Der Qur´an im Islam
Aufhebende und aufgehobene Verse im Quran
Es gibt Quranische Gebote, die nach
ihrer Offenbarung die Stelle anderer früher offenbarter
Gebote, die bis dahin befolgt wurden, eingenommen und damit
ihrer Gültigkeit ein Ende gesetzt haben. Die ersteren heißen
Aufgehobene [mansuh] und die letzteren, die sie aufgehoben
haben, werden Aufhebende [nasih] genannt. Beispielsweise
erhielten die Muslime zu Beginn der Berufung des Propheten
(s.) die Anweisung, mit den Leuten der Schrift in Frieden zu
leben:
„Viele von den Leuten der Schrift
möchten euch gern, nachdem ihr gläubig geworden seid, wieder
zu Ungläubigen machen, da sie von sich aus Neid empfinden,
nachdem ihnen (als ersten) die Wahrheit (der Offenbarung) klar
geworden ist. Aber rechnet es (ihnen) nicht an und seid
nachsichtig und wartet zu, bis Allah mit seiner Entscheidung
kommt.“ (2:109)
Nach einiger Zeit wurde jedoch die
Anweisung zum Kampf gegeben:
„Kämpft gegen diejenigen, die nicht an
Allah und den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was
Allah und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren
Religion angehören – von denen, die die Schrift erhalten
haben.“ (9:29)
Gewiss, wir verstehen unter dem Aufheben
eines Gebotes den Umstand, dass sich dieses Gebot, das aus
einer bestimmten Überlegung heraus erlassen und befolgt wurde,
später als Irrtum erweist und daher aufgehoben und durch ein
anderes Gebot ersetzt wird. Aufheben in diesem Sinne würde
bedeuten, dass dem erhabenen Gott Unwissenheit und Irrtum
zugeschrieben wird. Das ist unzulässig, abgesehen davon, dass
die Quranischen Verse zueinander nicht im Widerspruch stehen.
Das Aufheben im Quran meint vielmehr,
dass die Gültigkeitsdauer eines Gebotes ausgelaufen ist. Mit
anderen Worten, wenn die Umstände, die das Erlassen eines
Gebotes erforderlich machen, von begrenzter Dauer sind, so
sind ihre Folgen, d.h. in diesem Falle die Gebote, ebenfalls
von begrenzter Gültigkeit. Wird nach einiger Zeit ein zweites
Gebot offenbart, so kündigt es gleichzeitig das Ende der
Gültigkeitsdauer des ersten Gebotes an. Da der Quran im
Verlaufe von 23 Jahren allmählich offenbart wurde, kann ohne
weiteres angenommen werden, dass er solche Gebote enthält. Das
Erlassen eines vorläufigen Gebotes, solange die Umstände ein
dauerhaftes Gebot noch nicht erfordern, und das spätere
Eintauschen des vorläufigen Gebotes gegen das dauerhafte, sind
gewiss unbedenklich, wie dies aus folgender Quranischer
Stelle über den Sinn der Abrogierung hervor geht:
„Und wenn wir einen Vers anstelle
eines anderen eintauschen – und Allah weiß ja am besten, was
er als Offenbarung herabsendet – sagen sie: ,Es ist ja eine
reine Erfindung von dir.“ Aber die meisten von ihnen wissen es
nicht. Sag, der Heilige Geist hat ihn von deinem Herrn mit der
Wahrheit herabgesandt, um diejenigen, die glauben, zu
festigen, und als Rechtleitung und frohe Botschaft für die,
die sich Allah ergeben haben.“ (16:101-102)