Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Unterwegs

Dienstag, 24. April.

Um neun Uhr morgens bei herrlichstem Sonnenschein, beratschlagen mein Tcharvadar und ich uns in dem befestigten Schloß unter den Bogengängen des Hofes. Beendet sind die Streitigkeiten zwischen uns beiden, wir sind die besten Freunde von der Welt, und niemals zündet er seine Kalyan an, ohne mich einige Züge daraus tun zu lassen.

In diesem Hof herrscht dasselbe Gedränge wie am gestrigen Abend. Einige Maultiere liegen, andere stehen; Tausende von Karawanensäcke hat man hier aufgestellt, sie sind alle von gleicher Farbe, alle aus grauer Wolle, alle schwarz und weiß gestreift, und alle hat der Staub der Wege mit seiner rötlichen Schattierung überzogen: Das ganze trägt eine traurige, neutrale Farbe, aber zuweilen wird diese von einem wunderbaren Teppich unterbrochen, der wie etwas ganz Alltägliches unter einer Gruppe gleichgültiger Raucher ausgebreitet liegt.

Nach meiner Verabredung mit Abbas wollen wir das Schloß Kham-Simiane mitten am Tage verlassen, um die letzten zehn bis zwölf Meilen, die uns noch von Chiraz trennen, zurückzulegen. Die Luft ist kühl, die Sonne ist nicht mehr so gefährlich wie dort unten, und ich habe die nächtlichen Reisen herzlich satt.

So rüsten wir denn gleich nach der Mittags-Kalyan unsere Karawane zum Aufbruch, und kaum ist es zwei Uhr, als wir auch schon den zinnenverzierten Mauern den Rücken kehren. Alsbald breitet sich die herbe Einsamkeit vor unseren Augen aus. Traurig und unfruchtbar liegt sie in der großen Klarheit unter einem blauen Himmel da. Und die Schneeflächen gleichen weißen Tüchern, mit denen man den Boden bedeckt hat. Hoch in den Lüften kreist ein Adler. Die Sonne brennt, und der Wind ist eisig. Wir befinden uns fast dreitausend Meter über dem Meeresspiegel.

In einem Schlupfwinkel des Bodens liegt ein wilder Weiler, ungefähr zehn Hütten sind dort aus Felsblöcken erbaut, ganz niedrig sind diese Hütten, dicht schmiegen sie sich dem Erdboden an, denn man fürchtet hier die Windstöße, die über diese Hochländer dahinfegen. Am Rande stehen einige kaum belaubte ganz schlanke Weiden, der Wind hat sie gebeugt. Und das ist alles. Soweit auch das Auge reicht, nichts hebt sich hervor in dieser lichtreichen Wüste.

Nach Chiraz, wo wir gegen Abend ankommen werden, steigen wir friedlich auf einem unmerklich sich neigenden Pfade hinab; wir sind überflutet von Licht; allmählich verschwindet der Schnee, und von Stunde zu Stunde fühlen wir, wie die Kälte den lauen Lüften weicht. Wir begegnen keinem lebenden Wesen, mit Ausnahme der großen kahlen Geier, die auf der Karawanenstraße sitzen und darauf lauern, daß man ein vor Müdigkeit umsinkendes Tier ihren Klauen anvertraut; wenn wir uns ihnen nähern, fliegen sie auf, aber kaum hat man sie verscheucht, so lassen sie sich von neuem auf der Straße nieder und verfolgen uns mit den Augen. Die blassen Blümchen, die kurzgestielten Pflanzen sind auf diesen Steppen zuerst nur spärlich gesät, aber bald vermehren sie sich, reihen sich aneinander an und bilden schließlich unter unseren Schritten einen wunderbar duftenden Teppich. Und dann beginnen die Sträucher unserer Heimat, Tamarinden, knospender Weißdorn, blühender Schlehdorn. Der Kuckuck ruft, und wäre nicht der unendliche, immer weite, immer ursprüngliche Horizont, so könnte man sich nach Südfrankreich versetzt glauben. In alten Zeiten muß der Frühling Galliens einen ähnlich friedlich-schönen Anblick gewährt haben . . . Und jetzt stoßen wir auch auf einen Fluß, einen wunderbar durchsichtigen, einen kristallklaren Fluß. An seinem Ufer stehen vereinzelte kleine Weiden, erhebt sich eine dichte Weidenwand, aber der Fluß fließt einsam in seinem Bett über die weißen Steine dahin, und unempfänglich scheint er für all das schüchterne Grün dieser Weidengebüsche zu sein, wahrscheinlich wird er schließlich als Wasserfall in weniger hoch gelegene, in weniger reine Regionen hinabstürzen, wird er sich bei den vielen Berührungen beschmutzen; aber hier, wo er mitten durch den zeitlosen Rahmen fließt, der seit Anbeginn der Welten also gewesen sein muß, hier haftet diesem klaren Wasser, ja, wie soll ich mich ausdrücken, etwas Jungfräuliches, etwas Geheiligtes an.

Nach dreistündigem Marsch erhebt sich ganz einsam am Rande unseres Weges ein kleiner mit Zinnen versehener Turm: ein Wachtposten, wo wir zwei weitere Soldaten als Verstärkung zu erlangen hoffen; aber nichts rührt sich, und die Pforte bleibt geschlossen. Indessen kommt oben im Turm zwischen zwei Schießscharten der weißhaarige Kopf eines Greises, der den hohen Hut der Magier trägt, zum Vorschein: »Soldaten,« ruft er in spöttischem Ton, »Ihr fordert Soldaten? Ja! die sind alle ausgezogen und machen Jagd auf die Räuber, die uns vier Esel gestohlen haben. Hier sind keine Soldaten, und Ihr müßt Euch ohne sie behelfen! Glückliche Reise!«

Bei Sonnenuntergang machen wir halt und verzehren unsere Abendmahlzeit auf einer der alten gastlichen Bänke vor der Tür einer Karawanserei, eines befestigten Schlosses, das wie Kham-Simiane einsam gelegen ist, und den Eingang zu einer neuen Ebene beherrscht. Und dies ist endlich die Hochebene von Chiraz, die in alten Zeiten von den Dichtern besungen wurde, dies ist das Land des Saadi, das Land der Rosen.

Von hier aus gesehen erscheint die hochgelegene Oase, die wir zur Stunde der Dämmerung erreichen werden, seltsam friedlich und üppig wild zugleich; das Gras ist dort dicht und mit Blumen übersät, die Pappeln stehen in dichten Gruppen und fast könnte man glauben, es seien Buchenhaine von weichem, tiefem Grün. Dieselben Farbentöne, die sich bei uns im April über Bäume und Wiesen senken, sieht man auch hier, aber die Luft ist von einer Klarheit, die wir nicht kennen, und über dem Paradies mit seinem jetzt schon in Schatten getauchten Grün, sind die großen, alles einschließenden Berge zu dieser Stunde in tiefem Rot gebadet, ein Anblick, der in unseren Ländern und bei unserem Klima unmöglich wäre.

Durch diese sanft sich neigende Ebene, wo die Luft allmählich ganz still geworden ist, setzen wir unseren jetzt immer leichter werdenden Ritt fort, und ungefähr vier Meilen weiter, ziehen sich in der frischen, sternenklaren Nacht zu beiden Seiten unseres Weges die langen Mauern der Gärten dahin: die Vorstädte von Chiraz! Kein Lärm, kein Licht, kein Schritt, der den Wanderer verkündet. Die Ausläufer der alten mohammedanischen Städte zeigen, sobald die Dunkelheit anbricht, immer dasselbe seltsame Schweigen, von dem wir Europäer uns gar keine Vorstellung machen können.

Die Mauern bezeichnen die Karawansereien, obgleich sie eigentlich nur einen Pappelwald einzuschließen scheinen; und dort klopfen wir zwei-, dreimal an große spitzbogige Türen an, die sich kaum öffnen, um eine Stimme antworten zu lassen, daß alles überfüllt sei. Die hohen Gräser, die Kräuter, die Gänseblümchen überwuchern die Wege; in dieser Dunkelheit, in diesem Schweigen duftet alles nach Frühling.

Des Kampfes müde geben wir uns mit einer Karawanserei für Arme zufrieden, wo wir über den Ställen einen kleinen Winkel mit Lehmwänden finden, der sich in keiner Weise von unseren früheren elenden Herbergen unterscheidet.

Natürlich kenne ich keine lebende Seele in dieser verschlossenen Stadt, in die ich heute abend nicht eindringen kann, und die übrigens, wie ich weiß, auch keinen einzigen Gasthof besitzt. Aber in Bender-Bouchir hat man mir ein versiegeltes Zauberbuch – ein Empfehlungsschreiben an den Vorstand der Kaufmannschaft, eine gewichtige Persönlichkeit von Chiraz, mitgegeben, zweifellos wird dieser mir eine Wohnung besorgen können . . .

Abends, 24. April.

Der erste Abend senkt sich herab, die erste Nacht bricht herein über dem drückenden Schweigen in Chiraz. Ganz im Hintergrunde des großen, leeren, frühzeitig verschlossenen Hauses, in dem ich gefangen sitze, geht mein Zimmer auf einen jetzt dunklen Hof. Man hört nichts, nur zuweilen den Schrei eines Kauzes. Chiraz schläft in dem Geheimnis seiner dreifachen Mauern und seiner geschlossenen Wohnungen; man könnte sich weit eher von verlassenen Ruinen, als von einer Stadt umgeben glauben, in deren Schatten sechzig- bis achtzigtausend Einwohner atmen; aber den Ländern Islams haftet das Schweigen dieses tiefen Schlafes und dieser stummen Nächte an.

Ich sage zu mir selbst: »Ich bin in Chiraz«, und es liegt ein Reiz darin, diesen Satz zu wiederholen; – ein Reiz und auch ein wenig Angst, denn diese Stadt gehört, wenngleich sie auch ein Überbleibsel altehrwürdiger, unversehrter Trümmer ist, dennoch zu denjenigen menschlichen Ansiedelungen, die am wenigsten zugänglich, am abgeschiedensten liegen; man empfindet hier noch das Gefühl eines großen Verlassenseins, ein Gefühl, das den Reisenden früherer Zeiten vertraut sein mußte, das wir Nachgeborenen aber bald nicht mehr kennen werden, weil die Verkehrswege die ganze Erde mit ihrem Netz überziehen. Wie soll man von hier entkommen, von hier entfliehen, wenn plötzliches Heimweh, wenn das Bedürfnis in uns aufsteigt, vielleicht nicht einmal das Vaterland, sondern nur verwandte Menschen, nur einen Ort wiederzusehen, der wie bei uns ein wenig moderner ist. Wie soll man von hier entkommen? Durch die einsamen Gegenden des Nordens, durch Teheran und das Kaspische Meer nach zwanzig- bis dreißigtägigem Karawanenritt? Oder soll ich auf dem Wege zurückkehren, der mich hergeführt hat, soll ich die schrecklichen Treppen Irans Stufe für Stufe hinabsteigen, soll ich von neuem in die Schlünde, die nur nachts passierbar sind, untertauchen, soll ich von neuem die Qualen der immer wachsenden Hitze ertragen, mich bis zu dem höllischen Schmelzofen dort unten, dem persischen Golf, vorwagen, soll ich von neuem durch den glühenden Sand waten, um Bender-Bouchir, die Stadt der Verbannung und des Fiebers zu erreichen, von wo aus irgendein Schiff mich nach Indien bringt? Beide Wege sind mühsam und weit. Es ist wahr, man fühlt sich verlassen in diesem Chiraz, das höher gelegen ist als der Gipfel der Pyrenäen – und das zu dieser Stunde eine klare Nacht, aber eine seltsam stumme, eine eisige Nacht in ihre Fittiche hüllt . . .

In dieser Stadt, wo alles von Mauern eingeschlossen ist, habe ich sozusagen noch nichts gesehen, und ich frage mich, ob ich während eines verlängerten Aufenthaltes mehr sehen werde, ich bin hier ungefähr in der Art eingedrungen, wie es die Ritter der Sage zu tun pflegten, die man mit verbundenen Augen in die unterirdischen Schlösser führte.

Heute morgen trat Hadji-Abbas, der Vorstand der Kaufmannschaft, benachrichtigt durch meinen Brief, in der Karawanserei an. Einige Honoratioren begleiteten ihn, lauter zeremonielle, höfliche Leute in langen Kleidern, mit plumpen, runden Brillen und sehr hohen Astrachanmützen. Wir setzen uns vor meinem dunklen Zimmer auf die Terrasse, die mit Gras und blühendem Mohn bewachsen ist: Nach vielen schönen Komplimenten in türkischer Sprache entspann sich eine Unterhaltung über die Schwierigkeiten der Reise!

»Ach!« sagten sie mit einem leisen Anflug von Spott, – »leider haben wir noch nicht Ihre Eisenbahnen!« Und als ich sie dazu beglückwünschte, zeigte mir ihr Lächeln, wie sehr wir betreffs der Wohltaten dieser Erfindung der gleichen Meinung waren . . .

Pappeln und blühende Obstbäume bildeten eine so dichte Wand, daß wir von der Stadt auch nicht das geringste zu erblicken vermochten, aber die Gärten, Wiesen, die grünen Felder lagen vor uns, eine ganze Ecke des glücklichen Chiraz, das kaum mit der übrigen Welt in Verbindung steht, und wo das Leben in dem gleichen Rahmen dahinfließt, wie vor tausend Jahren. Auf allen Zweigen stimmten die Vögel ihr fröhliches Brutlied an. Unten im Hofe, wo unsere Tiere sich ausruhten, standen einige Burschen aus dem Volk, sie sahen vergnügt und gesund aus, ihre Wangen hatte die freie Luft goldig gefärbt, und nachlässig rauchten sie in der Sonne, wie nur Leute es tun, die Zeit haben, zu leben, oder sie spielten mit Kugeln, und ihr Lachen drang zu uns herauf. Und ich verglich das schwarze Gelände unserer großen Städte, unserer Bahnhöfe, Fabriken, das ewige Pfeifen und den Lärm der Eisenwerke mit diesem allen, verglich auch unsere Arbeiter, blaß sind sie unter dem Kohlenstaub, und aus ihren Augen spricht die Nüchternheit und das Leiden . . .

Beim Abschiednehmen bot mir der Vorstand der Kaufmannschaft eines seiner zahlreichen Häuser in Chiraz, ein ganz neues Haus an. Er wollte mir den Schlüssel sofort übersenden, und ich begann zu warten, rauchte auf meiner Terrasse eine Kalyan nach der anderen und wartete, ohne daß der Schlüssel erschien: die Orientalen, jedermann weiß es ja, kennen gar keine Zeitberechnung.

Endlich, vier Uhr nachmittags, wurde der Schlüssel mir überreicht. (Er war einen Fuß zwei Zoll lang.) Und dann mußte ich meinen Tcharvadar und alle seine Leute verabschieden, mußte mit ihnen abrechnen, mit ihnen alle die Silbermünzen nachzählen. Wir tauschten viele Wünsche und manchen Händedruck aus, und dann bestellte ich eine Anzahl Träger (Juden mit langen Haaren), ließ unser Gepäck auf ihren Rücken laden, und wanderte hinter ihnen der Stadt zu, die ganz in der Nähe liegen mußte, die man aber immer noch nicht sehen konnte.

Wir trabten melancholisch zwischen den hohen aus grauen Steinen und Lehm erbauten Mauern dahin, in weiten Abständen nur zeigten sie eine vergitterte Öffnung oder eine versteckte Tür.

Und schließlich bildeten diese immer enger werdenden Mauern über unseren Köpfen ein Gewölbe, und eine plötzliche Dunkelheit hüllte uns ein, mitten durch die schmalen Gänge flossen kleine schmutzige Bäche über Abfall, Schmutz und Kot hinweg, es roch nach Abgußwasser und toten Mäusen, wir hatten Chiraz erreicht.

In einem noch größeren Dunkel machten wir vor einer alten, eisenbeschlagenen Tür mit einem großen Klopfer hat: das war meine Wohnung. Zuerst stießen wir durch einen dunklen Gang auf das staubige, baufällige Hauptgebäude, dann aber überraschte uns ein sonnenbeschienener Hof, mit schönen blühenden Orangenbäumen, um einen fließenden Fischteich, und im Hintergrunde lag das zweistöckige, ganz neue, weiße Häuschen, in dem ich jetzt eingeschlossen sitze – und ich weiß nicht einmal, auf wie lange, – »denn es ist leichter in Chiraz einzudringen, als hinauszukommen«, sagt ein persisches Sprichwort.

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