Vorrede an die jungen Leser
Götzendienst! Gewiß habt ihr schon davon gehört. Gewiß
kennt ihr auch aus dem Museum die fratzenhaften Gestalten, die
sich die armen Wilden in ihre Tempel stellen, und denen sie
mit größter Ehrfurcht nahen; sie knien davor nieder und beten
sie an, sie suchen sie gnädig zu stimmen durch ein Opfer, sie
bringen ihnen dampfende Speisen, die freilich der Tempeldiener
nachher wegholt und anderweitig verwendet, und sie bitten sie
um Hilfe in der Gefahr. Wie kann es nur Menschen in den Sinn
kommen, Puppen von Holz oder Stein göttlich zu verehren? Wie
können sie nur auf den Gedanken kommen, diese in bunte Lappen
gewickelten Fratzen könnten ihnen helfen, ja könnten ihnen
noch da helfen, wo menschliche Hilfe vollkommen unmöglich ist?
Puppen sollen das Wetter machen können, sollen den durstenden
Feldern Regen schicken und den Blitz vom Hause abwehren
können! Puppen, die man in der Schlacht voranträgt, sollen die
feindlichen Pfeile in Verwirrung bringen, sollen die Herzen
der Feinde erzittern machen, sollen Krankheit und Unruhen im
feindlichen Lager anstiften können! Verwundert schütteln wir
den Kopf über solche Kindereien, über solchen Aberglauben. Wir
wissen längst, daß sich die Natur nicht durch den Glauben und
durch fromme Wünsche besiegen läßt, daß der Feind nur durch
stärkere Waffen, durch geübte Truppen und durch mutiges
Draufgehen in die Flucht geschlagen werden kann. Wir wissen,
daß das Wetter von Naturkräften gemacht wird, die sich nicht
kommandieren lassen, wissen, daß Sonnenschein und Regen nicht
kommen und gehen, wie wir wollen, sondern wie sie wollen. Wir
denken, daß es den Menschen wohl noch einmal gelingen wird,
auf die Kräfte, die das Wetter machen, ein wenig Einfluß zu
gewinnen; wir sind aber zufrieden, wenn uns heute annähernd
vorausgesagt werden kann, was der morgige Tag bringen wird:
Sturm oder Stille, Niederschläge oder Trockenheit. Und diese
Götzen können alles – sie sind Wettermacher, Krieger, Ärzte,
Propheten und Künstler in einer Person! Wie ist nur solcher
Aberglaube in die Menschheit eingedrungen und hat sich dort so
hartnäckig festgesetzt? Denn so leicht lassen sich die Wilden
ihren Glauben nicht ausreden. Tritt zufällig das gewünschte
Ereignis ein, so ist das natürlich der übermenschlichen Kraft
ihres Götzen zu verdanken; tritt das Ereignis nicht ein, so
ist der Götze seinem Stamme – nicht gnädig gesinnt; daß er
zaubern kann, hat er ja in tausend Fällen bewiesen; er kann
ihnen wohl helfen, er will es nur nicht! So bewegen sich ihre
Gedanken immer im Kreise herum, und alle unsere Überredung und
Belehrung ist einfach in den Wind gesprochen. Und überall bei
den Wilden ist der Wunderglaube verbreitet; ja er findet sich
auch noch bei den Völkern, die bereits durch ihre
Einrichtungen und Erfindungen bewiesen haben, daß sie die Wege
kennen, die einzig und allein zu Wundern führen, die durch
Fleiß, Geschicklichkeit und Ausdauer Dinge geschaffen haben,
die das Staunen der Nachbarvölker erregen, die diesen einfach
als Zauber- oder Wunderdinge erscheinen müssen. Auch bei
klugen und mächtigen Völkern findet sich noch Wunderglaube.
Ich glaube, er findet sich auch noch bei uns. Wie ist nur der
Wunderglaube in die Menschheit hineingeraten?
Ein wenig finden wir diese schwierige Frage in der
vorliegenden Erzählung von einer Pilgerfahrt nach Mekka
beantwortet. Mekka bildet den Mittelpunkt und das größte
Heiligtum für alle die vielen Millionen Menschen, die an
Mohammed und an seine Lehre glauben. An einen Götzen glauben
sie nicht mehr, sie glauben an einen Gott. Gott ist für sie
eine Person, die allmächtig und allgegenwärtig ist, die die
ganze Welt geschaffen hat und täglich und stündlich neue Wesen
ins Leben ruft, die hoch über den Wolken in einer Wunderwelt
thront, die aber auch in der kleinsten Hütte wohnt, und die
jedes Wort kennt, ganz einerlei, ob es schon gesprochen ist
oder noch in Gedanken verborgen ruht. Jede Religion ist zuerst
einmal eine große Erkenntnis gewesen, ein plötzliches,
gewaltsames, herrliches Verstehen dessen, was in der Natur und
im Menschenherzen vor sich geht. Dieser gewaltige Gott, von
dem man sich kein Bild machen kann und machen darf, gehorcht
nicht wie ein Götze den Launen der Menschen, die heute gutes
Wetter und morgen eine Schlacht und übermorgen einen anderen
kleinen Vorteil mit seiner Hilfe erringen möchten. Er regiert
die Welt nach ewigem Plan, und da gehen die Dinge ihren
großen, ruhigen Gang, nicht wie der Einzelne möchte, sondern
wie es der ganzen Menschheit letzten Endes zum Besten dient.
Und was sind die Wünsche von heute und morgen, wenn es sich um
das Glück deines ganzen Lebens handelt?! Jede glückliche
Stunde deines Lebens, jeden Sonnenstrahl und leisen Windhauch
dankst du dem allmächtigen Gott; aber er schickt dir auch
bittere Leiden, Schmerzen und Krankheiten, um dich zu prüfen,
und er lohnt dir dein treues Ausharren durch endliche ewige
Seligkeit. Wie natürlich ist dieser Glaube; das ganze Leben
stellt er unter die Gesetzmäßigkeit der Natur, nur der Tod
schließt noch ein Wunder ein, ein Wunder, das aber auch die
heidnischen Wunder in ihrer Gesamtheit aufwiegt! Und wie stark
macht dieser Glaube! Die ärgsten Verfolgungen machen ihn nur
immer stärker, denn – »Gott will dich ja nur prüfen!« Wie
mächtig muß aber erst eine Gemeinde von Gläubigen werden, ein
Volk von Gläubigen; kein Heidenvolk kann vor ihm bestehen
bleiben. Die Glaubensboten wandern über hohe Berge, übers
weite Meer, um die neue Lehre hinauszutragen; die große Masse
der Gläubigen folgt ihnen mit dem Schwerte, um, wenn nötig,
mit blutiger Strenge die Gemeinde Gottes zu vergrößern. So ist
auch der Islam, die Religion der Mohammedaner, siegreich von
Land zu Land vorgedrungen, um überall den Götzenglauben
auszurotten, die Altäre zu stürzen und die heidnischen Tempel
zu verbrennen, um überall Menschen zu erziehen, die Gutes tun,
nicht um von heute bis morgen Vorteil dadurch zu gewinnen,
sondern im Hinblick auf die letzte große Belohnung, die Gott
den Gläubigen zuwenden wird. Fast scheint es schon, als übten
diese Menschen das Gute um des Guten willen. Sie fühlen sich
glücklich in der Gemeinschaft der Gläubigen, bauen herrliche
Versammlungshäuser, die gegen den Alltag abschließen und schon
beim Eintritt Andacht erwecken, und die Freude an den
Erscheinungen in der Natur und in der Geschichte der
Menschheit, die sie alle als Werke Gottes erkannt haben, führt
sie zur Kunst und Wissenschaft. Aber dann beginnt auch sachte,
sachte wieder der Wunderglaube. Wo kann man diesen
allmächtigen Gott verehren? Sicher überall, denn er ist ja
allgegenwärtig. Wo kann man ihn am besten verehren? Da, wo er
zuerst geschaut wurde, wo er sich zuerst offenbarte, an der
Wiege oder am Grabe des Propheten. Auch das ist so sicher, daß
es keines besonderen Beweises bedarf. Wenigstens einmal im
Leben sollte mithin jeder Gläubige zum Grabe des Propheten
wallfahrten, einmal auch so Gott von Angesicht zu Angesicht
schauen, wie es der heilige Stifter der Religion tat. Dann ist
dem Gläubigen der höchste Lohn sicher, dann mag ihm auch
manche böse Tat verziehen sein. So finden wir denn die
Gläubigen in gewaltiger Ansammlung auf Pilgerfahrten zum
Zentralheiligtum ihrer Religion. Auf solchen Pilgerfahrten
aber findet der Wunderglaube tausendfältige Nahrung, hier
wächst er riesengroß. Da treffen sich die Gläubigen aus allen
Provinzen ihres großen Reiches; aller Augen sind auf das
ferne, glänzende Ziel gerichtet, alle Erwartungen sind auf das
höchste gespannt. Schon gehen von Mund zu Mund die Berichte
der Wunderdinge, die dort an heiliger Stätte geschehen sein
sollen: Krankheiten sind geheilt worden, Unglück ist
abgewendet worden. Die Anstrengungen der Reise machen die
Aufregung, die alle Pilger angesteckt hat, noch größer. Gott
will es, daß wir leiden, ehe wir selig werden; darum vorwärts,
verachtet die Schmerzen! Einer versucht es dem andern in der
Überwindung von Leiden zuvor zu tun; ein allgemeiner Wetteifer
entsteht, zu dursten, zu hungern, sich zu peinigen, und reißt
alle Bedächtigen und Zweifler mit sich fort. Endlich ist der
große Augenblick erschienen.
»Es war die erste Tagesdämmerung,« so wird in diesem Buche
erzählt, »jene Zeit, welche nicht mehr Nacht und noch nicht
Tag ist, jene Zeit, in der man nicht einen weißen Faden von
einem schwarzen soll unterscheiden können. Dieses matte,
rosige Licht dauerte vielleicht nur eine Minute. Aber diese
Minute genügte uns, um auf dem zarten, mattgefärbten
Himmelsrande eine graue Masse mit undeutlichen Umrissen sich
abzeichnen zu sehen. Beim Anblick dieser grauen Masse brach
auf einmal ein fürchterlicher, unaussprechlicher Jubel aus
allen Kehlen los. Ein tausendfaches »Labik« begrüßte die
Erscheinung. Mekka, die neunmal heilige Stadt, Mekka, in dem
jeder Stein heilig ist, Mekka, in dem die Kaaba liegt, die
Kaaba, das Heiligste auf Erden, die Wiege des Islam, die feste
Burg Gottes auf Erden, Mekka war es, das aus allen Kehlen mit
donnernden Rufen begrüßt wurde. Eine Begeisterung, wie ich sie
noch nie in meinem Leben gesehen hatte, gab sich kund. Viele
Pilger warfen sich auf die Erde nieder, streckten die Arme
sehnsüchtig nach der schwarzen Häusermasse aus oder bedeckten
den Wüstensand mit brünftigen Küssen. Die meisten weinten,
schluchzten oder seufzten in lauten, gellenden Tönen.«
Aber auch die Ankunft an der heiligen Stätte läßt keine
Ernüchterung aufkommen. Schon der Gedanke, an der Stätte zu
weilen, vor dem Stein zu knien, vor dem Tausende vor dir
gekniet haben, zu dem Millionen von Herzen täglich beten, hat
etwas Verwirrendes an sich. Dazu kommt die riesige Ansammlung
von Menschen, die hier für wenige Tage aus allen Richtungen
zusammenfluten. Und aufs neue verstärkt sich die Aufregung,
denn nun gilt es, eine Menge von religiösen Übungen
auszuführen, wenn nicht die ganze Pilgerfahrt vergeblich sein
soll. Und die Begeisterung der Masse reißt alle Vernunft wie
in einem wilden Strom mit sich fort. In einem solchen Schwärm
wütender, entzückter Menschen ist der einzelne fähig, Hunger
und Durst zu vergessen, Frost und Hitze zu verachten und
körperliche Leistungen zu vollbringen, über die man sich
später, in Zeiten ruhiger Besinnung, einfach – wundert. Da
kann auch wohl der übermächtig sich fühlende Wille im Menschen
seiner Krankheit Herr werden. Solche Heilungen, die sich oft
auf den Pilgerfahrten ereigneten, sind gewiß Wunder, aber sie
sind – natürliche Wunder. – So sind ja auch alle großen Taten
zustande gekommen, alle Eroberungen, Entdeckungen und
Erfindungen: tausend Schwierigkeiten waren zu überwinden,
tausendmal verzagte der Mensch, aber immer wieder trieb ihn
der Gedanke vorwärts, der Gedanke an den Sieg, an den Ruhm, an
das Glück! – Mit welchen Erinnerungen werden die Pilger in
ihre Heimat zurückkehren! Wie wird sich dort alles, was sie an
der heiligen Stätte schauten, verklären und vergolden! Und wie
leicht können sich nun die wunderbaren Vorfälle, die dort
schon das Entzücken der Pilger bildeten, in der Heimat ins
Fabelhafte und Übernatürliche vergrößern, um nun wieder die
Sehnsucht und das Verlangen, die heiligen Stätten zu betreten,
in Tausenden ihrer Brüder lebendig zu machen!
Aber diese gewaltige Aufregung und Begeisterung ist nicht
von Dauer. Sie kommt und geht; sie steigt an wie die
Meeresflut, und sie fließt wieder zurück und macht einer
großen Ernüchterung Raum. Die Menschheit erwacht aus einem
glühend schönen Traum und findet sich im grauen Alltag wieder,
im Alltag, der keine Wunderdinge verschenkt, der nur Treue,
Fleiß und Ausdauer belohnt und auf ganz andere Weise zu
Wundertaten führt – nicht durch gewaltsame Anstrengungen und
unerhörte Selbstpeinigungen, sondern durch treue Beobachtung
der Naturgesetze, durch fleißige Umschau bei den Meistern, und
durch unermüdliches Probieren und Studieren.
Der Islam, der nicht mehr in diese Welt paßt, wird alt.
Seine Reiche zerfallen. Seine Kirchen sinken in Schutt und
Trümmer. Seine Gläubigen werden müde, verzagt und
gleichgültig. Sie träumen den alten Traum weiter, und auch der
dumpfe Fall der Kirchenmauern kann sie nicht aufrütteln. Gott
hat es so gewollt! »Ihr Leben war so kurz berechnet.« –
Und andere Völker übernehmen nun die Führung. Und nun fängt
unter den Ruinen der Götzendienst leise wieder an. Die Leute
verstehen die Pilgerfahrt nicht mehr; eine große Versammlung
sollte sie sein, in der die Gläubigen aller Länder sich ihre
Freuden, ihre Hoffnungen, ihre Erfahrungen mitteilen, um
gestärkt im Glauben wieder zurückzukehren. Die Nachkommen
wissen nichts von einer solchen Vereinigung und Verbrüderung
der Gläubigen; sie sehen nur noch die toten Dinge, vor denen
die Heilungen und Wunder passierten. Und solcher Heiligtümer
gibt es bald eine ganze Menge. Da ist die heilige Kirche, die
unzerstörbar ist und die Herzen aller Gläubigen wie ein Magnet
anzieht. Da ist in einer der Wände der Kirche der schwarze
Stein, der Mittelpunkt des ganzen Reiches, der ein Engel ist
und seit der Erschaffung der Welt hier ruht. Da ist der
heilige Brunnen, der sich niemals entleert und wenn Millionen
daraus trinken, und dessen Wasser alle Krankheiten heilt. Da
sind noch viele, viele Heiligtümer, die angebetet werden und
von denen sich eine heilkräftige und wunderbare Wirkung
erhoffen läßt. Man muß aber auch in der rechten Weise vor
diesen heiligen Gegenständen seine Andacht verrichten, denn
sonst helfen sie nicht; ein einziges falsches Wort kann alles
verderben. Darum ist es gut, daß sich Gehilfen finden, die den
Pilger in den vielen Irrwegen eines solchen Gottesdienstes
zurechtweisen. Wer aber alle Worte richtig gesprochen und alle
vorgeschriebenen Handlungen ausgeführt hat, dem wird auch die
große Belohnung nach dem Tode zuteil. Man muß nur warten
können! Und die größten Tugenden werden nun Geduld und
Ergebenheit in den Willen Gottes, der doch das Leben der
Menschen schon im voraus bis ins kleinste fest bestimmt hat!
Was kümmern diese Glücklichen noch die kleinen Obliegenheiten
und Geschäfte des Tages: So lange sich noch Essen und Trinken
findet und ein leidliches Gewand, und so lange das Dach nicht
einstürzt, so lange können sie sich dem ungestörten Traum von
der späteren Glückseligkeit hingeben. Und die Völker, die für
einige Jahrhunderte durch die feurige Kraft des neuen Glaubens
lebendig geworden waren, versinken wieder in den alten
Dämmerzustand, sind wieder heidnisch, treiben Götzendienst.
So mag auch in dem Götzendienst der armen Wilden einmal
Sinn und Vernunft gewesen sein. Die fratzenhaften Gestalten
sind vielleicht Abbilder des großen, schon längst verstorbenen
Urvaters und Gründers der Gemeinde, dessen Anordnungen, Taten
und Worte noch immer in aller Munde sind, dessen »Geist« noch
jetzt im Dorfe umgeht. Oder sie sind die erdichteten Figuren
der großen Naturkräfte, von deren Spiel und Gunst alles
abhängt, der Sonne, des Meeres, der fruchtbaren Mutter Erde.
So wird auch im Götzendienst im tiefsten Grunde ein schöner
Sinn gelegen, ein Morgenrot der Erkenntnis geleuchtet haben;
aber über die Nachkommen sank die Dämmerung des Kinderglaubens
herab, und der Gottesdienst endigte in einem Possenspiel.
Gewiß, dieser kindische Aberglaube fordert unseren Spott
heraus, und unser trefflicher Erzähler läßt es nicht daran
fehlen. Aber wenn wir recht auf den Grund dieser Verirrungen
sehen, so finden wir, daß doch überall dieselben Hoffnungen
und dieselben Zweifel das menschliche Herz bewegen, bei den
Wilden so gut wie bei den Menschen unserer Heimat. Und dann
lernen wir auch den Götzendienst verstehen. Und alles
verstehen heißt – alles verzeihen!
Bremen 1909
Fritz Gansberg