Nahdsch-ul-Balagha
Pfad der Eloquenz - Nahdsch-ul-Balagha

Aussprache: nah-dschul-balagha
arabisch:
نهج البلاغة
persisch:
نهج البلاغة
englisch: Peak of Eloquence

Mehr zum Thema siehe: Nahdsch-ul-Balagha

221. Predigt – Über das Streben nach Mehrung

Er hielt sie, nachdem er rezitiert hatte:

„Das Streben um Mehrung beherrscht euch, bis ihr (eure) Gräber besucht“.[1]

Wie weit ist doch ihr Ziel (von der Erreichung dessen) entfernt! Was für nachlässige Besucher sie doch sind! Und wie grässlich ist die Gefahr (in der sie sich befinden)! Sie fanden keinerlei Lehren bei sich, die es zu beachten gilt, und wiesen sie weithin von sich. Rühmen sie sich denn des Untergangs ihrer Vorfahren, oder wetteifern sie über die Anzahl an getöteten (Feinden)? Sie wollen die Körper von ihnen (zum Leben) zurückkehren lassen, die leblos geworden und deren Bewegungen zum Stillstand gekommen sind. Sie sind eher dazu angetan, eine Lehre zu sein als ein Gegenstand zum Sich-Rühmen, und geeigneter, sie zur Demut herabzusetzen, statt sie auf die Position der Ehre zu erheben. Sie schauten auf sie mit schwachsichtigem Blick und stiegen durch sie herab in die Widerwärtigkeit der Unwissenheit. Wenn sie die Höfe jener verfallenen Häuser und leere Wohnstätten nach ihnen befragt hätten, dann hätten sie gesagt: „Sie sind auf der Erde als Irregeleitete umhergegangen, und ihr seid ihnen in Unwissenheit auf den Fersen. Ihr tretet auf ihre Schädeldecken und lasst (eure Pflanzen) auf ihren Körpern wachsen, verzehrt, was sie zurückgelassen, und wohnt (in Häusern), die sie zu Ruinen gemacht haben, und die Tage, die zwischen euch und ihnen liegen, beweinen und beklagen euch nur. “

Jene sind eure Vorgänger zu eurem Ziel (dem Tod) und sind euch zu den Trinkplätzen (im Jenseits) vorausgegangen, diejenigen, die ehrenvolle Positionen und Schauplätze des Ruhmes innehatten, sie hatten Reichtümer und Untertanen, und sie gingen mitten in die Todeszwischenphase [barzach], ein Weg, in dem die Erde die Oberhand über sie gewann, von ihrem Fleisch aß und von ihrem Blut trank, und so erstarrten sie in den Hohlräumen ihrer Gräber und wuchsen nicht mehr, als Verlorene, die nicht mehr gefunden werden. Der Eintritt schrecklicher Ereignisse schreckt sie nicht, noch machen sie negative Umstände traurig. Sei werden nicht von Erdbeben geplagt, sie hören nicht das Donnergrollen, als Abwesende, die nicht mehr (zurück-) erwartet werden, als Anwesende, die (dennoch) nicht zugegen sind. Sie waren zusammen, doch zerstreuten sie sich, sie waren beieinander, doch (nun) haben sie sich zerspalten. Es liegt nicht an der langen Zeit, noch an der Ferne ihres Wohnortes, dass es keine Nachrichten von ihnen gibt und ihre Häuser stumm sind, sondern sie wurden mit dem Kelch getränkt, der ihre Sprache in Stummheit verwandelte, ihr Gehör in Taubheit und ihre Bewegungen in Reglosigkeit, so als ob sie bedenkenlos in Schlaf fielen. Sie sind Nachbarn, doch unterhalten sie keine freundliche Beziehung zueinander, oder sind (wie) Liebende, die (jedoch) einander nicht besuchen. Das Halteseil ihrer gegenseitigen Bekanntschaft ist verschlissen, und die Wege der Bruderschaft sind ihnen abgeschnitten worden. So ist jeder von ihnen allein, während sie eine Gruppe sind, sie sind getrennt, obwohl sie Freunde sind. Sie erkennen nicht den Morgen nach der Nacht, und nicht den Abend nach dem Tag. Jedes der beiden, in der sie (jeweils) fortgegangen sind, ist für sie andauernd. Sie sahen mit eigenen Augen die Gefahren ihrer Bleibe widerwärtiger, als sie befürchtet hatten und sahen, dass deren Zeichen mächtiger waren, als sie sie eingeschätzt hatten. Denn diese beiden Ziele[2] haben sich ihnen dargeboten zu einem Ausmaß (jenseits) von Furcht und Hoffnung. Wenn sie darüber sprechen könnten, könnten sie nicht beschreiben, was sie gesehen und erblickt haben.

Auch wenn ihre Spuren verwischt wurden und die Nachrichten über sie aufgehört haben, so sind doch die Blicke zu ihnen zurückgekehrt, um Lehren zu ziehen, die Ohren des Verstandes haben von ihnen gehört und sie haben gesprochen, ohne äußerlich zu sprechen (ohne Worte), und sie sagten: „Die schönen Gesichter sind finster und die feingestaltigen Körper sind zerstört worden, wir haben ein verschlissenes Gewand angezogen, die Enge des Grabes hat uns zerrissen, wir erbten die Einsamkeit, unsere stummen Häuser[3] sind verfallen, die Schönheit unserer Körper wurde ausgetilgt und unsere bekannten Gestalten sind hässlich geworden. Die Einsamkeit in den Wohnstätten unseres Aufenthalts ist lang, und wir finden keine Erleichterung vor der Pein, noch eine Erweiterung von der Enge!“

Wenn du sie dir nun mit deinem Verstand vor Augen führst, oder die Bedeckung, mit der sie verborgen sind, für dich gelüftet wird, (und du sehen würdest), wie ihr Gehör durch Würmer funktionslos gemacht und taub wurde, wie ihre Augen finster von der Erde geworden und aus (ihren Höhlen) ausgetreten sind, ihre Zungen in ihren Mündern zerschnitten wurden, nachdem sie (zu Lebzeiten) scharf waren, ihre Herzen erloschen sind, nachdem sie (im Leben) wach waren, und in jedem Körperglied eine neue Verderbnis wütete, die sie verfallen und abscheulich werden ließ und den Weg für die Vernichtung ebnete. Sie sind dem ausgeliefert, und es gibt keine Hand, die abhält, keine Herzen, die Mitleid mit ihnen haben, dann würdest du sicherlich den Kummer (ihrer) Herzen sehen und die (schmerzhaften) Staubkörner in ihren Augen. Sie befinden sich in jeder Widerwärtigkeit in einem Zustand, der sich nicht ändert, und sie haben eine Not, die sich nicht klärt. Wie so manchen ehrenvollen Körper hat die Erde verzehrt, von eleganter Farbe, der im Diesseits Wohlstand im Überfluss genossen hatte und von Ehre umsorgt wurde! Er war mit Freuden beschäftigt (sogar) in der Stunde seiner Trauer, er flüchtete sich in Zerstreuung, wenn ein Schicksalsschlag auf ihn niederfuhr, gab die Üppigkeit seines Lebens nicht auf und war begierig nach Tand und Spiel! Und während er das Diesseits anlachte, lachte es ihn an unter seinem Leben voller Nachlässigkeit! Doch dann trampelte die Zeit (und schmerzte) wie Dornen, und die Tage brachen seine Kraft, und der Tod schaute ihn von nahem an. Ihn ergriff ungekannter Gram und Kummer, der nie vorhanden war, und in ihm kam die Schlaffheit der Krankheit auf und er erkannte, was mit seiner Gesundheit geschehen war, und er wandte sich an das, woran die Ärzte ihn gewöhnt hatten, nämlich an die (Unterdrückung) von Hitze mit Kälte und die Belebung von Kälte mit Hitze, aber die Kälte löschte nicht die brennende Hitze, während die Hitze nichts bewirkte außer der Verstärkung der Kälte.

Sein Zustand kam nicht ins Gleichgewicht aufgrund jener Umstände, sondern sämtliche Krankheiten breiteten sich weiter aus, bis seine Ärzte aufgaben, seine Pfleger erschraken und seine Familie nicht in der Lage war, seine Krankheit zu beschreiben und sie gaben keine Antwort, wenn Leute nach ihm fragten. Sie stritten miteinander vor ihm über die traurige Nachricht (dass er sterben wird), die sie vor ihm verheimlichen, und jemand sagte: „Er ist, wie er ist“, indem er sie glauben machte, dass er wieder genesen würde, und (ein anderer) mahnte sie zu Geduld wegen des Verlustes (des Kranken), sie an das Beispiel derer erinnernd, die vor ihm (schon) gestorben waren. Während dieser (Sterbende) im Begriff war, sich von dem Diesseits zu trennen und (seine) Lieben zu verlassen, ergriff ihn ein Würgen, so dass seine Gedanken verwirrt wurden und seine Zunge austrocknete. Und wie viele wichtige Antworten (auf Fragen) kannte er, aber seine Zunge war zu schwach, um eine Antwort zu geben und (wie viele) Rufe, die seinem Herzen Schmerz zufügen, hörte er, doch er war zu taub dafür (um sie zu verstehen), von Alten, die er zu respektieren pflegte, oder von Kindern, denen er immer Barmherzigkeit schenkte! Denn wahrlich, der Tod bringt Trunkenheiten mit sich, die zu grauenhaft sind, um von einer Beschreibung erfasst oder mit dem Verstand der Bewohner des Diesseits angemessen wahrgenommen zu werden.

Erläuterung

Mit der 221. Predigt beginnen eine Reihe von Predigten, die als tiefgreifende Erläuterung von Versen des Heiligen Qur´an gelten. Späteren Exegeten, welche die Ahl-ul-Bait als kompetenteste Quelle zur Interpretation des Heiligen Qur´an verstehen, haben sich insbesondere auf diese Predigten bezogen.

Der Hintergrund, warum der am Anfang dieser Predigt zitierte Vers offenbart wurde, besteht darin, dass die Stämme der Banu Abd Manaf und Banu Sahm sich gegeneinander über übermäßigen Reichtum und die Anzahl ihrer Stammesmitglieder brüsteten, und um einander zu beweisen, dass sie gegenüber dem jeweils anderen zahlenmäßig stärker waren, begannen sie auch ihre Toten mit einzurechnen, woraufhin dieser Vers offenbart wurde, um aufzuzeigen, dass die Fülle der Reichtümer und die Überzahl sie so vergesslich gemacht hat, dass sie die Toten ebenso zu den Lebenden rechneten. Dieser Vers wird zudem oft so verstanden, dass die Fülle von Reichtümern und Nachkommen sie vergesslich gemacht hat, bis sie die Gräber erreichen. Die Äußerung des Befehlshabers der Gläubigen (a.) stützt hier die erste Bedeutung.

Die Äußerung Imam Alis (a.) „Jedes der beiden, in der sie (jeweils) fortgegangen sind, ist für sie andauernd“ bedeutet, dass es für den, der am Tag stirbt, immer (im Grab) Tag sein wird, und für den, der in der Nacht stirbt, die Nacht niemals aufhört, weil sie (die Toten) an einem Ort sind, an dem es keinen Mond und keine Sonne gibt und keinen Wechsel von Tagen und Nächten. Die gleiche Bedeutung wurde später von einem Dichter folgendermaßen ausgedrückt:

Sicherlich gibt es einen Tag, der nicht Nacht wird, oder eine Nacht, die nicht Tag wird.

[1] Heiliger Qur´an 102:1-2

[2] Oft interpretiert mit Paradies und Hölle

[3] Oft interpretiert mit Gräber

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