Unterwegs
Dienstag, 24. April.
Um neun Uhr morgens bei herrlichstem Sonnenschein,
beratschlagen mein Tcharvadar und ich uns in dem befestigten
Schloß unter den Bogengängen des Hofes. Beendet sind die
Streitigkeiten zwischen uns beiden, wir sind die besten
Freunde von der Welt, und niemals zündet er seine Kalyan an,
ohne mich einige Züge daraus tun zu lassen.
In diesem Hof herrscht dasselbe Gedränge wie am gestrigen
Abend. Einige Maultiere liegen, andere stehen; Tausende von
Karawanensäcke hat man hier aufgestellt, sie sind alle von
gleicher Farbe, alle aus grauer Wolle, alle schwarz und weiß
gestreift, und alle hat der Staub der Wege mit seiner
rötlichen Schattierung überzogen: Das ganze trägt eine
traurige, neutrale Farbe, aber zuweilen wird diese von einem
wunderbaren Teppich unterbrochen, der wie etwas ganz
Alltägliches unter einer Gruppe gleichgültiger Raucher
ausgebreitet liegt.
Nach meiner Verabredung mit Abbas wollen wir das Schloß
Kham-Simiane mitten am Tage verlassen, um die letzten zehn bis
zwölf Meilen, die uns noch von Chiraz trennen, zurückzulegen.
Die Luft ist kühl, die Sonne ist nicht mehr so gefährlich wie
dort unten, und ich habe die nächtlichen Reisen herzlich satt.
So rüsten wir denn gleich nach der Mittags-Kalyan unsere
Karawane zum Aufbruch, und kaum ist es zwei Uhr, als wir auch
schon den zinnenverzierten Mauern den Rücken kehren. Alsbald
breitet sich die herbe Einsamkeit vor unseren Augen aus.
Traurig und unfruchtbar liegt sie in der großen Klarheit unter
einem blauen Himmel da. Und die Schneeflächen gleichen weißen
Tüchern, mit denen man den Boden bedeckt hat. Hoch in den
Lüften kreist ein Adler. Die Sonne brennt, und der Wind ist
eisig. Wir befinden uns fast dreitausend Meter über dem
Meeresspiegel.
In einem Schlupfwinkel des Bodens liegt ein wilder Weiler,
ungefähr zehn Hütten sind dort aus Felsblöcken erbaut, ganz
niedrig sind diese Hütten, dicht schmiegen sie sich dem
Erdboden an, denn man fürchtet hier die Windstöße, die über
diese Hochländer dahinfegen. Am Rande stehen einige kaum
belaubte ganz schlanke Weiden, der Wind hat sie gebeugt. Und
das ist alles. Soweit auch das Auge reicht, nichts hebt sich
hervor in dieser lichtreichen Wüste.
Nach Chiraz, wo wir gegen Abend ankommen werden, steigen
wir friedlich auf einem unmerklich sich neigenden Pfade hinab;
wir sind überflutet von Licht; allmählich verschwindet der
Schnee, und von Stunde zu Stunde fühlen wir, wie die Kälte den
lauen Lüften weicht. Wir begegnen keinem lebenden Wesen, mit
Ausnahme der großen kahlen Geier, die auf der Karawanenstraße
sitzen und darauf lauern, daß man ein vor Müdigkeit
umsinkendes Tier ihren Klauen anvertraut; wenn wir uns ihnen
nähern, fliegen sie auf, aber kaum hat man sie verscheucht, so
lassen sie sich von neuem auf der Straße nieder und verfolgen
uns mit den Augen. Die blassen Blümchen, die kurzgestielten
Pflanzen sind auf diesen Steppen zuerst nur spärlich gesät,
aber bald vermehren sie sich, reihen sich aneinander an und
bilden schließlich unter unseren Schritten einen wunderbar
duftenden Teppich. Und dann beginnen die Sträucher unserer
Heimat, Tamarinden, knospender Weißdorn, blühender Schlehdorn.
Der Kuckuck ruft, und wäre nicht der unendliche, immer weite,
immer ursprüngliche Horizont, so könnte man sich nach
Südfrankreich versetzt glauben. In alten Zeiten muß der
Frühling Galliens einen ähnlich friedlich-schönen Anblick
gewährt haben . . . Und jetzt stoßen wir auch auf einen Fluß,
einen wunderbar durchsichtigen, einen kristallklaren Fluß. An
seinem Ufer stehen vereinzelte kleine Weiden, erhebt sich eine
dichte Weidenwand, aber der Fluß fließt einsam in seinem Bett
über die weißen Steine dahin, und unempfänglich scheint er für
all das schüchterne Grün dieser Weidengebüsche zu sein,
wahrscheinlich wird er schließlich als Wasserfall in weniger
hoch gelegene, in weniger reine Regionen hinabstürzen, wird er
sich bei den vielen Berührungen beschmutzen; aber hier, wo er
mitten durch den zeitlosen Rahmen fließt, der seit Anbeginn
der Welten also gewesen sein muß, hier haftet diesem klaren
Wasser, ja, wie soll ich mich ausdrücken, etwas
Jungfräuliches, etwas Geheiligtes an.
Nach dreistündigem Marsch erhebt sich ganz einsam am Rande
unseres Weges ein kleiner mit Zinnen versehener Turm: ein
Wachtposten, wo wir zwei weitere Soldaten als Verstärkung zu
erlangen hoffen; aber nichts rührt sich, und die Pforte bleibt
geschlossen. Indessen kommt oben im Turm zwischen zwei
Schießscharten der weißhaarige Kopf eines Greises, der den
hohen Hut der Magier trägt, zum Vorschein: »Soldaten,« ruft er
in spöttischem Ton, »Ihr fordert Soldaten? Ja! die sind alle
ausgezogen und machen Jagd auf die Räuber, die uns vier Esel
gestohlen haben. Hier sind keine Soldaten, und Ihr müßt Euch
ohne sie behelfen! Glückliche Reise!«
Bei Sonnenuntergang machen wir halt und verzehren unsere
Abendmahlzeit auf einer der alten gastlichen Bänke vor der Tür
einer Karawanserei, eines befestigten Schlosses, das wie
Kham-Simiane einsam gelegen ist, und den Eingang zu einer
neuen Ebene beherrscht. Und dies ist endlich die Hochebene von
Chiraz, die in alten Zeiten von den Dichtern besungen wurde,
dies ist das Land des Saadi, das Land der Rosen.
Von hier aus gesehen erscheint die hochgelegene Oase, die
wir zur Stunde der Dämmerung erreichen werden, seltsam
friedlich und üppig wild zugleich; das Gras ist dort dicht und
mit Blumen übersät, die Pappeln stehen in dichten Gruppen und
fast könnte man glauben, es seien Buchenhaine von weichem,
tiefem Grün. Dieselben Farbentöne, die sich bei uns im April
über Bäume und Wiesen senken, sieht man auch hier, aber die
Luft ist von einer Klarheit, die wir nicht kennen, und über
dem Paradies mit seinem jetzt schon in Schatten getauchten
Grün, sind die großen, alles einschließenden Berge zu dieser
Stunde in tiefem Rot gebadet, ein Anblick, der in unseren
Ländern und bei unserem Klima unmöglich wäre.
Durch diese sanft sich neigende Ebene, wo die Luft
allmählich ganz still geworden ist, setzen wir unseren jetzt
immer leichter werdenden Ritt fort, und ungefähr vier Meilen
weiter, ziehen sich in der frischen, sternenklaren Nacht zu
beiden Seiten unseres Weges die langen Mauern der Gärten
dahin: die Vorstädte von Chiraz! Kein Lärm, kein Licht, kein
Schritt, der den Wanderer verkündet. Die Ausläufer der alten
mohammedanischen Städte zeigen, sobald die Dunkelheit
anbricht, immer dasselbe seltsame Schweigen, von dem wir
Europäer uns gar keine Vorstellung machen können.
Die Mauern bezeichnen die Karawansereien, obgleich sie
eigentlich nur einen Pappelwald einzuschließen scheinen; und
dort klopfen wir zwei-, dreimal an große spitzbogige Türen an,
die sich kaum öffnen, um eine Stimme antworten zu lassen, daß
alles überfüllt sei. Die hohen Gräser, die Kräuter, die
Gänseblümchen überwuchern die Wege; in dieser Dunkelheit, in
diesem Schweigen duftet alles nach Frühling.
Des Kampfes müde geben wir uns mit einer Karawanserei für
Arme zufrieden, wo wir über den Ställen einen kleinen Winkel
mit Lehmwänden finden, der sich in keiner Weise von unseren
früheren elenden Herbergen unterscheidet.
Natürlich kenne ich keine lebende Seele in dieser
verschlossenen Stadt, in die ich heute abend nicht eindringen
kann, und die übrigens, wie ich weiß, auch keinen einzigen
Gasthof besitzt. Aber in Bender-Bouchir hat man mir ein
versiegeltes Zauberbuch – ein Empfehlungsschreiben an den
Vorstand der Kaufmannschaft, eine gewichtige Persönlichkeit
von Chiraz, mitgegeben, zweifellos wird dieser mir eine
Wohnung besorgen können . . .
Abends, 24. April.
Der erste Abend senkt sich herab, die erste Nacht bricht
herein über dem drückenden Schweigen in Chiraz. Ganz im
Hintergrunde des großen, leeren, frühzeitig verschlossenen
Hauses, in dem ich gefangen sitze, geht mein Zimmer auf einen
jetzt dunklen Hof. Man hört nichts, nur zuweilen den Schrei
eines Kauzes. Chiraz schläft in dem Geheimnis seiner
dreifachen Mauern und seiner geschlossenen Wohnungen; man
könnte sich weit eher von verlassenen Ruinen, als von einer
Stadt umgeben glauben, in deren Schatten sechzig- bis
achtzigtausend Einwohner atmen; aber den Ländern Islams haftet
das Schweigen dieses tiefen Schlafes und dieser stummen Nächte
an.
Ich sage zu mir selbst: »Ich bin in Chiraz«, und es liegt
ein Reiz darin, diesen Satz zu wiederholen; – ein Reiz und
auch ein wenig Angst, denn diese Stadt gehört, wenngleich sie
auch ein Überbleibsel altehrwürdiger, unversehrter Trümmer
ist, dennoch zu denjenigen menschlichen Ansiedelungen, die am
wenigsten zugänglich, am abgeschiedensten liegen; man
empfindet hier noch das Gefühl eines großen Verlassenseins,
ein Gefühl, das den Reisenden früherer Zeiten vertraut sein
mußte, das wir Nachgeborenen aber bald nicht mehr kennen
werden, weil die Verkehrswege die ganze Erde mit ihrem Netz
überziehen. Wie soll man von hier entkommen, von hier
entfliehen, wenn plötzliches Heimweh, wenn das Bedürfnis in
uns aufsteigt, vielleicht nicht einmal das Vaterland, sondern
nur verwandte Menschen, nur einen Ort wiederzusehen, der wie
bei uns ein wenig moderner ist. Wie soll man von hier
entkommen? Durch die einsamen Gegenden des Nordens, durch
Teheran und das Kaspische Meer nach zwanzig- bis
dreißigtägigem Karawanenritt? Oder soll ich auf dem Wege
zurückkehren, der mich hergeführt hat, soll ich die
schrecklichen Treppen Irans Stufe für Stufe hinabsteigen, soll
ich von neuem in die Schlünde, die nur nachts passierbar sind,
untertauchen, soll ich von neuem die Qualen der immer
wachsenden Hitze ertragen, mich bis zu dem höllischen
Schmelzofen dort unten, dem persischen Golf, vorwagen, soll
ich von neuem durch den glühenden Sand waten, um
Bender-Bouchir, die Stadt der Verbannung und des Fiebers zu
erreichen, von wo aus irgendein Schiff mich nach Indien
bringt? Beide Wege sind mühsam und weit. Es ist wahr, man
fühlt sich verlassen in diesem Chiraz, das höher gelegen ist
als der Gipfel der Pyrenäen – und das zu dieser Stunde eine
klare Nacht, aber eine seltsam stumme, eine eisige Nacht in
ihre Fittiche hüllt . . .
In dieser Stadt, wo alles von Mauern eingeschlossen ist,
habe ich sozusagen noch nichts gesehen, und ich frage mich, ob
ich während eines verlängerten Aufenthaltes mehr sehen werde,
ich bin hier ungefähr in der Art eingedrungen, wie es die
Ritter der Sage zu tun pflegten, die man mit verbundenen Augen
in die unterirdischen Schlösser führte.
Heute morgen trat Hadji-Abbas, der Vorstand der
Kaufmannschaft, benachrichtigt durch meinen Brief, in der
Karawanserei an. Einige Honoratioren begleiteten ihn, lauter
zeremonielle, höfliche Leute in langen Kleidern, mit plumpen,
runden Brillen und sehr hohen Astrachanmützen. Wir setzen uns
vor meinem dunklen Zimmer auf die Terrasse, die mit Gras und
blühendem Mohn bewachsen ist: Nach vielen schönen Komplimenten
in türkischer Sprache entspann sich eine Unterhaltung über die
Schwierigkeiten der Reise!
»Ach!« sagten sie mit einem leisen Anflug von Spott, –
»leider haben wir noch nicht Ihre Eisenbahnen!« Und als ich
sie dazu beglückwünschte, zeigte mir ihr Lächeln, wie sehr wir
betreffs der Wohltaten dieser Erfindung der gleichen Meinung
waren . . .
Pappeln und blühende Obstbäume bildeten eine so dichte
Wand, daß wir von der Stadt auch nicht das geringste zu
erblicken vermochten, aber die Gärten, Wiesen, die grünen
Felder lagen vor uns, eine ganze Ecke des glücklichen Chiraz,
das kaum mit der übrigen Welt in Verbindung steht, und wo das
Leben in dem gleichen Rahmen dahinfließt, wie vor tausend
Jahren. Auf allen Zweigen stimmten die Vögel ihr fröhliches
Brutlied an. Unten im Hofe, wo unsere Tiere sich ausruhten,
standen einige Burschen aus dem Volk, sie sahen vergnügt und
gesund aus, ihre Wangen hatte die freie Luft goldig gefärbt,
und nachlässig rauchten sie in der Sonne, wie nur Leute es
tun, die Zeit haben, zu leben, oder sie spielten mit Kugeln,
und ihr Lachen drang zu uns herauf. Und ich verglich das
schwarze Gelände unserer großen Städte, unserer Bahnhöfe,
Fabriken, das ewige Pfeifen und den Lärm der Eisenwerke mit
diesem allen, verglich auch unsere Arbeiter, blaß sind sie
unter dem Kohlenstaub, und aus ihren Augen spricht die
Nüchternheit und das Leiden . . .
Beim Abschiednehmen bot mir der Vorstand der Kaufmannschaft
eines seiner zahlreichen Häuser in Chiraz, ein ganz neues Haus
an. Er wollte mir den Schlüssel sofort übersenden, und ich
begann zu warten, rauchte auf meiner Terrasse eine Kalyan nach
der anderen und wartete, ohne daß der Schlüssel erschien: die
Orientalen, jedermann weiß es ja, kennen gar keine
Zeitberechnung.
Endlich, vier Uhr nachmittags, wurde der Schlüssel mir
überreicht. (Er war einen Fuß zwei Zoll lang.) Und dann mußte
ich meinen Tcharvadar und alle seine Leute verabschieden,
mußte mit ihnen abrechnen, mit ihnen alle die Silbermünzen
nachzählen. Wir tauschten viele Wünsche und manchen Händedruck
aus, und dann bestellte ich eine Anzahl Träger (Juden mit
langen Haaren), ließ unser Gepäck auf ihren Rücken laden, und
wanderte hinter ihnen der Stadt zu, die ganz in der Nähe
liegen mußte, die man aber immer noch nicht sehen konnte.
Wir trabten melancholisch zwischen den hohen aus grauen
Steinen und Lehm erbauten Mauern dahin, in weiten Abständen
nur zeigten sie eine vergitterte Öffnung oder eine versteckte
Tür.
Und schließlich bildeten diese immer enger werdenden Mauern
über unseren Köpfen ein Gewölbe, und eine plötzliche
Dunkelheit hüllte uns ein, mitten durch die schmalen Gänge
flossen kleine schmutzige Bäche über Abfall, Schmutz und Kot
hinweg, es roch nach Abgußwasser und toten Mäusen, wir hatten
Chiraz erreicht.
In einem noch größeren Dunkel machten wir vor einer alten,
eisenbeschlagenen Tür mit einem großen Klopfer hat: das war
meine Wohnung. Zuerst stießen wir durch einen dunklen Gang auf
das staubige, baufällige Hauptgebäude, dann aber überraschte
uns ein sonnenbeschienener Hof, mit schönen blühenden
Orangenbäumen, um einen fließenden Fischteich, und im
Hintergrunde lag das zweistöckige, ganz neue, weiße Häuschen,
in dem ich jetzt eingeschlossen sitze – und ich weiß nicht
einmal, auf wie lange, – »denn es ist leichter in Chiraz
einzudringen, als hinauszukommen«, sagt ein persisches
Sprichwort.