Wissenschaft und Glaube
Die Beziehung der Menschlichkeit des
Menschen zu seiner animalischen Veranlagung, mit anderen
Worten, die Verbindung seines geistigen, kulturellen Lebens zu
seinem materiellen, haben wir kennen gelernt. Es ist klar
geworden, das die Menschlichkeit des Menschen echt und
selbstständig ist und nicht ausschließliche Widerspiegelung
seines animalischen Wesens. Auch wurde offensichtlich, dass
Wissenschaft und Glauben zwei der Grundpfeiler der
Menschlichkeit des Menschen sind. Nun wollen wir sehen, welche
Beziehung diese beiden Säulen, diese beiden Aspekte der
Menschlichkeit, zueinander haben oder haben können.
Bedauerlicherweise hat sich in der
christlichen Welt durch die Einstellung mancher Abschnitte des
alten Testamentes ein Gedanke festgesetzt, der sowohl der
Wissenschaft als auch der Religion teuer zu stehen kam. Es ist
der Gedanke vom Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glauben,
dessen Ursache im alten Testament, im Buch der
Schöpfungsgeschichte, zu finden ist. Darin wird im zweiten
Kapitel, Vers 16 und 17, über Adam, das Paradies und den
verbotenen Baum sinngemäß folgendermaßen berichtet: Gott
befahl Adam: „Du sollst essen von allerlei Bäumen im
Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des
Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst,
wirst du des Todes sterben.“
In den Versen 1-8 des dritten Kapitels
heißt es: „Und die Schlange war listiger denn alle Tiere
auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu
dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen
von den Früchten der Bäume im Garten? Da sprach das Weib zu
der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott
gesagt: Esst nicht davon, rührt es auch nicht an, dass ihr
nicht sterbt. Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet
mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, dass, welches
Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und
werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das
Weib schaute an, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass
er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug
machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann
auch davon, und er aß. Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan,
und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten
Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze. Und sie
hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der
Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem
Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter die Bäume im
Garten.“
In Vers 23 des gleichen Kapitels heißt
es: „Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er
das Feld baute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus und
lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen,
hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens.“
Gemäß dieser Annahme vom Menschen, von
Gott, von der Einsicht und der Sünde, wäre es das Gebot
Gottes, dass der Mensch die Weisheit des Guten und des Bösen
nicht erreicht und nicht wissend wird, denn der verbotene Baum
ist der Baum der Erkenntnis. Durch Sünde und Ungehorsam gegen
das Gebot Gottes mit Gehorsamsverweigerung gegen die Belehrung
des religiösen Gesetzes und der Propheten erreicht der Mensch
– gemäß dieser Darstellung – die Erkenntnis und Weisheit und
wird aus diesem Grunde aus dem Paradies Gottes verwiesen.
Aufgrund dieser Feststellung sind alle Versuchungen eine
Verführung des Wissens und somit wäre der Verstand der
verführerische Satan selbst.
Wie wir Muslime es aus dem Heiligen
Qur´an gelernt haben, lehrte Gott Adam alle Dinge – alle Namen
und Wahrheiten – und gebot danach den Engeln, sich vor Adam
niederzuwerfen. Und der Teufel wurde deswegen über die
Schwelle des Paradieses vertrieben, weil er vor dem
Statthalter Gottes, der über die Wahrheiten Kenntnis hatte,
sich nicht niederwerfen wollte. Gemäß der Sunna
des Propheten Muhammad – seine gelebtes Leben des Heiligen
Qur´an – ist der verbotene Baum der Baum der Begierde,
Habsucht und dergleichen. Das heißt, der Baum symbolisiert
etwas, das sich auf die tierische Natur Adams bezieht, nicht
auf seine Menschlichkeit. Der verführerische Satan steht im
ständigen Widerspruch zum Verstand und im Einklang zu der
tierischen Selbstbegierde.
Das, was in der menschlichen Existenz als
teuflisch in Erscheinung tritt, ist die Selbstsucht, nicht der
menschliche Verstand. Für uns, die wir dies gelernt haben, ist
das, was wir im Buch der Schöpfung der Bibel lesen,
außerordentlich verwunderlich. Durch genau jene Annahme wird
die europäische Kulturgeschichte der letzten 1500 Jahre in das
Zeitalter des Glaubens und das Zeitalter der Wissenschaft
aufgespalten und bringt Wissenschaft und Glauben in
Konfrontationen zueinander. Wohingegen die islamische
Kulturgeschichte eingeteilt wird in die Blütezeit der Epoche
der Wissenschaft und des Glaubens und in das Zeitalter der
Dekadenz, in der sowohl die Wissenschaft als auch der Glauben
auf ein Irrgleis gerieten. Wir Muslime müssen uns von dieser
irreführenden Annahme, welche der Wissenschaft, dem Glauben
und der Menschheit nicht wiedergutmachende Verluste zufügte,
fernhalten und dürfen nicht blindlings die Antithese von
Wissenschaft und Glauben als unwiderlegbares Gebot annehmen.
Nun wollen wir mit einer analytischen
Betrachtung in dieses Problem eindringen und aus
wissenschaftlicher Sicht eine Diskussion anstreben:
 | Gehören wirklich diese beiden
Richtungen und Fundamente des Menschseins – Wissenschaft und
Glaube – ohne gegenseitige Beziehung einer Epoche und einem
Zeitalter an? |
 | Ist der Mensch dazu verurteilt, immer
unvollständig zu bleiben und in jedem Zeitabschnitt nur eine
Hälfte der Menschlichkeit zu besitzen – Wissenschaft oder
Glaube? |
 | Ist er immer zu einer dieser zwei
Unglücksarten verdammt; einem Unglück, das hervorgeht aus
Ahnungslosigkeit und Unwissenheit, oder einem, welches aus
Ungläubigkeit entsteht? |
Nachfolgend wird verständlich werden,
dass jeder Glaube – bewusst oder unbewusst – sich auf einen
spezifischen Gedanken und eine besondere Annahme über die Welt
und das Sein stützt und dass zweifelsohne viele der Annahmen
und Erklärungen über die Welt, so sehr sie auch die Grundlage
eines Glaubens oder eines wahren Interesses sein mögen, mit
wissenschaftlichen und logischen Prinzipien nicht zu
vereinbaren und notwendigerweise widerlegbar sind. Doch hierum
geht es nicht. Es handelt sich vielmehr darum, ob es einen
Gedankengang, eine Annahme über die Welt und eine
Interpretation über das Sein gibt, die sowohl durch
Wissenschaft, Philosophie und Logik gestützt wird, als auch
festes Fundament für einen Glück verheißenden Glauben sein
kann. Wenn klargestellt ist, dass es eine derartige Erhebung,
Überlegung und Weltanschauungen gibt, ist der Mensch nicht
mehr zu einem der beiden Ungeschicke verurteilt.
Bezüglich der Wissenschaft und des
Glaubens sind zwei Aspekte zu erörtern:
Der eine Aspekt ist: Gibt es eine
Erklärung und Annahme, welche den Glauben fördert und Wünsche
erfüllt und gleichzeitig logisch bestätigt werden kann, oder
stehen sämtliche Gedankengänge, die wir durch Wissenschaft und
Philosophie erhalten, im Widerspruch zu Neigungen, Hoffnungen
und Zuversicht? Das ist genau das Problem, über welches wir
später unter dem Thema “Weltanschauung“ sprechen wollen.
Bei dem anderen Aspekt handelt es sich um
die Beeinflussung des Menschen, einerseits durch die
Wissenschaft und andererseits durch den Glauben. Besagt die
Wissenschaft etwas, das im Widerspruch zum Glauben steht? Will
uns die Wissenschaft auf die eine Art bilden, der Glaube
jedoch auf die andere? Führt uns die Wissenschaft in die eine
Richtung, der Glaube aber in die andere? Oder aber ergänzen
und vervollkommnen Wissenschaft und Glauben einander? Formt
die Wissenschaft die eine Hälfte von uns, der Glaube die
andere, in gegenseitiger Harmonie?
Doch sehen wir uns zunächst einmal an,
was die Wissenschaft und der Glauben uns geben:
 | Die Wissenschaft schenkt uns Klarheit
und Macht, der Glaube Liebe, Hoffnung und Wärme. |
 | Die Wissenschaft bildet die Mittel,
der Glaube die Ziele. |
 | Die Wissenschaft bestimmt die
Geschwindigkeit, der Glaube die Richtung. |
 | Die Wissenschaft verleiht die
Fähigkeit, der Glaube weckt Streben nach Gutem. |
 | Die Wissenschaft beschreibt alles, was
es gibt, der Glaube offenbart, was getan werden muss. |
 | Durch die Wissenschaft erfolgt die
äußere Veränderung, durch den Glauben die innere. |
 | Die Wissenschaft gestaltet die Welt zu
einer menschlichen Welt, der Glaube formt den Geist zum
Geist der Humanität. |
 | Die Wissenschaft vermittelt dem
Menschen eine ausgedehnte Horizontale, der Glaube eine hohe
Vertikale. |
 | Die Wissenschaft formt die Umwelt, der
Glaube den Menschen. |
 | Sowohl die Wissenschaft als auch der
Glaube geben dem Menschen Stärke, doch die der Wissenschaft
ist in Bereiche aufgeteilt, wogegen die des Glaubens
unteilbar ist. |
 | Beide, Wissenschaft und Glauben sind
anziehend. Die Wissenschaft hat den Anreiz des Verstandes,
der Glaube den Liebreiz der Seele, die Wissenschaft hat die
Brillanz der Gedanken, der Glaube die Schönheit der Gefühle. |
 | Sowohl die Wissenschaft als auch der
Glaube schenken dem Menschen Sicherheit, die Wissenschaft
die äußere, der Glaube die innere. |
 | Die Wissenschaft bietet Schutz
gegenüber dem Aufkommen von Krankheiten, Überschwemmungen,
Erdbeben und Orkanen, der Glauben gegenüber Aufregungen,
Einsamkeit, Schutzlosigkeit und Sinnlosigkeiten. |
 | Die Wissenschaft versetzt die Welt in
Einklang mit dem Menschen und der Glaube den Menschen mit
sich selbst. |
Das ungeteilte Bedürfnis des Menschen
nach Wissenschaft und Glauben hat die starke Aufmerksamkeit
der religiösen wie nicht religiösen Philosophen erweckt.
Der große Gelehrte Mohammad Iqbal Lahuri
sagte:
“Heute bedarf die Menschheit dreier
Dinge: Der geistigen Erläuterung der Welt, der geistigen
Freiheit des Individuums, eines grundlegenden und
weltumfassenden Systems, welches der Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft eine geistig fundierte Richtung
gibt.“
Es besteht kein Zweifel darüber, dass das
moderne Europa ausgeklügelte und entsprechend beispielhafte
Technologien erfunden hat. Aber die Erfahrung hat gezeigt,
dass die Fakten die ausschließlich durch den Verstand erreicht
werden, nicht jenen lebendigen, überzeugenden Anreiz besitzen
können, der allein durch die individuelle Inspiration
erhältlich ist. Das ist der Grund dafür, dass das menschliche
Geschlecht durch den reinen Verstand allein nicht so sehr
beeinflusst wird wie durch die Religion, dieser ständigen,
antreibenden Kraft für die Vervollkommnung und die
Fortentwicklung der menschlichen Gesellschaft.
Das beispielgebende Europa ist während
seiner ganzen Geschichte niemals zur Entfaltung eigener
Gedanken gekommen, und daraus resultierend befindet es sich in
Selbstverirrung, auf der Suche nach sich selbst, inmitten
untereinander unvereinbarer Demokratien, die ausschließlich an
der Ausbeutung der Armen zugunsten der Mächtigen interessiert
sind. Glaubt mir: Das größte Hindernis für die Fortentwicklung
der menschlichen Ethik ist das heutige Europa.
Andererseits besitzen Muslime
entwickelte, reife Gedanken und Wünsche, die sich auf eine
Offenbarung stützen, welche, da sie durch die innerste
Lebenstiefe erklärt wird, diesen Charakter der Innerlichkeit
verleiht. Für einen Muslim ist das geistige Fundament des
Lebens eine Überzeugungsangelegenheit, und für die
Verteidigung dieser Überzeugung opfert er mit Leichtigkeit –
wenn es sein muss – sogar sein Leben.
Will Durant,
ein berühmter Schriftsteller der Kulturgeschichte, sagt,
obwohl er unreligiös ist: „Der Konflikt zwischen der alten
und der modernen, automatisierten Welt besteht nur in den
Mitteln, nicht in den Zielen. Was würdet Ihr sagen wenn all
unsere Fortschritte nur die Reform von Methoden und Mitteln
wären, nicht die Verbesserung hoher Ziele und Absichten.“
Auch sagte er: „Reichtum erzeugt Müdigkeit. Verstand
und Klugheit sind ein schwaches, kaltes Licht, aber die Liebe
erwärmt mit außerordentlicher Gerechtigkeit die Herzen.“
Heute wird größtenteils festgestellt,
dass die Wissenschaft – absolute Wissenschaft und rein
wissenschaftliche Beziehungen – unfähig ist, einen
vollständigen Menschen zu formen. Die rein wissenschaftliche
Bildung formt nur den halben Menschen, nicht den ganzen. Das
Ergebnis einer solchen Erziehung ist die rohe Materie des
Menschen, nicht ein fertiger Mensch. Sie formt einen
gewaltigen, mächtigen Menschen, keinen tugendhaften, einen
einseitigen Menschen, keinen, vielseitigen.
Heute hat man bemerkt, dass das Zeitalter
der reinen Wissenschaft sein Ende gefunden hat und die
Gesellschaft von einem Vakuum der Wünsche bedroht wird. Einige
möchten dieses Vakuum ausschließlich mit Philosophie füllen.
Andere suchen Halt in der Literatur, den Künsten und den
Humanwissenschaften, um diesen Mangel an Geist und Interesse
zu beheben.
Auch in unserem Lande
wird mehr oder weniger über den Vorschlag einer dem Menschen
zugewandten Kultur debattiert, mit einer besonderes hoch
gebildeten Literatur wie der von Maulawi,
Saadi
und Hafiz,
ungeachtet dessen, dass Geist und Anmut dieser Literatur durch
die Religion erworben wurde. Der humane Geist dieser Literatur
entspricht dem Geist der islamischen Lehre. Wenn es nicht an
dem wäre, wieso könnte sonst ein Teil der heutigen modernen
Literatur – von der behauptet wird, dass sie dem Menschen
zugeneigt sei – so kalt, seelenlos und ohne Anziehungskraft
sein?
Der humane Inhalt unserer gebildeten
Literatur geht aus einer Überlegung über die Welt und den
Menschen hervor, die genau der islamischen Gedankenrichtung
entspricht. Wenn wir diesen literarischen Meisterwerken den
islamischen Geist entziehen, so wird nichts mehr übrig bleiben
als Abfall oder eine leblose Hülle.
Will Durant gehört zu denjenigen, die
dieses Vakuum empfinden und als Ersatz Literatur, Philosophie
und Kunst vorschlagen. Er sagt: „Die Schäden und Nachteile,
die an unseren Schulen und Universitäten festzustellen sind,
können überwiegend auf die Erziehungstheorie von Spencer
zurückgeführt werden, der die Erziehung als Mittel zur
Anpassung des Menschen an seine Umwelt darstellt. Diese
Definition ist überholt und mechanisch und entspricht der
Philosophie von der Überlegenheit der Mechanik. Jeder
schöpferische Geist und Verstand empfindet Widerwillen
dagegen. Das hatte zur Folge, dass unsere Schulen überhäuft
wurden mit theoretischen und mechanischen Wissenschaften,
wogegen Themen wie Literatur, Geschichte, Philosophie und
Kunst als nutzlos verstanden und deswegen vermieden wurden.
Das Ergebnis einer ausschließlich wissenschaftlichen
Ausbildung ist nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Es
entfremdet den Menschen von dem Schönen und trennt ihn von der
Weisheit. Es wäre besser gewesen, wenn Spencer kein Buch
geschrieben hätte.“
Merkwürdig ist nur, das Will Durant,
obwohl er zugibt, dass es sich bei der bestehenden,
hochgradigen Leere um ein “Vakuum an Wünschen“ handelt,
um eine Leere im Bereich der Vorhaben, Ziele und Sehnsüchte,
um ein Vakuum, das zu Sinnlosigkeiten führte, obgleich er
bestätigt, dass diese Leere eine Leere des Denkens und des
Glaubens an humanen Vorhaben und Zielen ist, dass er trotz all
diesen annimmt, das jegliche Form von Geistigkeit, auch wenn
sie die Grenzen der Phantasie nicht überschreiten,
nutzbringend und die Beschäftigung mit der Geschichte, der
Kunst, den schönen Dingen, der Poesie und der Musik geeignet
sei, dieses Vakuum, welches in der Tiefe der Natur des
menschlichen Sehnens nach Wünschen und Wünschenswertem
entsteht, zu füllen.
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