Die Formen der Ideologie
Wir
unterscheiden zwei Ideologieformen, eine
menschheitsorientierte und eine gruppenorientierte:
Unter “menschheitsorientierten“
Ideologien sind diejenigen zu verstehen, die das gesamte
Menschengeschlecht ansprechen, nicht nur einen Volksstamm,
eine Rasse oder eine bestimmte Klasse, und deren Absicht darin
besteht, die Menschheit zu befreien, nicht nur eine Gruppe
oder eine besondere Schicht. In dem Konzept, das sie anbieten,
sind alle Menschen einbegriffen, nicht nur eine spezielle
Gruppe. Sie finden Befürworter und Verfechter in allen
Schichten, Gruppen, Nationen und Klassen, nicht nur in einer
besonderen. Hierzu entgegengesetzt wendet sich die
gruppenorientierte Ideologie einer speziellen Gruppe, Klasse
oder Schicht zu, deren Befreiung oder Macht und Überlegenheit
ihr Hauptanliegen ist. So richtet sie sich lediglich an diese,
ihr Programm gilt ausschließlich ihr, sie wird aber auch nur
von ihr verteidigt und verfochten.
Jede dieser beiden Ideologieformen fußt
auf einer speziellen Auffassung über den Menschen. Eine
allgemeine und menschliche Ideologie, wie es die islamische
Lehre ist, stützt sich auf die Kenntnisse, die die Schöpfung
sichtbar macht. Aus islamischer Sicht hat der Mensch im
Verlaufe seiner Erschaffung, bevor er von geschichtlichen und
gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst wurde, ein besonders
hohes Ausmaß an Individualität erworben. Zudem sind ihm
außerordentliche Fähigkeiten gegeben worden, die ihn vor dem
Tier auszeichnen und ihm Identität geben.
Gemäß dieser Auffassung sind dem Menschen
im Schöpfungsprozess Verstand und Gewissen, die spezifisch
sind für sein Geschlecht, zuteil geworden, die in allen
Menschen veranlagt sind. Und dieses angeborene Gewissen hat
ihm die Eignung zur Differenzierung und die Fähigkeit gegeben,
auf eine Aufforderung zu reagieren, ansprechbar, interessiert
und motivierbar zu sein. Diese Ideologien laden ein, indem sie
sich motivierend auf das naturgemäße und jenes, das
menschliche Geschlecht auszeichnende, Gewissen berufen und
Aktivität erwecken.
Doch es gibt auch Ideologien, die eine
andere Ansicht bezüglich dem Menschen vertreten. Ihrer Meinung
nach besitzt der Mensch von seiner Natur her nicht die
Eignung, auf eine Aufforderung zu reagieren, ansprechbar zu
sein, sondern er ist stumpf und ohne Antrieb. Dieser
Auffassung nach werden Verstand, Gewissen und Interessen des
Menschen durch historische Geschehnisse, die sich im Leben
eines Volkes oder Stammes ereignen oder aber infolge
gesellschaftlicher Ursachen, die die soziale Schicht des
Menschen betreffen, bestimmt. Der Mensch selbst, abgesehen von
historischen oder gesellschaftlichen Beeinflussung, hat keinen
Verstand, kein Gewissen und ist seiner Veranlagung nach nicht
in der Lage, sich einer Auforderung oder Anstrengung gegenüber
aufgeschlossen zu zeigen sondern er ist ein abstraktes
Geschöpf ohne eigene Identität. Auf einer solchen Meinung des
Menschen basieren letztendlich der Marxismus sowie die Volks-
und Sippenphilosophien, die hervorgegangen sind aus
Klassenvorteilsdenken, aus National- und Rassengefühl und
höchstens noch aus einer Volkskultur.
Ohne Zweifel gehört die islamische
Ideologie der ersten Gruppe an und stützt sich auf das
Naturell des Menschen. Demzufolge wendet sich der Islam an
“al-Nass“
(die Menschheit allgemein), nicht nur an eine bestimmte Klasse
oder Gruppe. Der Islam hat in der Tat Befürworter und
Verfechter in allen Kreisen, sogar in Schichten, gegen die er
sich zum Kampfe gerüstet hat, nämlich die, welche im Überfluss
und in “Saus und Braus“ leben, also die Verschwender, um sie
mit dem Ausdruck des Heiligen Qur´an zu bezeichnen. Das
Gewinnen von Mitstreitern aus Schichten zum Widerstand gegen
diese, aus Gruppen zu deren Nachteil, sogar das Aufmuntern
einer Person gegen ihre eigene verbrecherische Natur, gehört
zu den Dingen, die der Islam im Verlaufe der Geschichte sehr
häufig vollbracht hat und noch vollbringt. Aufgrund dessen,
dass der Islam eine Religion ist und bis in das tiefste Innere
des Menschen einzudringen vermag und andererseits durch die
menschliche Natur unterstützt wird, ist er fähig jemanden
gegen dessen eigenes “üble Ich“ zu motivieren und anzutreiben,
was dann “Reue“ bedeutet.
Die revolutionäre Kraft der Gruppen- und
Klassenideologien erreicht nur den Widerstand einer Person
gegen eine andere oder den einer Schicht gegen eine andere.
Aber sie ist keinesfalls in der Lage, einen Menschen zur
Revolution gegen sein “eigenes Ich“ anzuregen, ebenso wenig,
wie sie fähig wäre, in das Innere des Menschen einzudringen
und dieses Innere in seine eigene Gewalt bringen könnte. Da
der Islam eine Religion ist und dazu die letzte und
besiegelnde aller himmlischen Lehren, ist er mehr als alle
anderen dazu geeignet, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Es
ist selbstverständlich, dass die Befreiung der Entrechteten
und Unterdrückten und der Kampf und Widerstand gegen die
Tyrannen sein Hauptanliegen und Ziel sind, jedoch spricht der
Islam nicht nur die Entrechteten und Entbehrenden an.
Abgesehen davon, dass er seine Anhänger in dieser Schicht
gefunden hat, gewann er sie laut geschichtlichem Zeugnis auch
in den Klassen, die er bekämpft, gestützt durch die Kraft des
Glaubens und die natürliche Veranlagung des Menschen.
Der Islam verkörpert die Theorie des
Sieges der Menschheit über die tierische Kreatur, der Kenntnis
über die Unwissenheit, der Gerechtigkeit über die Tyrannei,
der Gleichheit über die Diskriminierung, der Tugend über die
Schande, der Frömmigkeit über die Ungezügeltheit, des Glaubens
an einen einzigen Gott über den Glauben an Götzen. Der Sieg
der Unterdrückten über Tyrannei und Hochmut sind unter anderem
Verkörperung und Beweis für all diese Erfolge.
In Fortsetzung dieses Themas müssen wir
uns die Frage stellen, ob die menschliche Kultur einheitlich
geprägt ist oder ob es keine einheitliche Kultur gibt, sondern
nur eine, die verschiedene Gruppen, nationale- und
klassenspezifische Charakterzüge trägt. Sind es Kulturen oder
eine Kultur, mit der wir es derzeit oder in Zukunft zu tun
haben? Dieses Thema steht in direkter Verbindung zu der Frage,
ob das Menschengeschlecht eine gleich geartete und echte
Wesensveranlagung besitzt, und wenn ja, ob diese der
menschlichen Kultur Einheitlichkeit gibt. Oder aber ist eine
derartige Wesensgleichheit nicht vorhanden?
Sind verschiedenerlei Kulturen durch
historische, nationale und geographische Ursachen entstanden
oder aber aus nach Gewinn trachtendem Klasseninteresse?
Aufgrund dessen, dass der Islam weltanschaulich von einer
gemeinsamen, gleichartigen Veranlagung des Menschen überzeugt
ist, befürwortet er auch demzufolge eine einheitliche Kultur
und Ideologie.
Es ist offensichtlich, dass nur eine die
Menschheit umfassende Ideologie, nicht aber eine
gruppenorientierte, nur eine Ideologie der Gleichheit, nicht
aber eine, die auf der Einteilung von Klassen der Menschen
begründet ist, nur eine an der menschlichen Wesensart
orientierte, nicht aber eine profitbedachte Ideologie den
menschlichen Werten zugrunde liegen kann und nur solch eine
Ideologie die menschlichen Charaktermerkmale trägt.
Folgende Fragen sind dabei zu
berücksichtigen: Ist jede Ideologie abhängig von Zeit und Ort?
Ist der Mensch dazu verurteilt, aufgrund jeder zeitlich
veränderten Situation und der unterschiedlichen milieu- und
ortsbedingten Umstände, jeweils einer separaten Ideologie
anzugehören? Sind für eine Ideologie das Prinzip der
Verschiedenheit (in Bezug auf Gebiet und Ort) und dass der
Annullierung und der Abänderung (gemäß der Epoche)
ausschlaggebend? Beruft sich die menschheitsbezogene
Ideologie, ebenso wie im Hinblick auf ihre Anhängerschaft,
auch im Bezug auf Zeit und Ort auf den Grundsatz der
Gleichheit und nicht auf den der Ungleichheit?
Mit anderen Worten ist jene Ideologie,
ebenso wie sie hinsichtlich ihres Geltungsbereichs universal
ist und nicht partiell, auch in Bezug auf Zeit und Raum
unbegrenzt und nicht beschränkt? Die Frage nach der zeitlichen
und räumlichen Absolutheit oder Relativität einer Ideologie
ist einerseits auch davon abhängig, ob ihr Impuls von der
menschlichen Wesensart ausgeht und ihre Zielsetzung das Glück
der Menschheit ist, oder aber ob sie auf Gruppenvorteilsdenken
oder Volks- und Klassenempfinden aufgebaut ist. Andererseits
stellt sich die Frage, ob die Ideologie abhängig von dem ist,
was wir unter der Modalität sozialer Evolutionen verstehen.
Wenn eine Gesellschaft sich verändert, eine Epoche verlässt
und einen neuen Zeitabschnitt beginnt, verändert sich damit
auch gleichzeitig das Wesen der Gesellschaft, mit dem
Ergebnis, dass die Gesetze, die dann geltend werden, den
früheren widersprechen. Verhält es sich vergleichsweise
derart, wie wir es bei dem Wasser beobachten können, dass wenn
das Wasser nach einer bestimmten Zeitspanne eine gewisse
Temperatur erreicht hat, es sich in Dampf umwandelt und ab
jenem Zeitpunkt für das Wasser die Gesetze des Dampfes in
Kraft treten und nicht mehr die der flüssigen Körper? Oder
sind die gesellschaftlichen Veränderungen und Evolutionen
nicht so geartet? Bleiben die wesentlichen Entwicklungsgesetze
einer Gesellschaft und der Umwandlungsablauf konstant? Kann
die Gesellschaft zwar ihren Wohnraum und ihre Epoche
verändern, nicht aber den Verlaufsablauf und das Gesetz der
Entwicklung? Verhält es sich so, wie bei den Lebewesen, die
sich biologisch verändern und entwickeln, obwohl die
Entwicklungsgesetze stets gleich bleiben?
Auch steht die Frage nach der zeitlichen
und örtlichen Unbegrenztheit oder Begrenztheit einer Lehre in
Zusammenhang zu der Art der Weltanschauung, auf der sie sich
stützt. Handelt es sich dabei um eine wissenschaftliche, eine
philosophische oder um eine religiöse Weltanschauung? Auf
Grund dessen, dass die wissenschaftliche Ideologie auf einer
unbeständigen Weltanschauung fußt, kann sie nicht dauerhaft
sein im Gegensatz zu einer philosophischen Weltanschauung, die
auf einem Grundprinzip und einer nicht widerlegbaren
Grundwahrheit begründet ist oder der religiösen
Weltanschauung, deren Fundament Offenbarung und Prophetentum
sind.
So, wie wir hier nicht die Gelegenheit
dazu haben, die Frage nach der Wesensveranlagung, welche das
Kernthema der islamischen Bildung und Erziehung darstellt, zu
erörtern, haben wir an dieser Stelle auch nicht die Zeit, die
Veranlagungsprozesse der Gesellschaft eingehend zu behandeln.
Doch im vierten Teil dieses Buches, in dem wir das Thema
“Gesellschaft und Geschichte“
besprechen wollen, werden wir auch die gesellschaftlichen
Entwicklungen, im Zusammenhang zur menschlichen Natur,
ausführlich erörtern.