit Wehmut der dreißigjährigen
treuen Freundschaft, welche mich mit dem Verstorbenen
verbunden hatte. In mehr als tausend seiner Briefe, die er an
mich gerichtet hatte, spiegelte sich sein Herz ab, das voll
und ganz für mich schlug und das er in rührendster Weise so
oft vor mir ausgeschüttet hatte, um seine Seelenqualen zu
schildern und seine Hilferufe an mich zu richten. Und ich
hatte ihn niemals in seinen Hoffnungen betrogen, denn ich
blieb allzeit le Prussien de son coeur, wie er mich mündlich
und schriftlich am liebsten zu bezeichnen pflegte. Friede
seiner Asche!