Zweiter Teil
Donnerstag, 26. April.
»Allahu akbar!. . . Allahu akbar!« . . . so lautet der
endlose, eintönige, mohammedanische Gesang, der mich vor
Tagesanbruch weckt; von irgendeinem nahen Dache meines
Stadtviertels aus steigt die Stimme des Ausrufers, der zum
Gebet ruft, laut singend in die blasse Morgenluft hinauf.
Und bald darauf dringt das silberhelle Glockengeläute in
den kleinen Gäßchen bis an mein Ohr: der Einzug der Karawanen.
Große, tief tönende Glocken hängen am Bauche der Maultiere,
kleine Schellen reihen sich zu einem Kranz um ihren Hals, sie
klingen zusammen, und dieser fröhliche Lärm erfüllt allmählich
das ganze unterirdische Labyrinth in Chiraz und verjagt den
Schlaf und das Schweigen der Nacht. Es dauert sehr lange; –
sicher sind Hunderte von Maultieren an meiner Tür
vorbeigezogen, – und sie werden allmorgendlich hier
vorüberziehen, um mir den Tag zu verkünden, denn die Stunde
der Karawanen ist unwandelbar. Und durch mein Viertel dringen
sie in die Stadt hinein, alle die, die von dort unten, von den
Ufern des Persischen Golfes, aus den heißen, in der Höhe des
Wasserspiegels gelegenen Gegenden kommen.
Der erste Morgen verstreicht für mich mit vergeblichen
Unterhandlungen, die ich mit Tcharvadaren, Maultiertreibern,
Pferdevermietern in der Hoffnung pflege, daß es mir gelingen
wird, schon jetzt den Aufbruch zu veranstalten; denn man muß
sich mehrere Tage im voraus richten, und die Reisenden werden
oft unendlich lange zurückgehalten.
Aber nichts kommt zustande, nicht das geringste Annehmbare
bietet sich mir. Das Sprichwort scheint sich zu bewahrheiten:
Es ist leichter, in Chiraz einzudringen, als hinauszukommen.
Nachmittags statte ich dem Vorstand der Kaufmannschaft
meinen Besuch ab. Er wohnt in demselben Stadtviertel wie ich,
und der Weg zu ihm führt ununterbrochen an den schattigen,
traurig sich neigenden Mauern vorbei, die sich fast alle zu
einem Gewölbe vereinen. Eine alte Gefängnistür, durch eine
innere Schutzwand aus weißem Mauerwerk verkleidet: das ist
sein Heim. Und dann folgt ein kleiner Garten voller Rosen, mit
geraden altmodischen Alleen und mit einem Spingbrunnen; im
Hintergrunde aber liegt das ganz alte, ganz orientalische
Haus.
Hadji-Abbas Salon: Eine Decke aus blau und goldenen
Arabesken, mit Rosenzweigen, deren Schattierungen im Laufe der
Zeiten verblaßt sind; die Mauern sind reich ausgearbeitet,
sind in kleine Rautenflächen zerlegt, vertiefen sich zu
kleinen Grotten und zeigen eine alte Elfenbeinfarbe, die durch
matte Goldlinien gehoben wird; auf der Erde liegen Kissen und
dicke, wunderbare Teppiche. Und die kleinscheibigen Fenster
zeigen auf die Rosen des Gartens, der sehr versteckt daliegt,
der keine Aussicht gewährt, und in dem das leise plätschernde
Geräusch des Springbrunnens ertönt.
Mitten im Salon stehen zwei Sessel, einer für Hadji-Abbas,
der seit gestern seinen weißen Bart brennend rot gefärbt hat,
und der andere für mich. Die Söhne meines Wirts, die Nachbarn,
die Honoratioren, alles Leute in langen Kleidern mit hohen
schwarzen Hüten, wie sie die Magier trugen, treten
nacheinander an; schweigend setzen sie sich auf die Teppiche,
die an den schönen verblaßten Wänden entlang ausgebreitet
liegen, und bilden so einen großen Kreis; Diener tragen in
sehr alten, kleinen chinesischen Tassen Tee herbei, bieten
dann gefrorenen Sorbet und schließlich die unvermeidlichen
Kalyans an, aus denen alle der Reihe nach rauchen müssen. Man
fragt mich nach Stambul, da man weiß, daß ich dort gewohnt
habe. Dann nach Europa, und die Naivität und die unvermutete
Gründlichkeit ihrer Fragen zeigen mir deutlicher als alles
andere, wie weit diese Leute von uns entfernt sind. Allmählich
geht die Unterhaltung zur Politik über, man spricht von den
letzten Tricks der Engländer vor Koueit: – »Wenn unser Land
jemals unterjocht werden sollte, so hoffe ich doch wenigstens,
daß es nicht durch sie geschieht! Wir haben leider nur
hunderttausend Soldaten in Persien, aber alle Nomaden sind
bewaffnet; und ich, meine Söhne, meine Diener, alle gesunden
Männer in den Städten und auf dem Lande werden zu den Waffen
greifen, wenn es sich um die Engländer handelt!«
Der gute Hadji-Abbas führt mich alsdann zu zwei oder drei
Honoratioren, deren Häuser noch viel schöner als das seine
sind, und die noch viel hübschere Gärten mit Orangen,
Zypressenalleen und Rosengängen besitzen. Aber wie versteckt,
mißtrauisch, geheimnisvoll spielt sich hier das Leben ab. Die
Gärten würden entzückend sein, wenn sie nicht so eifersüchtig
eingeschlossen, so verborgen dalägen; damit die Frauen hier
unverschleiert lustwandeln können, umgibt man sie mit gar zu
hohen Mauern, die man vergebens freundlicher zu gestalten
sucht, indem man sie mit Spitzbogen, mit Kacheln verziert: es
bleiben doch immer dieselben Gefängnismauern.
Der Gouverneur der Provinz, den ich heute aufsuchen wollte,
um ihn zu bitten, mir den Weg nach Ispahan zu erleichtern, ist
für einige Tage abwesend.
Bis zum Schluß behalte ich mir den Besuch bei einer jungen,
holländischen Familie, den van L...s, vor, sie leben hier so
abgeschieden wie Robinson. Ein altes Paschahaus – natürlich in
einem alten, ganz von Mauern umgebenen Garten gelegen –
bewohnen sie, und selten überraschend berührt es mich, hier
plötzlich einen kleinen europäischen Winkel, plötzlich
liebenswürdige Menschen, die unsere Sprache sprechen,
wiederzusehen!
Sie sind übrigens gleich so entgegenkommend, daß uns, die
wir doch sozusagen in der Verbannung leben, vom ersten
Augenblick an ein schönes Band wahrer Freundschaft verbindet.
Seit zwei oder drei Jahren wohnen sie in Chiraz, wo M. van
L... Leiter der kaiserlich persischen Bank ist. Sie vertrauen
mir alle ihre täglichen Sorgen an, von denen ich keine Ahnung
hatte, die aber in dieser Stadt natürlich sind; denn alles
fehlt hier, was nach unseren Begriffen zu den notwendigsten
Nutzgegenständen des Lebens gehört, alle Sachen, deren man
bedarf, müssen zwei Monate im voraus über Rußland oder Indien
verschrieben werden; was sie mir da erzählen, bestärkt mich
übrigens in dem Gefühl, daß wir uns hier in einer Welt
befinden, die man fast auf dem Monde suchen könnte.
Den Schluß des Nachmittags bildet für mich ein Spaziergang
durch das Labyrinth; mit meinen drei Dienern, dem Franzosen
und zwei Persern, irre ich umher und suche vergebens nach den
Moscheen. Ich habe keine Hoffnung, jemals Eintritt zu
erlangen, aber ich möchte doch wenigstens gerne von außen die
Portale, die schönen Bogen und die kostbaren Fayencen sehen.
Ach! Diese seltsamen kleinen Straßen, wo einem auch am
hellen Tage ein Fallstrick nach dem andern gelegt wird; so
öffnet sich mitten in einer Gasse ein tiefer Brunnen, der auch
nicht das geringste Schutzgitter zeigt, oder am Fuße einer
Mauer gähnt plötzlich ein Kellerloch, und man sieht hinab in
ein schwarzes Verließ. Und überall ist der Weg mit Lumpen,
Unrat, mit krepierten Hunden bedeckt, über deren Leichen die
Fliegen herfallen.
Ich weiß, daß es Moscheen, daß es sogar berühmte Moscheen
hier gibt, aber man kann wirklich sagen, daß sie vor uns
fliehen, daß ihre Umgebung verzaubert ist. Zuweilen, wenn ich
aufsehe, entdecke ich durch ein Loch in der Straßenmauer ganz
in der Nähe eine grünblaue Kuppel, die sich in den reinen
Himmel erhebt, und die in der Sonne glänzt. Dann stürze ich in
einen dunklen Gang, er scheint dorthin zu führen: Den Gang
schließt eine Mauer ab, oder er endet in einem großen
eingestürzten Erdhaufen. Ich kehre um, ich suche einen
anderen: er führt mich in falsche Richtung, ich verirre mich.
Nicht einmal die kleine Lücke, die ins Freie führt, und von wo
aus mir die Emaillekuppel entgegenleuchtete, kann ich
wiederfinden; ich weiß nicht mehr, wo ich bin . . . Diese
Moscheen werden keinen Zugang haben, denn sie liegen ganz
eingeschachtelt zwischen alten Lehmhäusern, zwischen
Maulwurfshügeln von Menschenhand erbaut; wahrscheinlich kann
man sie nur auf versteckten Umwegen erreichen, die keinem
anderen als dem Eingeborenen bekannt sind. Und dies erinnert
an einen bösen Traum, man will ein Ziel erreichen, aber in dem
Maße, wie man sich ihm nähert, werden die Schwierigkeiten
größer, die Gänge enger.
Wir sind schließlich des Suchens müde und kehren wie
gestern um die Abendstunde nach dem kleinen Café zurück, das
wir wahrscheinlich zu unserem Standquartier erheben werden.
Dort atmet oder fühlt man wenigstens einen freien Raum vor
sich, und dort liegt auch – zwar ein wenig im Hintergrunde –
eine rosenrote Moschee, die schon sehenswert ist. Die Leute
kennen uns. In aller Eile stellen sie für uns Sessel unter den
Platanen hin, bringen Kalyans und Tee herbei. Hirten wollen
uns Felle von Panthern verkaufen, die zu ungezählten Mengen in
den nahen Bergen hausen. Aber der Andrang ist heute schon
weniger groß als gestern: morgen oder übermorgen werden wir
niemanden mehr in Erstaunen setzen.
Die eine Seite des Platzes wird von den Wällen Chiraz'
eingeschlossen; wie alles in Persien sind auch sie elegant und
baufällig: die hohen, geraden Mauern tragen große runde Türme
und sind mit einer endlosen Reihe gewölbter Spitzbogen
verziert. Das Baumaterial – graue Terrakotta mit gelbgrüner
Glasur – gibt dem Ganzen einen assyrischen Anstrich. Diese
Wälle erstrecken sich in einer Ausdehnung von ungefähr
zweihundert Metern und laufen dann in einem Trümmerhaufen von
Steinen aus, die wahrscheinlich niemals wieder aufgebaut
werden.
Jetzt, wo der Tag sich neigt, herrscht in diesem kleinen
Café ein beständiges Kommen und Gehen. Leute aus allen
Ständen, die vom Lande zurückkehren, treten hier ein, vornehme
Reiter auf mutigen Pferden, kleine Bürger auf
fransenbehangenen Maultieren, oder noch bescheideneren Eseln.
Und die langsamen Kamele ziehen vorüber. Sie kommen von Yezd,
von Kerman, aus der östlichen Wüste. Überall werden die
Kalyans angezündet, und unsere Nachbarn, die wie wir unter ein
und derselben Platane träumen, fangen ein freundliches
Gespräch an. Einer von ihnen bietet mir, nachdem ich ihm von
meinem heutigen Ausflug nach den Moscheen erzählt habe, für
morgen abend seine Begleitung dorthin an; er will mich über
die Dächer der Stadt führen, ein Spaziergang, der scheinbar
sehr besucht wird, weil er der einzige ist, von wo aus man
einen allgemeinen Ausblick hat.
Friedlich schwindet der Tag, und langsam trägt die
Dämmerung ihre Traurigkeit zu diesem hochgelegenen, einsamen
Lande hinauf. Die Farben verlöschen auf der Glasurbekleidung
der schönen Moschee: die Fayencen, mit denen sie bedeckt ist,
zeigen Wolken von Rosen, Rosenzweige, Rosensträucher,
Sträucher, durch die vereinzelte, langstielige Iris
emporwachsen; aber dies alles liegt jetzt in einem violetten
Dunkel, und nur noch die Kuppel erstrahlt weithin. In der fast
gar zu durchsichtigen Luft kreisen die Segler und stoßen, ganz
wie bei uns an Frühlingsabenden gellende Schreie aus. Kaum
aber ist die Sonne untergegangen, so macht sich infolge der
großen Höhe eine empfindliche Kälte fühlbar.
Durch kleine schon dunkle Gäßchen kehren wir über Schmutz
und Unrat nach Hause zurück.
Und dort herrscht, nachdem die Pforte verriegelt ist, die
Abgeschlossenheit, die Einsamkeit, das Schweigen eines
Klosters. Und die Käuze beginnen ihr Lied.