Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Fünfter Teil

Sonntag, 3. Juni

Alle meine Iraner sind betrunken. Meine neuen Diener, die ich in Teheran angeworben habe, sind betrunken. Meine beiden Kutscher sind noch betrunkener als am gestrigen Abend; sie haben ihre Mützen verkehrt herum aufgesetzt und fahren uns ebenso verkehrt in den Bergen umher. Vier Stunden lang wagen wir uns auf den sich dahinschlängelnden Pfaden vorwärts, wo uns Kamele und Maultiere den Weg versperren, und wo sich keine Felswand als Schutz gegen die Abgründe erhebt. Ich hatte die Angst vor dem Alkohol ganz vergessen, als ich mit meinen guten Tcharvadaren aus Mittelpersien reiste; aber jetzt sehe ich, daß mein neues Gefolge sich schon durch einen leisen Anflug europäischer Zivilisation auszeichnet.

Wir steigen immer mehr zu der normalen Durchschnittsfläche der Erde herab. Um die Mittagsstunde wird in einem paradiesischen Winkel, der schon ganz im Schutz gegen den zu scharfen Wind der Gipfel gelegen ist, haltgemacht. Diese Schlucht scheint unseren entwöhnten Augen einem irdischen Paradies zu gleichen. Große Feigenbäume, so gewaltig, so dicht belaubt wie die Banianenbäume Indiens, verzweigen sich und bilden über dem Wege ein Blättergewölbe; das Gras ist hoch und mit Kornblumen, mit rötlichen Kuckucksblumen übersät; die Granatbäume, die ihre wunderbare Blüte fast ganz beendet haben, streuen rote Korallen auf das Moos; ein sehr klarer Bach plätschert zwischen den hohen, lilagetönten Blumen. Dieser Ort muß im ganzen Lande bekannt sein, denn die verschiedensten Reisenden halten hier ihren Mittagsschlaf; auf dem weichen Teppich, den die Stengel der Gräser noch schwellender machen, sitzen Perser und Perserinnen, sie kochen ihren Tee, essen Früchte und Kuchen; die verschleierten Damen lüften mit einer Hand ihre weiße Maske und stopfen darunter Kirschen in den Mund; Tscherkessen mit Pelzmützen, mit einem langen silbernen Dolch, der gerade wie ein Degen ist, sitzen abseits unter einer Eiche, und die Turkomanen hocken um eine Schüssel und greifen mit den Fingern nach dem gekochten Fleisch. Es gibt hier kein Dorf, keine Karawanserei; nichts als ein altes Lehmhäuschen, das dem Teehändler gehört, und dessen drei oder vier kleine Knaben eifrig bemüht sind, die Leute draußen im Freien, im kühlen Schatten zu bedienen. Alles geht so natürlich, so lustig zu, denn jeder ist von der Schönheit des Platzes, der entzückenden Lage bezaubert, man sieht hohe Herren, in Kaschmirgewändern eigenhändig aus dem klaren Bach ihren kupfernen Becher oder ihren Samovar füllen, und die Bettler, zerlumpte, halbnackte Leute, haben die schönen Blätter auf ihre Beinwunden geklebt und warten darauf, daß man ihnen die Überreste des Mahls reichen wird. Im Schatten der großen Feigenbäume, auf hölzernen, mit roten Teppichen bedeckten Bänken bringt man uns unter, und dort nehmen wir, nach persischer Sitte hockend, unser Mittagsessen ein.

Aber plötzlich ertönt ein furchtbarer Lärm hinter dem überhängenden Berg am Himmel: ein Gewitter, das wir nicht sehen konnten, das heimlich herangeschlichen ist. Und sofort pladdert es auf das Blätterdach herab; Regen, Hagel, Wasserströme, Sintflut.

Rette sich, wer kann; in dem kleinen, dunklen Loch des Teehändlers drängen sich so viele Leute, wie nur hineingehen, zusammen, alles im bunten Durcheinander mit den Tscherkessen, den Turkomanen, den zerlumpten Bettlern. Nur die Damen sind anstandshalber draußen geblieben. Es regnet in Strömen; ein schmutziges, mit Lehm vermischtes Wasser fließt durch die Risse des Daches auf uns herab; der duftende Rauch der Kalyan vereint sich mit dem Rauch der auf dem Boden stehenden Öfen, wo die Kessel der Teetrinker warm gehalten werden; man kann nicht mehr atmen; wir wollen uns dem Loch nähern, das als Tür dient . . .

Von hier aus sehen wir die Damen unter den Bäumen, unter den Teppichen sitzen, die sie wie Zelte ausgespannt haben; ihre durchnäßten Schleier kleben drollig an den Nasen fest; der niedliche Bach ist zum Strom angewachsen, er bedeckt sie mit Schmutz; sie haben ihre Babuschen, ihre Strümpfe, ihre Hosen ausgezogen, und während sie noch immer züchtig das Gesicht verhüllen, zeigen sie ihre hübschen, sehr rundlichen Beine; – und trotzdem sind sie guter Laune, denn man sieht, wie ein kindliches Lachen ihre durchnäßten Formen schüttelt . . .

Wir schlafen nachts in einem traurigen Weiler, am Ende einer Brücke, sie führt über eine wilde Schlucht, über einen reißenden Gießbach dahin. Und ein Chaos von Bergen umgibt uns: Alle Stufen, die wir vom Arabischen Meer erklommen haben, um nach Persien hinaufzugelangen, müssen wir natürlich auf dieser Seite hinabsteigen, wollen wir das Kaspische Meer erreichen.

Kaum sind wir in das kleine, unbekannte Häuschen eingetreten, so kehrt auch der Donner, die Sintflut zurück. Und gegen Ende der Nacht beunruhigt uns ein beständiger Lärm, ein schrecklicher Höllenlärm, er wird nicht durch das Gewitter verursacht, sondern kommt von unten, aus dem Innern der Erde, möchte man sagen. – Es ist der Fluß unter uns, der plötzlich dreißig Fuß gestiegen ist, und der jetzt in furchtbarer Wut die Felsen peitscht.

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