221. Predigt – Über das Streben nach Mehrung
Er hielt
sie, nachdem er rezitiert hatte:
„Das Streben um Mehrung beherrscht
euch, bis ihr (eure) Gräber besucht“.
Wie weit ist doch ihr Ziel (von der
Erreichung dessen) entfernt! Was für nachlässige Besucher sie
doch sind! Und wie grässlich ist die Gefahr (in der sie sich
befinden)! Sie fanden keinerlei Lehren bei sich, die es zu
beachten gilt, und wiesen sie weithin von sich. Rühmen sie
sich denn des Untergangs ihrer Vorfahren, oder wetteifern sie
über die Anzahl an getöteten (Feinden)? Sie wollen die Körper
von ihnen (zum Leben) zurückkehren lassen, die leblos geworden
und deren Bewegungen zum Stillstand gekommen sind. Sie sind
eher dazu angetan, eine Lehre zu sein als ein Gegenstand zum
Sich-Rühmen, und geeigneter, sie zur Demut herabzusetzen,
statt sie auf die Position der Ehre zu erheben. Sie schauten
auf sie mit schwachsichtigem Blick und stiegen durch sie herab
in die Widerwärtigkeit der Unwissenheit. Wenn sie die Höfe
jener verfallenen Häuser und leere Wohnstätten nach ihnen
befragt hätten, dann hätten sie gesagt: „Sie sind auf der Erde
als Irregeleitete umhergegangen, und ihr seid ihnen in
Unwissenheit auf den Fersen. Ihr tretet auf ihre Schädeldecken
und lasst (eure Pflanzen) auf ihren Körpern wachsen, verzehrt,
was sie zurückgelassen, und wohnt (in Häusern), die sie zu
Ruinen gemacht haben, und die Tage, die zwischen euch und
ihnen liegen, beweinen und beklagen euch nur. “
Jene sind eure Vorgänger zu eurem Ziel
(dem Tod) und sind euch zu den Trinkplätzen (im Jenseits)
vorausgegangen, diejenigen, die ehrenvolle Positionen und
Schauplätze des Ruhmes innehatten, sie hatten Reichtümer und
Untertanen, und sie gingen mitten in die Todeszwischenphase [barzach],
ein Weg, in dem die Erde die Oberhand über sie gewann, von
ihrem Fleisch aß und von ihrem Blut trank, und so erstarrten
sie in den Hohlräumen ihrer Gräber und wuchsen nicht mehr, als
Verlorene, die nicht mehr gefunden werden. Der Eintritt
schrecklicher Ereignisse schreckt sie nicht, noch machen sie
negative Umstände traurig. Sei werden nicht von Erdbeben
geplagt, sie hören nicht das Donnergrollen, als Abwesende, die
nicht mehr (zurück-) erwartet werden, als Anwesende, die
(dennoch) nicht zugegen sind. Sie waren zusammen, doch
zerstreuten sie sich, sie waren beieinander, doch (nun) haben
sie sich zerspalten. Es liegt nicht an der langen Zeit, noch
an der Ferne ihres Wohnortes, dass es keine Nachrichten von
ihnen gibt und ihre Häuser stumm sind, sondern sie wurden mit
dem Kelch getränkt, der ihre Sprache in Stummheit verwandelte,
ihr Gehör in Taubheit und ihre Bewegungen in Reglosigkeit, so
als ob sie bedenkenlos in Schlaf fielen. Sie sind Nachbarn,
doch unterhalten sie keine freundliche Beziehung zueinander,
oder sind (wie) Liebende, die (jedoch) einander nicht
besuchen. Das Halteseil ihrer gegenseitigen Bekanntschaft ist
verschlissen, und die Wege der Bruderschaft sind ihnen
abgeschnitten worden. So ist jeder von ihnen allein, während
sie eine Gruppe sind, sie sind getrennt, obwohl sie Freunde
sind. Sie erkennen nicht den Morgen nach der Nacht, und nicht
den Abend nach dem Tag. Jedes der beiden, in der sie (jeweils)
fortgegangen sind, ist für sie andauernd. Sie sahen mit
eigenen Augen die Gefahren ihrer Bleibe widerwärtiger, als sie
befürchtet hatten und sahen, dass deren Zeichen mächtiger
waren, als sie sie eingeschätzt hatten. Denn diese beiden
Ziele
haben sich ihnen dargeboten zu einem Ausmaß (jenseits) von
Furcht und Hoffnung. Wenn sie darüber sprechen könnten,
könnten sie nicht beschreiben, was sie gesehen und erblickt
haben.
Auch wenn ihre Spuren verwischt wurden
und die Nachrichten über sie aufgehört haben, so sind doch die
Blicke zu ihnen zurückgekehrt, um Lehren zu ziehen, die Ohren
des Verstandes haben von ihnen gehört und sie haben
gesprochen, ohne äußerlich zu sprechen (ohne Worte), und sie
sagten: „Die schönen Gesichter sind finster und die
feingestaltigen Körper sind zerstört worden, wir haben ein
verschlissenes Gewand angezogen, die Enge des Grabes hat uns
zerrissen, wir erbten die Einsamkeit, unsere stummen Häuser
sind verfallen, die Schönheit unserer Körper wurde ausgetilgt
und unsere bekannten Gestalten sind hässlich geworden. Die
Einsamkeit in den Wohnstätten unseres Aufenthalts ist lang,
und wir finden keine Erleichterung vor der Pein, noch eine
Erweiterung von der Enge!“
Wenn du sie dir nun mit deinem Verstand
vor Augen führst, oder die Bedeckung, mit der sie verborgen
sind, für dich gelüftet wird, (und du sehen würdest), wie ihr
Gehör durch Würmer funktionslos gemacht und taub wurde, wie
ihre Augen finster von der Erde geworden und aus (ihren
Höhlen) ausgetreten sind, ihre Zungen in ihren Mündern
zerschnitten wurden, nachdem sie (zu Lebzeiten) scharf waren,
ihre Herzen erloschen sind, nachdem sie (im Leben) wach waren,
und in jedem Körperglied eine neue Verderbnis wütete, die sie
verfallen und abscheulich werden ließ und den Weg für die
Vernichtung ebnete. Sie sind dem ausgeliefert, und es gibt
keine Hand, die abhält, keine Herzen, die Mitleid mit ihnen
haben, dann würdest du sicherlich den Kummer (ihrer) Herzen
sehen und die (schmerzhaften) Staubkörner in ihren Augen. Sie
befinden sich in jeder Widerwärtigkeit in einem Zustand, der
sich nicht ändert, und sie haben eine Not, die sich nicht
klärt. Wie so manchen ehrenvollen Körper hat die Erde
verzehrt, von eleganter Farbe, der im Diesseits Wohlstand im
Überfluss genossen hatte und von Ehre umsorgt wurde! Er war
mit Freuden beschäftigt (sogar) in der Stunde seiner Trauer,
er flüchtete sich in Zerstreuung, wenn ein Schicksalsschlag
auf ihn niederfuhr, gab die Üppigkeit seines Lebens nicht auf
und war begierig nach Tand und Spiel! Und während er das
Diesseits anlachte, lachte es ihn an unter seinem Leben voller
Nachlässigkeit! Doch dann trampelte die Zeit (und schmerzte)
wie Dornen, und die Tage brachen seine Kraft, und der Tod
schaute ihn von nahem an. Ihn ergriff ungekannter Gram und
Kummer, der nie vorhanden war, und in ihm kam die Schlaffheit
der Krankheit auf und er erkannte, was mit seiner Gesundheit
geschehen war, und er wandte sich an das, woran die Ärzte ihn
gewöhnt hatten, nämlich an die (Unterdrückung) von Hitze mit
Kälte und die Belebung von Kälte mit Hitze, aber die Kälte
löschte nicht die brennende Hitze, während die Hitze nichts
bewirkte außer der Verstärkung der Kälte.
Sein Zustand kam nicht ins Gleichgewicht
aufgrund jener Umstände, sondern sämtliche Krankheiten
breiteten sich weiter aus, bis seine Ärzte aufgaben, seine
Pfleger erschraken und seine Familie nicht in der Lage war,
seine Krankheit zu beschreiben und sie gaben keine Antwort,
wenn Leute nach ihm fragten. Sie stritten miteinander vor ihm
über die traurige Nachricht (dass er sterben wird), die sie
vor ihm verheimlichen, und jemand sagte: „Er ist, wie er ist“,
indem er sie glauben machte, dass er wieder genesen würde, und
(ein anderer) mahnte sie zu Geduld wegen des Verlustes (des
Kranken), sie an das Beispiel derer erinnernd, die vor ihm
(schon) gestorben waren. Während dieser (Sterbende) im Begriff
war, sich von dem Diesseits zu trennen und (seine) Lieben zu
verlassen, ergriff ihn ein Würgen, so dass seine Gedanken
verwirrt wurden und seine Zunge austrocknete. Und wie viele
wichtige Antworten (auf Fragen) kannte er, aber seine Zunge
war zu schwach, um eine Antwort zu geben und (wie viele) Rufe,
die seinem Herzen Schmerz zufügen, hörte er, doch er war zu
taub dafür (um sie zu verstehen), von Alten, die er zu
respektieren pflegte, oder von Kindern, denen er immer
Barmherzigkeit schenkte! Denn wahrlich, der Tod bringt
Trunkenheiten mit sich, die zu grauenhaft sind, um von einer
Beschreibung erfasst oder mit dem Verstand der Bewohner des
Diesseits angemessen wahrgenommen zu werden.
Mit der 221.
Predigt beginnen eine Reihe von Predigten, die als
tiefgreifende Erläuterung von Versen des Heiligen Qur´an
gelten. Späteren Exegeten, welche die Ahl-ul-Bait als
kompetenteste Quelle zur Interpretation des Heiligen Qur´an
verstehen, haben sich insbesondere auf diese Predigten
bezogen.
Der
Hintergrund, warum der am Anfang dieser Predigt zitierte Vers
offenbart wurde, besteht darin, dass die Stämme der Banu Abd
Manaf und Banu Sahm sich gegeneinander über übermäßigen
Reichtum und die Anzahl ihrer Stammesmitglieder brüsteten, und
um einander zu beweisen, dass sie gegenüber dem jeweils
anderen zahlenmäßig stärker waren, begannen sie auch ihre
Toten mit einzurechnen, woraufhin dieser Vers offenbart wurde,
um aufzuzeigen, dass die Fülle der Reichtümer und die Überzahl
sie so vergesslich gemacht hat, dass sie die Toten ebenso zu
den Lebenden rechneten. Dieser Vers wird zudem oft so
verstanden, dass die Fülle von Reichtümern und Nachkommen sie
vergesslich gemacht hat, bis sie die Gräber erreichen. Die
Äußerung des Befehlshabers der Gläubigen (a.) stützt hier die
erste Bedeutung.
Die Äußerung
Imam Alis (a.) „Jedes der beiden, in der sie (jeweils)
fortgegangen sind, ist für sie andauernd“ bedeutet, dass
es für den, der am Tag stirbt, immer (im Grab) Tag sein wird,
und für den, der in der Nacht stirbt, die Nacht niemals
aufhört, weil sie (die Toten) an einem Ort sind, an dem es
keinen Mond und keine Sonne gibt und keinen Wechsel von Tagen
und Nächten. Die gleiche Bedeutung wurde später von einem
Dichter folgendermaßen ausgedrückt:
Sicherlich
gibt es einen Tag, der nicht Nacht wird, oder eine Nacht, die
nicht Tag wird.