Mensch u. Glaube

Mensch und Glaube

Ayatollah Morteza Motahhari

Inhaltsverzeichnis

Nachweis der menschlichen Vorzüge

Die weit reichenden Beobachtungen des Menschen bezüglich der Welt resultieren aus den gesamten Menschheitsbemühungen und wurden im Laufe der aufeinander folgenden Jahrhunderte und Epochen ergänzt und vervollständigt. Diese Erkenntnisse, die unter Anwendung bestimmter Regeln, Gesetze und mit Logik geordnet wurden, erhielten die Bezeichnung “Wissenschaft“. Wissenschaft im allgemeinen Sinne ist die Summe der menschlichen Überlegungen und Erkenntnisse hinsichtlich der Welt, einschließlich der Philosophie sowie deren methodische Weiterentwicklung. Sie ist das Ergebnis aller menschlichen Bemühungen und in einer speziellen, logischen Ordnung aufgebaut.

Die hohen geistigen Neigungen des Menschen entwickelten sich aus seinem Glauben, seiner Überzeugung und seinem Interesse für bestimmte Wahrheiten dieses Universums, die sich nicht auf das Individuum beschränken und von allgemeiner, umfassender Art und jenseits der Materie zu finden sind; mit anderen Worten, Wahrheiten, die nicht materieller und nicht gewinnbringender Art sind.

Derartige Glaubessüberzeugungen und Interessen sind auf ihre Weise aus einigen Weltanschauungen und Welterkenntnissen entstanden, welche die göttlichen Propheten (a.[1]) der Menschheit brachten oder aber durch bestimmte Denkvorstellungen mancher Philosophen, die den Glauben erklären und beschreiben wollten. Jedenfalls werden dann, wenn die hohen, ideellen, den tierischen weit überlegenen Neigungen des Menschen geistig begründet sind und auf einer Überzeugung beruhen, diese als Glauben[2] bezeichnet. Somit kommen wir zu dem Ergebnis, dass der wesentliche und grundsätzliche Unterschied des Menschen gegenüber anderen Lebewesen, welcher das Kriterium für seine Menschlichkeit darstellt und mit dem sein Menschsein eng verknüpft ist, letztendlich in Wissenschaft und Glauben besteht.

Über die Vorzüge des Menschen gegenüber anderen Lebewesen ist viel gesprochen worden. Einige verleugnen die Privilegien der menschlichen Gattung gegenüber den anderen Arten. Die Differenz, die im Wissen und der Kenntnis des Menschen zu den Tieren liegt, betrachten sie als einen quantitativen, höchstenfalls qualitativen Unterschied, nicht aber als charakteristisch. All das Bewundernswerte, Bedeutsame, Hervorragende, dass das Interesse der großen Philosophen des Ostens und Westens stark angezogen hat bezüglich der Erkenntnisse über die menschliche Natur, hat bei dieser Gruppe keine große Bedeutung gefunden. Für sie ist der Mensch, auch aus Sicht seiner Wünsche und Verlangen, ein Tier feinster Präzision, aber prinzipiell ohne den geringsten Unterschied.[3]

Einige andere unterscheiden die Art und Weise des “Lebendigseins“, das heißt, sie sind davon überzeugt, dass ausschließlich der Mensch ein Geschöpf voller Leben ist, die anderen Tiere dagegen keine Empfindungen, Wünsche, keine Schmerzen und kein Vergnügen haben, wie leblose Maschinen, die Lebewesen ähneln. Nur der Mensch sei das einzige vorhandene Lebewesen. Genau definiert heißt das demnach, dass er ein lebendiges Geschöpf sei.[4] Andere Gelehrte, die im Menschen nicht das einzige Lebewesen der Welt sehen, akzeptieren die grundlegenden Vorzüge zwischen ihm und den anderen Tieren.

Letztendlich aber hat jeder der Gelehrten seine Aufmerksamkeit auf eine der Besonderheiten und Privilegien des Menschen gerichtet. Und aus diesem Grunde ist der Mensch unterschiedlich definiert und beschrieben worden wie: Ein sprechendes Tier, überlegend, voll endloser Erwartungen, voll sehnsüchtiger Wünsche, auf der Suche nach Wertvollem, ein Tier, außerhalb des Normbereiches, unermüdlich, unersättlich, mit Verantwortungs- und Pflichtgefühl, in die Zukunft blickend, frei und unabhängig, rebellisch, eine soziale Ordnung anstrebend, die Schönheit liebend, die Gerechtigkeit liebend, widersprüchlich, liebevoll, Besitz ergreifend und individualistisch, kreativ und konstruktiv, einmalig, erregbar, eine Meinung vertretend, handwerklich, auf der Suche nach dem Jenseits, voller Phantasie und Schwärmerei, ausgezeichnet, geistvoll, ein Festungstor der Ideale, usw. usf..

Es ist offensichtlich, dass jeder einzelne dieser Aspekte an seinem geeigneten Platze richtig ist. Doch wenn wir eine Erklärung für die gesamten Hauptunterschiede zwischen Mensch und Tier erbringen wollen, ist es angebracht, dass wir uns an Wissenschaft und Religion erinnern und sagen: Der Mensch ist ein Tier, welches durch zwei Privilegien, Wissenschaft und Glauben, den anderen Tieren gegenüber im Vorteil ist.

[1] Abkürzung für „alaihi salam“ oder „alaiha salam“: Der Friede sei mit ihm/ihr. Sie wird verwendet für die Reinen der Prophetenfamilie (Ahl-ul-Bait) und alle Propheten.

[2] Glauben im Sinn von “überzeugtem Wissen“ und nicht im Sinn von “nicht Wissen“.

[3] Typischer Vertreter dieser Ansicht war z.B. Thomas Hobbes (1588-1679).

[4] Diese Ansicht wurde prinzipiell u.a. von René Descartes (1596-1650) vertreten.

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de