Mensch u. Glaube

Mensch und Glaube

Ayatollah Morteza Motahhari

Inhaltsverzeichnis

Die Formen der Ideologie

Wir unterscheiden zwei Ideologieformen, eine menschheitsorientierte und eine gruppenorientierte:

Unter “menschheitsorientierten“ Ideologien sind diejenigen zu verstehen, die das gesamte Menschengeschlecht ansprechen, nicht nur einen Volksstamm, eine Rasse oder eine bestimmte Klasse, und deren Absicht darin besteht, die Menschheit zu befreien, nicht nur eine Gruppe oder eine besondere Schicht. In dem Konzept, das sie anbieten, sind alle Menschen einbegriffen, nicht nur eine spezielle Gruppe. Sie finden Befürworter und Verfechter in allen Schichten, Gruppen, Nationen und Klassen, nicht nur in einer besonderen. Hierzu entgegengesetzt wendet sich die gruppenorientierte Ideologie einer speziellen Gruppe, Klasse oder Schicht zu, deren Befreiung oder Macht und Überlegenheit ihr Hauptanliegen ist. So richtet sie sich lediglich an diese, ihr Programm gilt ausschließlich ihr, sie wird aber auch nur von ihr verteidigt und verfochten.

Jede dieser beiden Ideologieformen fußt auf einer speziellen Auffassung über den Menschen. Eine allgemeine und menschliche Ideologie, wie es die islamische Lehre ist, stützt sich auf die Kenntnisse, die die Schöpfung sichtbar macht. Aus islamischer Sicht hat der Mensch im Verlaufe seiner Erschaffung, bevor er von geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst wurde, ein besonders hohes Ausmaß an Individualität erworben. Zudem sind ihm außerordentliche Fähigkeiten gegeben worden, die ihn vor dem Tier auszeichnen und ihm Identität geben.

Gemäß dieser Auffassung sind dem Menschen im Schöpfungsprozess Verstand und Gewissen, die spezifisch sind für sein Geschlecht, zuteil geworden, die in allen Menschen veranlagt sind. Und dieses angeborene Gewissen hat ihm die Eignung zur Differenzierung und die Fähigkeit gegeben, auf eine Aufforderung zu reagieren, ansprechbar, interessiert und motivierbar zu sein. Diese Ideologien laden ein, indem sie sich motivierend auf das naturgemäße und jenes, das menschliche Geschlecht auszeichnende, Gewissen berufen und Aktivität erwecken.

Doch es gibt auch Ideologien, die eine andere Ansicht bezüglich dem Menschen vertreten. Ihrer Meinung nach besitzt der Mensch von seiner Natur her nicht die Eignung, auf eine Aufforderung zu reagieren, ansprechbar zu sein, sondern er ist stumpf und ohne Antrieb. Dieser Auffassung nach werden Verstand, Gewissen und Interessen des Menschen durch historische Geschehnisse, die sich im Leben eines Volkes oder Stammes ereignen oder aber infolge gesellschaftlicher Ursachen, die die soziale Schicht des Menschen betreffen, bestimmt. Der Mensch selbst, abgesehen von historischen oder gesellschaftlichen Beeinflussung, hat keinen Verstand, kein Gewissen und ist seiner Veranlagung nach nicht in der Lage, sich einer Auforderung oder Anstrengung gegenüber aufgeschlossen zu zeigen sondern er ist ein abstraktes Geschöpf ohne eigene Identität. Auf einer solchen Meinung des Menschen basieren letztendlich der Marxismus sowie die Volks- und Sippenphilosophien, die hervorgegangen sind aus Klassenvorteilsdenken, aus National- und Rassengefühl und höchstens noch aus einer Volkskultur.

Ohne Zweifel gehört die islamische Ideologie der ersten Gruppe an und stützt sich auf das Naturell des Menschen. Demzufolge wendet sich der Islam an “al-Nass“[1] (die Menschheit allgemein), nicht nur an eine bestimmte Klasse oder Gruppe. Der Islam hat in der Tat Befürworter und Verfechter in allen Kreisen, sogar in Schichten, gegen die er sich zum Kampfe gerüstet hat, nämlich die, welche im Überfluss und in “Saus und Braus“ leben, also die Verschwender, um sie mit dem Ausdruck des Heiligen Qur´an zu bezeichnen. Das Gewinnen von Mitstreitern aus Schichten zum Widerstand gegen diese, aus Gruppen zu deren Nachteil, sogar das Aufmuntern einer Person gegen ihre eigene verbrecherische Natur, gehört zu den Dingen, die der Islam im Verlaufe der Geschichte sehr häufig vollbracht hat und noch vollbringt. Aufgrund dessen, dass der Islam eine Religion ist und bis in das tiefste Innere des Menschen einzudringen vermag und andererseits durch die menschliche Natur unterstützt wird, ist er fähig jemanden gegen dessen eigenes “üble Ich“ zu motivieren und anzutreiben, was dann “Reue“ bedeutet.

Die revolutionäre Kraft der Gruppen- und Klassenideologien erreicht nur den Widerstand einer Person gegen eine andere oder den einer Schicht gegen eine andere. Aber sie ist keinesfalls in der Lage, einen Menschen zur Revolution gegen sein “eigenes Ich“ anzuregen, ebenso wenig, wie sie fähig wäre, in das Innere des Menschen einzudringen und dieses Innere in seine eigene Gewalt bringen könnte. Da der Islam eine Religion ist und dazu die letzte und besiegelnde aller himmlischen Lehren, ist er mehr als alle anderen dazu geeignet, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Es ist selbstverständlich, dass die Befreiung der Entrechteten und Unterdrückten und der Kampf und Widerstand gegen die Tyrannen sein Hauptanliegen und Ziel sind, jedoch spricht der Islam nicht nur die Entrechteten und Entbehrenden an. Abgesehen davon, dass er seine Anhänger in dieser Schicht gefunden hat, gewann er sie laut geschichtlichem Zeugnis auch in den Klassen, die er bekämpft, gestützt durch die Kraft des Glaubens und die natürliche Veranlagung des Menschen.

Der Islam verkörpert die Theorie des Sieges der Menschheit über die tierische Kreatur, der Kenntnis über die Unwissenheit, der Gerechtigkeit über die Tyrannei, der Gleichheit über die Diskriminierung, der Tugend über die Schande, der Frömmigkeit über die Ungezügeltheit, des Glaubens an einen einzigen Gott über den Glauben an Götzen. Der Sieg der Unterdrückten über Tyrannei und Hochmut sind unter anderem Verkörperung und Beweis für all diese Erfolge.

In Fortsetzung dieses Themas müssen wir uns die Frage stellen, ob die menschliche Kultur einheitlich geprägt ist oder ob es keine einheitliche Kultur gibt, sondern nur eine, die verschiedene Gruppen, nationale- und klassenspezifische Charakterzüge trägt. Sind es Kulturen oder eine Kultur, mit der wir es derzeit oder in Zukunft zu tun haben? Dieses Thema steht in direkter Verbindung zu der Frage, ob das Menschengeschlecht eine gleich geartete und echte Wesensveranlagung besitzt, und wenn ja, ob diese der menschlichen Kultur Einheitlichkeit gibt. Oder aber ist eine derartige Wesensgleichheit nicht vorhanden?

Sind verschiedenerlei Kulturen durch historische, nationale und geographische Ursachen entstanden oder aber aus nach Gewinn trachtendem Klasseninteresse? Aufgrund dessen, dass der Islam weltanschaulich von einer gemeinsamen, gleichartigen Veranlagung des Menschen überzeugt ist, befürwortet er auch demzufolge eine einheitliche Kultur und Ideologie.

Es ist offensichtlich, dass nur eine die Menschheit umfassende Ideologie, nicht aber eine gruppenorientierte, nur eine Ideologie der Gleichheit, nicht aber eine, die auf der Einteilung von Klassen der Menschen begründet ist, nur eine an der menschlichen Wesensart orientierte, nicht aber eine profitbedachte Ideologie den menschlichen Werten zugrunde liegen kann und nur solch eine Ideologie die menschlichen Charaktermerkmale trägt.

Folgende Fragen sind dabei zu berücksichtigen: Ist jede Ideologie abhängig von Zeit und Ort? Ist der Mensch dazu verurteilt, aufgrund jeder zeitlich veränderten Situation und der unterschiedlichen milieu- und ortsbedingten Umstände, jeweils einer separaten Ideologie anzugehören? Sind für eine Ideologie das Prinzip der Verschiedenheit (in Bezug auf Gebiet und Ort) und dass der Annullierung und der Abänderung (gemäß der Epoche) ausschlaggebend? Beruft sich die menschheitsbezogene Ideologie, ebenso wie im Hinblick auf ihre Anhängerschaft, auch im Bezug auf Zeit und Ort auf den Grundsatz der Gleichheit und nicht auf den der Ungleichheit?

Mit anderen Worten ist jene Ideologie, ebenso wie sie hinsichtlich ihres Geltungsbereichs universal ist und nicht partiell, auch in Bezug auf Zeit und Raum unbegrenzt und nicht beschränkt? Die Frage nach der zeitlichen und räumlichen Absolutheit oder Relativität einer Ideologie ist einerseits auch davon abhängig, ob ihr Impuls von der menschlichen Wesensart ausgeht und ihre Zielsetzung das Glück der Menschheit ist, oder aber ob sie auf Gruppenvorteilsdenken oder Volks- und Klassenempfinden aufgebaut ist. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Ideologie abhängig von dem ist, was wir unter der Modalität sozialer Evolutionen verstehen. Wenn eine Gesellschaft sich verändert, eine Epoche verlässt und einen neuen Zeitabschnitt beginnt, verändert sich damit auch gleichzeitig das Wesen der Gesellschaft, mit dem Ergebnis, dass die Gesetze, die dann geltend werden, den früheren widersprechen. Verhält es sich vergleichsweise derart, wie wir es bei dem Wasser beobachten können, dass wenn das Wasser nach einer bestimmten Zeitspanne eine gewisse Temperatur erreicht hat, es sich in Dampf umwandelt und ab jenem Zeitpunkt für das Wasser die Gesetze des Dampfes in Kraft treten und nicht mehr die der flüssigen Körper? Oder sind die gesellschaftlichen Veränderungen und Evolutionen nicht so geartet? Bleiben die wesentlichen Entwicklungsgesetze einer Gesellschaft und der Umwandlungsablauf konstant? Kann die Gesellschaft zwar ihren Wohnraum und ihre Epoche verändern, nicht aber den Verlaufsablauf und das Gesetz der Entwicklung? Verhält es sich so, wie bei den Lebewesen, die sich biologisch verändern und entwickeln, obwohl die Entwicklungsgesetze stets gleich bleiben?

Auch steht die Frage nach der zeitlichen und örtlichen Unbegrenztheit oder Begrenztheit einer Lehre in Zusammenhang zu der Art der Weltanschauung, auf der sie sich stützt. Handelt es sich dabei um eine wissenschaftliche, eine philosophische oder um eine religiöse Weltanschauung? Auf Grund dessen, dass die wissenschaftliche Ideologie auf einer unbeständigen Weltanschauung fußt, kann sie nicht dauerhaft sein im Gegensatz zu einer philosophischen Weltanschauung, die auf einem Grundprinzip und einer nicht widerlegbaren Grundwahrheit begründet ist oder der religiösen Weltanschauung, deren Fundament Offenbarung und Prophetentum sind.

So, wie wir hier nicht die Gelegenheit dazu haben, die Frage nach der Wesensveranlagung, welche das Kernthema der islamischen Bildung und Erziehung darstellt, zu erörtern, haben wir an dieser Stelle auch nicht die Zeit, die Veranlagungsprozesse der Gesellschaft eingehend zu behandeln. Doch im vierten Teil dieses Buches, in dem wir das Thema “Gesellschaft und Geschichte“[2] besprechen wollen, werden wir auch die gesellschaftlichen Entwicklungen, im Zusammenhang zur menschlichen Natur, ausführlich erörtern.

[1] Manchmal wird dieses Wort, das “Menschheit allgemein“ bedeutet, falsch interpretiert und deswegen mit “Masse der Menschen“ verwechselt, welche einen Gegensatz zur privilegierten Schicht bilde. Und da der Islam die Menschen allgemein anspricht, wird behauptet, dass der Islam die Glaubenslehre der Masse der Menschen sei, was außerdem als ein Pluspunkt für den Islam angesehen wird. Doch wir müssen wissen, dass es der Tatsache und seiner positiven Eigenschaft entspricht, dass der Islam sich wohl zum Schutze der Masse der Völker erhoben hat, obgleich er sich nicht nur an diese richtet und seine Ideologie nicht Gruppen- und Klassenorientiert ist. Und noch bemerkenswerter als das ist, dass er, abgesehen von der ausgebeuteten Schicht, durch die Berufung auf die angeborene Wesensveranlagung des Menschen bisweilen auch in der ausbeutenden, besitzenden, Macht habenden Klasse die Gewissen der Menschen zugunsten der Ausgebeuteten aufzurütteln vermag (Fußnote auch im Original vorhanden).

[2] Im Deutschen ist jener Teil ein eigenständiges Buch.

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