Der Quran im Islam
Veranlassungen der Offenbarungen
Wie bereits erwähnt, stehen zahlreiche
Suren und Verse hinsichtlich ihrer Offenbarung mit Ereignissen
und Begebenheiten der damaligen Zeit in unmittelbarem
Zusammenhang, so z.B. die Suren “Die Kuh“, “Die Versammlung“
und “Die Laufenden“.
Die Offenbarung einiger Suren entsprach
der Notwendigkeit, Klarheit über die rechtlichen
Entscheidungen und Gesetze des Islam zu schaffen. So z.B. die
Suren “Die Frauen“, “Die Beute“, “Die Scheidung“ usw..
Diese Voraussetzungen, die zur
Offenbarung der Suren und Verse führten, heißen Veranlassungen
der Offenbarungen. Bei der Sinndeutung der Verse ist es von
großer Bedeutung, die Bedingungen zu kennen, unter denen sie
offenbart worden sind. Aus diesem Grunde hat sich eine große
Schar von Überlieferungswissenschaftlern unter den Gefährten
des Propheten und ihrer Nachfolger in der frühislamischen Zeit
mit den Überlieferungen über die Veranlassungen der
Offenbarungen befasst und zahlreiche Überlieferungen darüber
überliefert. Sie sind in der Mehrzahl von den Sunniten
überliefert worden, etwa einige Tausend. Die diesbezüglichen
schiitischen Überlieferungen sind nicht mehr als einige
Hundert.
Nicht alle diese Überlieferungen sind
richtig und lückenlos verbürgt. Im Gegenteil, viele von ihnen
sind schwach und lückenhaft. Bei näherem Betrachten bestätigt
sich der erste Verdacht zunehmend:
1. In den meisten Fällen ist aus dem
angewandten Verfahren ersichtlich, dass der Überlieferer den
Zusammenhang zwischen der Überlieferung und der entsprechenden
Veranlassung nicht etwa aus persönlichem Gespräch und Erlebnis
oder aus eigenem Gedächtnis kennt bzw. herstellt, sondern eine
Geschichte erzählt und die dazu passenden Quranischen Verse
mit ihr in Beziehung setzt. Daher ist die
Offenbarungsveranlassung, die in einer solchen Überlieferung
angegeben wird, eher eine theoretische und spekulative
Veranlassung als eine, die auf dem Wege der Erfahrung und
Aufzeichnung zustande gekommen ist. Eine Bestätigung für
diesen Sachverhalt sind die vielen sich widersprechenden
Veranlassungen. Vielen Quranischen Versen werden mehrere
Veranlassungen zugeschrieben, die sich widersprechen und
gegenseitig ausschließen. Es sind sogar von derselben Person,
z.B. Ibn Abbas, mehrere unterschiedliche Veranlassungen für
ein und denselben Vers überliefert worden.
Der Grund, warum diese sich
widersprechenden und fehlerhaften Offenbarungsveranlassungen
aufgenommen worden sind, kann entweder darin liegen, dass sie
nicht überliefert, sondern eher theoretischer Natur sind und
dass jeder Überlieferer aus der Fülle der sich
widersprechenden Überlieferungen gerade die passende
alternative Geschichte herausgesucht und sie einem bestimmten
Vers als Veranlassung zugeschrieben hat, oder aber darin, dass
der Überlieferer, der zwei sich widersprechende Veranlassungen
überliefert hat, sich mit zwei gegensätzlichen Ansichten
auseinanderzusetzen hatte, wobei er sich erst später für die
zweite Ansicht entschieden hat, oder darin, dass alle oder
Teile davon gefälscht sind. In welcher Weise sich auch diese
Vermutungen bestätigen mögen, werden die Überlieferungen über
die Offenbarungsveranlassungen ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
Dann nutzt es auch nichts, dass die Überlieferung lückenlos
tradiert ist, denn eine lückenlose Überlieferungskette
bestätigt oder schwächt zwar die Vermutung über die
Unwahrhaftigkeit der Überlieferer, doch der Verdacht einer
ursprünglichen Fälschung bleibt trotzdem bestehen.
2. Es ist glaubhaft überliefert worden,
dass die Kalifen
in der frühislamischen Zeit strengstens verboten hatten, die
Prophetenüberlieferung zu sammeln und aufzuzeichnen. Wo auch
immer solche Aufzeichnungen auftauchten, ließen die Kalifen
sie beschlagnahmen und verbrennen. Dieses Verbot blieb bis zum
Ende des ersten Jahrhunderts nach der Auswanderung, also etwa
90 Jahre, bestehen.
Dieses Verfahren führte dazu, dass die
Überlieferer und Traditionsgelehrten die betreffenden Aussagen
nur sinngemäß überlieferten. Die anfänglich unbedeutenden
Veränderungen, die die Aussagen jeweils bei weiterer
Überlieferung erfuhren, häuften sich im Laufe der Zeit
dermaßen, dass der ursprüngliche Sinn verlorenging. Dies wird
erst recht deutlich, wenn die gleiche Geschichte oder Aussage
über verschiedene Überlieferungsketten überliefert worden ist.
Es gibt Überlieferungen, die angeblich die gleiche Geschichte
erzählten, jedoch kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Gewiss, der
exzessive Gebrauch von der sinngemäßen Überlieferung hat zum
Verlust oder zumindest zur Verminderung der Glaubwürdigkeit
der Veranlassungsliteratur geführt. Kommen zu den sinngemäßen
Überlieferungen und den erwähnten Widersprüchen noch die
Fälschung, insbesondere die sogenannte Israiliyyat
und die Überlieferungen, die von den unbekannten Heuchlern
erfunden worden sind, hinzu, so wird die Literatur über die
Offenbarungsveranlassungen völlig unglaubwürdig.